Traumland - Albtraumland

Auf der Suche nach dem "echten Indien"

29:05 Minuten
Junge Touristin mit roter Farbe im Gesicht neben einem Rajputen mit rotem Turban vor dem Palast der Winde in Jaipur in Indien.
Kaum ein Land kann Touristen so faszinieren, irritieren und abschrecken wie Indien. © imageBroker / dpa
Von Antje Stiebitz · 28.11.2018
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Farbenprächtige Szenerien, exotische Speisen oder spirituelle Erleuchtung im Ashram erhoffen sich viele Indien-Reisende. Zum Alltag gehören Armut und Kinderarbeit, Gewalt gegen Frauen, soziale Ungleichheit. Eine Reise durch ein widersprüchliches Land.
George Harrison: "Einen Gedanken wurde ich danach nicht mehr los: die Yogis im Himalaya. Warum, weiß ich nicht. An die hatte ich mein Leben lang nie gedacht, aber plötzlich waren sie in meinem Kopf, als würde mir jemand etwas einflüstern."
Mit diesem Zitat beschreibt George Harrison in dem Dokumentarfilm "Living in the Material World" von Martin Scorsese eine Zeit, in der er Erfahrungen mit dem Halluzinogen LSD machte. Damals habe der "Stille" der Beatles erkannt, dass er mit dieser Droge nicht gefahrlos weitermachen kann. Deshalb habe er sich auf eine drogenfreie Suche nach Wahrheit und Seelenfrieden gemacht.
Geoffry Giuliano: "Die Beatles waren von der unvermeidlichen Oberflächlichkeit des weltlichen Erfolgs ernüchtert und begannen, tiefer in sich selbst zu blicken. Sie hofften, dort eine tiefgreifendere und befriedigendere Realität zu entdecken."

Als sich George Harrison ab 1966 dem indischen Musiker Ravi Shankar, dem spirituellen Meister Maharishi Mahesh Yogi und der Hare-Krishna-Bewegung zuwandte, entstand wenig später seine erste Single als Solo-Künstler, und er landete 1970 seinen ersten internationalen Mega-Hit: "My Sweet Lord" erreichte in den USA, in England und in Deutschland den ersten Platz der Hitparaden.
Im indischen Ashram traf der kanadische Filmemacher Paul Saltzman zufällig die Beatles - und machte viele Fotos von ihnen.
Sie machten Indien zum Sehnsuchtsort vieler westlicher Sinnsucher: die Beatles.© Paul Saltzman / Beatles Story

Traumland der Blumenkinder

Auch mit der Single "Hare Krishna Mantra", die er gemeinsam mit den Gläubigen des Radha Krishna Temple in London aufnahm, landete er einen großen Erfolg. George Harrison wurde zum Superstar für junge Menschen überall auf der Welt, die sich inspirieren ließen, den Blick nach innen zu richten und so ihre eigene Wahrheit zu erforschen.
Zu Tausenden pilgerten Blumenkinder auf dem Hippie-Trail nach Indien, der Subkontinent wurde zum Sehnsuchtsort für Sinnsuchende, die aus der Wohlstandswelt des Westens aussteigen wollten.
Touristen vor einer Inschrift, die für Yoga-Kurse wirbt, im indischen Rishikesh.
Durch die Beatles wurde der indische Ort Rishikesh weltweit bekannt.© Donatella Giagnori / EIDON/MAXPPP / dpa
Ich selbst war damals noch zu jung, aber das Musical "Hair" im Plattenschrank meiner Eltern und die US-amerikanische Verfilmung des Musicals baute mir die Brücke in die Zeit: Bilder von Hippies, die vor das Weiße Haus stürmten und dem Vietnam-Krieg Flower Power entgegen setzten. "Let the sunshine in".
Das Hippie-Kleid, das ich auf der Abi-Feier trug, war 1994 unzeitgemäß. Aber ich wollte raus aus der Enge, neue Welten kennenlernen. Indien. Das Land Mahatma Gandhis. Das Land so vieler Träume.

Realitätsflucht ins Land so vieler Träume

"Ich habe mehrmals in meinem Leben, habe ich gesehen, dass das, was da ist, nicht genug ist. Wenn wir hier auf die Straße gehen, wer guckt mir hier in die Augen? Wer lächelt mich denn an? Außer alten Leuten und Kindern. Es ist… Deutschland ist ein Land, das auch von anderen Nationen als etwas gefühlskalt dargestellt wird. Und das hat gefehlt, die Essenz des Lebens, die Freude, die Ekstase und letztendlich die Liebe."
Die Erinnerung bewegt Robert Köckritz noch heute zutiefst. Er ist 23 Jahre alt, als er sich in den späten 70ern mit Rucksack, tausend Mark und seiner Gitarre von Berlin aus auf dem Landweg – Türkei, Iran, Afghanistan, Pakistan – nach Indien aufmacht. Von der indischen Hauptstadt Delhi aus fährt er gleich weiter in den Himalaya.

