Trend zum unperfekten Gemüse

Krumme Rüben, verdrehte Gurken

Auch Möhren mögen's kuschelig: Gleich zwei Karotten-Pärchen, die sich eng umschlungen halten, hat die neunjährige Annika bei der Möhrenernte in Omas Garten gefunden (Foto vom 27.10.1999).
Auch nicht ganz gerade gewachsen: Zwei Karotten-Pärchen © picture-alliance / dpa / Erwin Elsner
Von Hans-Jürgen Maurus · 05.05.2015
Gemüse muss nicht mehr unbedingt makellos sein. Selbst Schweizer Supermärkte haben krumme Rüben oder Äpfel mit Dellen im Sortiment. Dass solche Ware häufig günstiger angeboten wird, darin spiegelt sich laut Konsumforscherin Mirjam Hauser dennoch ein Problem.
Krumme Geschäfte und das in einem Schweizer Supermarkt? Warum nicht. Die Coop Gruppe bietet krumme Rüben, verdrehte Gurken oder Äpfel mit Dellen unter der eigenen Marke Unique an. Kleine Individualisten im Gemüse und Früchteregal, aber nur in größeren Filialen, heißt es in der Basler Konzernzentrale, eine Stichprobe in einem Laden in Wollishofen in Zürich zeigt, dass nur ein einziges Produkt, krumme Gurken, angeboten werden. Anders auf dem Gemüsemarkt in Oerlikon, wo Bauer Ernst Wettstein fast alles feilbietet:
"Also alles darf auch nicht mit. Aber die Schwelle, was wir mitnehmen, ist bei uns wesentlich tiefer. Zum Beispiel Salate. Wenn man keine chemischen Mittel anwendet und die vom Mehltau befallen werden, dann sind es meistens die äußeren Blätter, die macht man dann weg. Das ist auch der Grund, warum wir auch Salate nach Gewicht verkaufen."
Dadurch kann nachhaltig gewirtschaftet werden, betont Bauer Wettstein, und Reste werden recycelt.
"Wir haben sehr wenige Überschüsse. Was am Freitag übrigbleibt, das nehmen wir heute noch mal mit und behalten es hier in Reserve. Das ist markiert. Und wenn das frisch Geschnittene aufgebraucht ist, dann verkaufen wir auch das. Also einfach zuletzt. Was heute noch übrigbleibt, da haben wir sehr gut Abnehmer zuhause. Und das sind unsere Schafe."
Die Ware muss nicht unbedingt perfekt aussehen, meint Gemüsehändler Christian Fischer, auch die Größe ist nicht entscheidend, sondern dass sie sauber ist:
"Auch das Aussehen ist nicht so wichtig. Einfach dass es sauber ist."
Doch die Schönheit von einzigartig geformtem Gemüse ist nicht mehrheitsfähig. Experten der UN-Ernährungsorganisation FAO gehen davon aus, dass allein in Europa 40 Millionen Tonnen essbares Obst oder Gemüse verloren gehen, weil die Verbraucher perfekte Produkte wollen, bestätigt auch Konsumforscherin Mirjam Hauser vom Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon, und das hat Gründe:
"So wie das System heute funktioniert, wurden die Kunden schon fast dazu erzogen, Produkte wie sie im Laden hochpoliert angeboten werden – ohne Fehler, ohne Makel – zu konsumieren und zu kaufen. Sie wissen gar nicht mehr genau wie die Sachen eigentlich hergestellt werden, und dass dazu auch mal gehört, dass Produkte auch krumm sein können und Flecken haben dürfen."
Ausschussware ist gar kein Ausschuss
Die Entfremdung ist durch die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion beschleunigt worden, etwa bei der Logistik. Die perfekte Möhre muss 50 bis 250 Gramm schwer sein, glatte Haut haben und darf keinen optischen Fehler aufweisen. Dass dreibeinige Möhren oder krumme Gurken billiger angeboten werden, findet die Trendforscherin problematisch.
"Also ich finde es ist gefährlich, wenn man nicht makellose Produkte billiger anbietet. Weil man den Konsumenten natürlich dadurch zeigt, dass diese Produkte einen geringeren Wert haben als andere. Also implizit sagt man dadurch, dass die Qualität geringer ist."
Genau das ist der springende Punkt. Ausschussware ist eben gar kein Ausschuss, wie etwa die Coop Richtlinien für Unique zeigen. Dort heißt es: die Produkte sind in ihrer kulinarischen Qualität in keiner Weise beeinträchtigt und müssen einwandfrei sein. Trendforscherin Hauser hat zudem eine neue Sehnsucht des Verbrauchers festgestellt:
"Was wir beobachtet haben ist, dass – vor allem in der letzten Zeit – dass die Menschen eigentlich wieder so eine Sehnsucht zum Ursprung haben. Das heißt, was ihnen persönlich beim Essen wichtig ist, ist eben zu wissen, woher die Produkte kommen, wie sie angebaut wurden, wie sie verarbeitet wurden, und letztendlich auch, was man mit diesen Produkten anstellen kann. Also hier das Interesse sich wieder damit auseinanderzusetzten, wie die Produkte hergestellt wurden."
Ihr Vorschlag an die Supermärkte:
"Dass man da auch Experimente macht, direkt im Laden, wie das bei den Konsumenten ankommt, ob sie das überhaupt verstehen, oder ob man hier auch andere Wege in der Vermarktung dieser Produkte gehen muss. Also: Wie soll man das kommunizieren, dass hier Produkte vorliegen, die nicht so perfekt ausschauen wie andere, und was ist deren Vorteil."
Mit einem Zusatz Angebot für herzförmige Kartoffelknollen oder picklige Aprikosen ist es aber nicht getan, meint die Trendforscherin:
"Es braucht auch die Industrie, es braucht die Bauern, es braucht die Konsumenten, die sich wieder den Wert der Lebensmittel bewusst machen."
Das Umdenken wird also noch dauern.
Mehr zum Thema