Treffpunkt im Äther

Von Stephan Krawczyk · 28.01.2006
An einem Samstagnachmittag im Sommer des Jahres 1969 stand Matthias Weiser gegen 16.45 Uhr am Marktbrunnen einer Thüringer Kleinstadt und hielt sein Kofferradio auf dem Arm. Wenn Musik lief, drehte er auf, zwischen den Titeln drehte er so leise, dass er es nur hören konnte, wenn er sich den Empfänger auf die Schulter stellte. Dadurch wurde er zwei Volkspolizisten verdächtig, die hundert Meter vom Marktbrunnen entfernt ihren Streifendienst taten. Als sie auf ihn zukamen, verdrehte er die Frequenz.
Auf die Frage, was er gerade gehört habe, antwortete er: "Berliner Rundfunk". Sie sagten ihm auf den Kopf zu, dass er wegen Irreführung der Staatsorgane vorläufig festgenommen würde, gäbe er nicht zu, einen feindlichen Sender in der Öffentlichkeit gehört zu haben. Matthias war 15 Jahre alt und leicht einzuschüchtern. Er gestand: "RIAS, Treffpunkt", und war sein schönes Radio, wofür er einen Ferienmonat im Lederwerk geschuftet hatte, augenblicklich los.

Auch ich hatte einen Ferienmonat im Lederwerk geschuftet, um mir das gleiche Radio zu kaufen: einen "Stern Smaragd". Als ich am darauf folgenden Montag in der Schule von Matthias' Missgeschick erfuhr, dachte ich: 'Warum ist er auch so dumm.' Soviel gelernter DDR-Bürger hätte er mit 15 schon sein müssen, um zu wissen, dass man auf dem Marktplatz keinen RIAS hören durfte, nicht in einer Thüringer Kleinstadt, 1969, mit Radio auf der Schulter.

Einen Westsender in der Öffentlichkeit so laut aufzudrehen, dass es die Mädchen hörten, die einen Steinwurf entfernt auf der Bank saßen, war, meiner Meinung nach, pure Angeberei. Die Beatles, Stones, Kinks und Troggs sollten die Minne für ihn übernehmen. Mit Westmusik auf dem Arm stand man natürlich ganz anders da.

An den Freitagen zum Abendbrot habe ich es angesagt. Die Familie wusste, dass es sich für mich um einen kulturellen Wochenhöhepunkt handelte, und ließ mich gewähren: Samstags, von 16 bis 18 Uhr war das Badezimmer besetzt. Ich lag bis zum Hals im warmen Wasser und hörte 'Treffpunkt' mit Kai Bloemer, der alles über die Beatgruppen wusste, oft sogar selbst mit ihnen gesprochen hatte. Ich musste nicht bei den Wortbeiträgen leiser drehen, meine Mutter klopfte bei der Musik gelegentlich an die Tür und rief: "Bist du verrückt geworden?"

Unter Freunden fragten wir: "Hast du Treffpunkt gehört?" RIAS wurde nicht gesagt. Der Name hatte in der DDR denselben Klang wie der Name Springer oder der Name BILD: Konservativ und revanchistisch. Rundfunk im Amerikanischen Sektor! Das klang nach Ostzone und ewig gestrig - für FDJler und Absolventen der Jugendweihe allemal. Aber Treffpunkt hatte einen anderen Klang.

Sicher meinte dieser Name den Treffpunkt zwischen Ost und West im Äther, der keine Mauer hat. Früher habe ich daran nicht gedacht. So unbewusst war die Hingabe an die Musik meiner Jugend, dass die Mission des RIAS', das unterjochte Volk der Ostdeutschen in ihrem Freiheitswillen anzufeuern, völlig hinter meinen freiheitlichen Gefühlen für die Musik verschwunden war.

17 Jahre später, 1986, seit 1985 hatte ich als Sänger Berufsverbot, machte mir ein Westjournalist das Angebot, einige meiner Lieder mit seinem Recorder und zwei hochwertigen Mikrophonen aufzunehmen. Er wollte versuchen, einen Sender im Westen dafür zu interessieren, eventuell käme eine Sendung über mich zustande. Ich sollte die Zwischentexte schreiben, über mein Leben berichten, das Berufsverbot, die Schikanen der Organe. Er würde eine Westberliner Rundfunksprecherin dafür suchen. Natürlich müsste ich unter Pseudonym schreiben, sonst wäre es zu gefährlich für mich.

Einige Wochen später, unter dem Pseudonym Brunhild Brücke hatte ich über mich zum ersten Mal in der Dritten Person geschrieben, trafen wir uns wieder. Er sagte, es sei nicht leicht gewesen, einen Sender für diese Art von Musik zu finden, aber - er sah mich an, als könnte er verstehen, wenn ich sofort ablehnte - der RIAS sei interessiert. Ich lehnte nicht ab, obwohl ich wusste, dass mich der Staat, wenn ich im RIAS lief, noch mehr hasste.

Während der Sendung lag ich bis zum Hals im warmen Badewasser. Als im Abspann mein Pseudonym genannt wurde, freute ich mich diebisch, den Bonzen ein Schnippchen geschlagen zu haben. Für so etwas war der RIAS wie geschaffen.


Stephan Krawczyk, 1955 in Weida/Thüringen geboren, nach dem Abitur Studium der Konzertgitarre an der Franz-Liszt-Musikhochschule Weimar, dann freiberuflicher Liedermacher, Komposition von Bühnenmusiken. Konzertauftritte und 1981 Hauptpreisträger des Nationalen Chansonwettbewerbs der DDR. 1984 Umzug nach Berlin, erste schriftstellerische Arbeiten, Schauspieler und Komponist von Theatermusik. Berufsverbot bis 1988, vielbeachtete Auftritte in Kirchen (auch gemeinsam mit Freya Klier), ständig wachsende Repressalien durch den Staatssicherheitsdienst, schließlich Verhaftung, Inhaftierung und Abschiebung in den Westen. Seit 1988 Konzerttourneen in Deutschland und im Ausland. Seit 1995 Intensivierung der Arbeit als Schriftsteller. Zuletzt erschienen "Faustchen", Schauspiel (2000); "Feurio", Betrachtungen (2003); "Der Narr", Roman (2003). Letzte CD's: "Die Queen ist in der Stadt" (2001), "Kontrast Programm" und "Der Narr" (2003).