"Dann war ich so auf vier-, fünftausend Metern Höhe und habe einen Höhenrausch bekommen. Ich hatte nichts mehr gegessen, keine feste Nahrung mehr zu mir genommen. Ich hatte meine Hosen verkauft, meine Schuhe. Ich hatte nur noch einen Jutesack, ein Wickeltuch und es war sehr kalt, und eines Morgens bin ich wach geworden und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Wenn dein Körper kein Salz mehr aufnimmt, dann kannst Du nicht einmal mehr die Hand heben und dann war ich bereit zu sterben."
Als Robert Köckritz völlig entkräftet in einer Scheune liegt, findet ihn ein anderer Tourist. Er bringt ihm Salz und Wasser und Robert Köckritz erholt sich.
"Und dann bin ich wieder hochgekommen und habe das alles gesehen und habe zurückgeguckt, den Weg, den ich gekommen bin, wo ich herkam und dann wurde mir klar, was ich gesucht habe, ich hatte es gefunden. Und ich wusste ganz genau: Jetzt, das ist es."

Fasziniert von indischen Denkern

Kavita Kumar: "Wie hat es im Wesentlichen begonnen? Was war die eigentliche Ursache dafür, ihr Land zu verlassen und hierher zu kommen? – Das war Realitätsflucht. Sie würden überall hingehen."
Kavita Kumar sitzt am Esszimmertisch in ihrem Haus in der Saket Nagar Colony in der nordindischen Stadt Varanasi. Die 81-Jährige unterrichtet seit Jahrzehnten Sprachinteressierte aus allen Ländern der Welt in der Sprache Hindi.
Während des Unterrichts hat die liebenswürdige Frau meist erfahren, welche Gründe ihre Schüler nach Indien gebracht haben. Kavita Kumar erinnert sich gerne an ihre Schützlinge. Etwa an Cecilia, die als Kind indische Märchen liebte und als Jugendliche mit ihrem Heimatland Norwegen unzufrieden war. Gerade einmal 17 Jahre alt, reiste die junge Frau nach Bodhgaya – den Ort, an dem Buddha erleuchtet wurde. Obwohl Cecilia die Sprache der Menschen dort nicht verstand, war sie fasziniert.
"Sie sagte, sie habe in ihren Augen die Tiefe eines Wissens gesehen, das sie verstehen wollte, aber nicht konnte. Ich fragte, warum sie Hindi lernen will und sie sagte: Damit ich verstehe, was mir die Menschen vermitteln wollen."
Nicolai Schirawski: "Und dann kam ich jetzt im Süden Indiens in eine Buchhandlung, habe dort ein Buch mitgenommen von einem Menschen namens Sri Aurobindo, das ist so ein indischer Denker. Im westlichen Sinne sagt man Philosoph. So und jetzt hatte ich das Buch in den Händen und hatte den Eindruck: Hier steht auf jeder Seite so unglaublich verdichteter Inhalt drin, dass man mit dem, was man hier im Westen schreibt oder auch mit dem, was ich geschrieben habe und dem, was ich in unserer Zeitschrift geschrieben habe, da ist also in einem ganzen Jahrgang der Zeitschrift nicht so viel Inhalt wie dort auf einer Seite."
Nicolai Schirawski ist Diplom-Physiker und hat lange als Journalist gearbeitet. Indien gehört seit vielen Jahren zu seinem Leben. Er betreibt Yoga und besucht mit seiner Familie den Subkontinent regelmäßig – zwanzig Mal war er dort. Das Buch, das er damals in der Buchhandlung entdeckte, hat er nie zu Ende gelesen, weil es zu kompliziert wurde. Allerdings ist er überzeugt, dass ihm diese ersten zwanzig Seiten, die er gelesen hat, neue Welten eröffneten.

