Traumverlorene Bilder

Von Rainer Zerbst · 26.11.2009
Die Fotografie ist ein seltsam Ding: Auf der einen Seite ist sie an das gebunden, was existiert, sichtbar ist, auf der anderen Seite hält sie die Zeit an, ist eine Momentaufnahme - und dieser Zwiespalt prägt die Bilder von Elger Esser.
Sie sind von dieser Welt - die Orte, durchweg in Frankreich, sind genau auf den Bildtiteln bezeichnet: Lyon, Paris, eine Brücke. Auf der anderen Seite scheinen sie nicht von dieser Welt zu sein, wirken wie traumverlorene Erinnerungen. Daher lässt er seine Fotos in letzter Zeit auch gern als Heliogravüre drucken, das ist die Technik, mit der im 19. Jahrhundert Postkarten hergestellt wurden.

"Aus der Ferne haben Sie das Gefühl, Sie gucken auf eine Fotografie, treten Sie nah heran, merken Sie, es ist keine Fotografie mehr, und darum ging es mir. Weg von der Fotografie hin zu etwas anderem, damit zu spielen, dass man nie das Gefühl hat, vor einer Fotografie zu stehen."

Diesen Eindruck von Traumverlorenheit, Zeitlosigkeit erzielt Esser, indem er die Fotos nachbearbeitet. Meist wirken sie stark überbelichtet, Flächen werden zu reinem Weiß, die Farben sind in warme Gelb-Ocker-Töne getaucht.

"Da mich Fotografie eigentlich schon zu meinen Studienzeiten nicht mehr interessiert hat und ich Bilder machen wollte und keine Fotografien, habe ich alles Mögliche versucht an Manipulativem, und wir reden jetzt nicht von digitaler Manipulation, sondern vielleicht eher einer psychologischen und einer technischen, um aus dem fotografischen Bild ein Bild zu machen. Und da ist mir jedes Mittel recht - das Übermalen, das Einfärben. Das geschieht im Labor mit Filtern, wie das früher auch immer klassisch gemacht wurde. Die Wahrheit, man spricht ja immer von Wahrheit, ist eine Illusion."

Entscheidend ist der Satz: "Da mich Fotografie schon (…) nicht mehr interessiert hat". Esser geht es nicht um Fotos, Esser will Bilder herstellen. Das Foto ist dabei in gewisser Hinsicht nur Ausgang, Rohmaterial. Daher muss das Ausgangsmaterial für seine Bilder auch nicht von ihm selbst aufgenommen sein. Er hat eine riesige Sammlung alter Ansichtskarten aus dem 19. Jahrhundert, 25.000 Stück, daraus wählt er Details und vergrößert sie auf das 400fache. Das Resultat: Wahre dramatische Gemälde von spritzender Gischt oder einsamen Figuren am Strand.

"Ich fahre herum, sehe etwas und geht es darum: kann man ein Bild machen oder geht ein Bild nicht. Es gibt sehr viele Situationen, die interessant sind, aber die lassen sich nicht fotografieren. Beider Aufnahme denke ich nicht nach; ich mache die Aufnahme. Das Nachdenken und das Nacharbeiten kommt dann später."

Aus diesem Ausgangsmaterial macht Esser dann Bilder, bei denen man zwar deutlich sieht, dass sie mit der Kamera aufgenommen wurden, aber sich immer zugleich fragt, ob es nicht vielleicht doch Gemälde sind, Gemälde von Impressionisten, lichtdurchflutet. Sie haben jetzt mit der Realität, in der die Fotos entstanden sind, kaum mehr etwas zu tun. Es gibt einen Zyklus in Essers Werk, der trägt den Titel Combray - Combray, da denkt man natürlich an einen Ort in Frankreich, aber diesen Ort gibt es nicht, und doch ist er für Tausende von Menschen realer als so mancher echte Ort. Das sind die Leser von Marcel Proust. Er hat diesen Ort so erfunden, dass der Leser ihn für real hält.

"Combray war für mich, wenn man so will, eine kleine geistige Hilfestellung, die ich mir von Proust entliehen habe, Combrasy ist eine literarische Konstruktion, die sich aus mehreren Orten, Gegebenheiten und Erinnerungen zusammensetzt, und die Tatsache, dass Erinnerung ein extrem konstruiertes Phänomen ist."

Die Fotos zu diesem Zyklus entstanden an verschiedenen Orten, das Resultat ist reine Fiktion, bildnerische Fiktion. So ist Esser ein großer Bild-Erfinder, dem es vor allem darauf ankommt, perfekte Bilder zu gestalten, und dabei die Zeit anzuhalten, ganz so wie Bilder unserer Erinnerungen.

"Ein Bild ist ein Moment, wo man stehenbleibt, innehält, der Promeneur im Benjamin'schen Sinne, der irgendwo innehält, und da entstehen Bilder - ob sie im Kopf entstehen, in der Literatur, auf Leinwänden, egal wie, das sind die Momente der Stille."

Service:
Elger Esser - "Eigenzeit"
28. November 2009 bis 11. April 2010
Kunstmuseum Stuttgart