Mahatma Gandhi als weltweite Galionsfigur

"Wenn man mich fragte, unter welchem Himmel der menschliche Geist einige seiner auserwähltesten Gaben am vollsten entwickelt, über die größten Probleme des Lebens am tiefsten nachgedacht und zu manchen derselben Lösungen gefunden hat, welche die Beachtung selbst derjenigen, die Plato und Kant studiert haben, wohl verdienen – ich würde auf Indien weisen."
Diese Zeilen notiert Friedrich Max Müller 1884 für eine Vorlesung an der Universität Cambridge mit dem Titel "Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung". Der deutsche Sprach- und Religionswissenschaftler brachte die "Sacred Books of the East" heraus, eine Sammlung von 49 Bänden mit asiatischen religiösen Schriften. Wegen dieser herausragenden Kulturarbeit für Indien tragen die Goethe-Institute in Indien den Namen des Gelehrten – Max Mueller Bhavan – das bedeutet Max Müller Haus.
Die Hippies waren längst nicht die ersten, die sich von der indischen Gedankenwelt angezogen fühlten. Bereits 1784 gründeten die Briten in Bengalen, die "Asiatic Society", weil sie mehr über die Geschichte und Kultur der Inder erfahren wollten.
Die britische Kolonialisierung machte Indien in Europa bekannt und weckte Neugier. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts geriet Indien auch in den Fokus der deutschen Wissenschaft. Sprachwissenschaftler waren von der Komplexität des Sanskrit fasziniert und fanden Parallelen zur deutschen Sprache. Da es sich bei den untersuchten Texten ausschließlich um solche mit religiösem Inhalt handelte, entstand die Vorstellung von einer besonderen Weisheit der Inder. Damit trugen die Gelehrten bereits damals zum Traumbild des Subkontinents bei.
Fotografie von Mahatma Gandhi (1869-1948) 
Mahatma Gandhi: weltweit bekannte Symbolfigur für den Unabhängigkeitskampf Indiens und für gewaltlosen Widerstand.© imago
"Wer einmal nicht nur mit den Augen, etwa als Luxusreisender auf einem Touristendampfer, sondern mit der Seele in Indien gewesen ist, dem bleibt es ein Heimwehland, an welches jedes leiseste Zeichen ihn mahnend erinnert. Wie viel tausendmal, seit ich vor vierzehn Jahren in Indien war, haben Kleinigkeiten auf dem Umweg über die Sinne mich erinnert, mich gemahnt, mir Heimweh geweckt."
Das schreibt Hermann Hesse über Indien. Die Liste der namhaften Schriftsteller, die sich in den letzten zwei Jahrhunderten mit Indien befassten, ist lang: Sie reicht von Johann Wolfgang von Goethe über Heinrich Heine bis Günter Grass.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts machen Hermann Hesse mit "Siddhartha" und Waldemar Bonsels mit "Indienfahrt" die indische Gedankenwelt für eine breitere Bevölkerungsschicht zugänglich. Als sich während des indischen Unabhängigkeitskampfs Mahatma Gandhi weltweit zur Galionsfigur des Pazifismus entwickelt, wird Indien noch mehr zum Sehnsuchtsland, gerühmt für seine "mystischen Herrlichkeiten" und seinen "geheimnisvollen Zauber".

"Es gibt Menschen, die mit solchen Erwartungen kommen"

Kavita Kumar: "Sie waren Philosophiestudenten und waren auf indische Philosophie spezialisiert. Also dachten sie, dass sie hier im realen Leben finden würden, was sie über indische Philosophie lasen."
Kavita Kumar erinnert sich an ein junges Paar aus Polen, das mit einem Lehrauftrag an die Universität von Varanasi kam. Die beiden hatten in ihrer Heimat die Wohnung gekündigt, ihr Hab und Gut verkauft und wollten ihre Kinder in Indien aufziehen.
Doch die indische Realität hielt ihren hehren Vorstellungen nicht stand, enttäuscht kehrten sie in ihre Heimat zurück.
"Ich sage immer, es ist etwas anderes ist, ein Buch zu lesen. Das Leben, das es hier vor Tausenden von Jahren gab, existiert nicht mehr. Zu glauben, dass es dieses Leben hier noch immer gibt, ist nicht praxistauglich. Aber es gibt Menschen, die mit solchen Erwartungen kommen."

Michael Schied: "Ein freies Leben. Weg von Konventionen, alternativ, das ist meines Erachtens der Hippie-Traum von Indien. Da wird die Vorstellung, die man in Europa nicht mehr hat oder ein Leben, das man in Europa nicht mehr leben kann, wird nach Indien transportiert. Religiosität, der Mensch lebt noch eins mit der Natur, Mystik, das wird nach Indien gepackt."
Michael Schied ist Südasienwissenschaftler und betrachtet Indien aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Wenn er über das Land spricht, geht es ihm um den indischen Unabhängigkeitskampf, die erstarkenden Hindu-Nationalisten und die zahlreichen bewaffneten Konflikte im Land. Mit den Traumbildern vom Land hat das wenig zu tun.
"Also wenn man sich mit Indien wirklich befassen will, letztendlich, dann muss man, dann kann man diesen Traum überhaupt nicht ausleben. Also dann muss man sich davon trennen, weil das ist eine Fiktion."
Eine Bettlerin liegt auf einem Handkarren zwischen Fahrrädern und Müll in Mumbai vor der Haji Ali Moschee.
Alltag in Indien: eine Bettlerin in den Straßen Mumbais.© imago/Indiapicture

"Unweigerlich sind sie enttäuscht"

Europa verlassen, Ankunft im Land meiner Träume. Ich habe damals Tagebuch geführt.
Tagebuch: An der Westküste Indiens, 28. August 1994:
"28. August 1994. Als wir in Goa ankommen, regnet es – Monsunzeit. Calangute, der größte Strand im Norden Goas, ist verwaist. Nur vereinzelt hängen noch Touristen herum. In einem kleinen Restaurant am Strand lernen wir einen Finnen kennen. Er lebt seit sechs Monaten hier und schwärmt davon, wie günstig der Alkohol sei, bereits eine einzelne Rupie könne man in Alkohol umsetzen. Also trinke er den ganzen Tag und gehe spät ins Bett. Wenn er mittags mit Kopfschmerzen aufwache, nehme er einige Aspirin. Sieht so das Hippie-Leben aus? Was denken wohl die Inder darüber?"
Kavita Kumar: "Manchmal ist es Weltflucht, manchmal ist es auch aufrichtige Faszination, die sie nach Indien bringen und unweigerlich sind sie enttäuscht. Entweder ist Indien nicht so faszinierend, wie sie es sich erhofft haben oder sie beenden ihre Weltflucht. Dann gehen sie zurück in ihr Land und akzeptieren es als ihr Land."
Die Tänzerin trägt ein weißes Salvar Kameez und ein rotes Tuch um die Taille - kein buntes Kostüm, keinen Schmuck, wie es indische Tänzerinnen sonst tragen. Die Bühne befindet sich im Versammlungsraum eines Gandhi-Ashrams im nordöstlichen Bundesstaat Odisha. Die meisten der anwesenden Zuschauer gehören der hier ansässigen Stammesbevölkerung an.
Die Mitarbeiter des Gandhi-Ashrams wollen die Lebenssituation der marginalisierten, indigenen Bevölkerung stärken. Durch ihre Bewegungen erzählt die Tänzerin ihrem Publikum wichtige Stationen aus dem Leben Mahatma Gandhis. Ihr filigraner und präziser Tanz hat mich begeistert.

Tagebuch: Varanasi, 2. Januar 1999:
"Nicht nachdenken, auf die Füße konzentrieren und auf dem kühlen Steinfußboden unter den Fußsohlen den Takt schlagen. Die Tanzlehrerin spricht den 16er-Takt. Wenn die Bewegungen mit der Musik fließen, ist das Glück. Und üben, üben, üben."
Habe ich damals in meinem Tagebuch notiert, als ich das Glück dieses Tanzes erlebt hatte.
Es ist bereits lange dunkel, als die ersten Musiker ihre Instrumente stimmen. Alle Konzertbesucher sind festlich gekleidet. Das Dover Lane Concert in Kolkata ist eine der schönsten Erinnerungen, die ich an Indien habe.
Touristen und Verkäufern auf dem Hippie-Flohmarkt in Anjuna, Goa, Indien.
Überbleibsel der Flower-Power-Zeit: der sogeannte Hippie-Flohmarkt in Anjuna, Goa.© Hackenberg / dpa
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Indische Tänzerinnen beim Hindu-Festival Jabmashtami im Hare Krishna Tempel in Aldernham.© picture alliance / dpa / Geoff Caddick
Drei Nächte lang spielten und sangen Größen der klassischen indischen Musik bis weit in die Morgenstunden hinein: Amjad Ali Khan auf dem Sarod, Hari Prasad Chaurasia auf der Flöte, der Sänger Pandit Jasraj. Versunkenheit und Wonne spiegelten sich auf den Gesichtern der Musiker – und der Zuhörer. Für mich: ein Traum, das Erlebnis einer anderen Welt.

"Eine moralische Zumutung ersten Ranges"

Tagebuch: Varanasi, 22. November, 1998:
"Varanasi, 22. November 1998. Heute habe ich meine erste Leiche gesehen. Bei einer morgendlichen Fahrt auf dem Ganges stößt plötzlich etwas dumpf gegen unser Holzboot. Ich beuge mich vor und sehe, wie eine Schaufensterpuppe gegen unser Boot schwappt. Langsam begreife ich, dass es sich um einen aufgedunsenen menschlichen Körper handelt."
An der Straßenecke kauert eine Frau auf dem Boden, ihr zerschlissener Sari bedeckt kaum ihren ausgemergelten Körper. Ihre ausgestreckten Hände flehen stumm. Es ist eine jener zahllosen Alltagsszenen, die ich erlebt habe in dem Land, in dem man überall mit Armut, Krankheit und Tod konfrontiert wird.
"Das ist ja, was viele Leute so abschreckt, wenn sie das erste Mal nach Indien kommen: In diese Abgründe zu schauen. Direkt auf der Straße vor einem sitzen Leute, die siehst du hier einfach nicht. Krüppel, die dahin vegetieren. Kinder, die man verstümmelt hat, damit sie besser betteln können. Leute, die dort dahinsiechen, und die oberen Kasten, die darüber angewidert hinwegsteigen. Eine moralische Zumutung ersten Ranges."
Sagt Nicolai Schirawski, der Diplom-Physiker, der immer wieder nach Indien reist. Die beiden Indien-Korrespondenten Georg Blume und Christoph Hein haben 2014 in ihrer Streitschrift "Indiens verdrängte Wahrheit" unerhörte Zahlen auf den Tisch gelegt: 700 Millionen Indern knurrt täglich der Magen, weil die Reisportion auf dem Teller zu klein ausfällt. Die Vereinten Nationen meldeten 2012, dass in Indien im Jahr 1,7 Millionen Kinder im Alter bis zu sechs Jahren verhungern - vor allem Mädchen.

Farbenprächtige Hochzeit, schreckliche Frauenschicksale

Die Hochzeitsgäste jubeln, als die Braut den Hochzeitssaal betritt. Die junge Frau ist von Kopf bis Fuß in einen roten Sari gehüllt. Mit den goldenen Stickereien und ihrem Schmuck sieht sie aus wie eine Prinzessin. Auf einem blumengeschmückten Hochzeits-Pandal, umkränzt von zwei großen hellblauen Schwänen, wartet der Bräutigam, gekleidet wie ein Maharadscha. Indische Hochzeiten sind sagenhaft inszeniert.
Der Kontrast könnte schärfer nicht sein – die Märchenhochzeit und die vergötterte Braut und der Frauenalltag. Zwei Millionen Frauen sterben jährlich aufgrund der verschiedensten Formen von Diskriminierung - Mangelernährung, fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung, Vernachlässigung, Gewalt. Die unzureichende Schul- und Ausbildung vieler Frauen zementieren diese Bedingungen.

Tagebuch: Varanasi, 12. Februar 1999:
"Varanasi, 12. Februar 1999. Jeden Tag kommt ein Müllmann mit einem Handwagen unsere Gasse entlang und lädt den Abfall auf, der sich in einer der Ecken ansammelt. Der Mann ist von Kopf bis Fuß in Lumpen gehüllt. Er hat die Augen immer gesenkt und verschwindet schnell wieder. Wie ein Schatten."
Ein Dalit, ein Unberührbarer. Obwohl die Unberührbarkeit 1955 mit dem Artikel 17 abgeschafft und die Benachteiligung der Dalit unter Strafe gestellt wurde, werden rund 160 Millionen Hindus weiterhin religiös-dogmatisch als "unrein" degradiert.
Eine junge indische Braut steht während einer Massenhochzeit zwischen anderen Frauen und Männern.
Hochzeit in prachtvollen Farben: eine junge Braut während einer Massenhochzeit.© AFP / Sam Panthaky

Ausgrenzung und soziale Ungleichheit

Ramesh Kamble unterrichtet an der Universität von Mumbai Soziologie.
"Kastenhierarchien und die Praxis der Unberührbarkeit wurzeln primär in Machtverhältnissen, und die Religion und die religiöse Ideologie wurde benutzt, diese Machtverhältnisse zu legitimieren."

Bewohner gehen zwischen Häusern in dem Slum Shastri Park am Fluß Yamuna im Osten von Delhi, Indien. In der 30-40 Jahre alten Siedlung Shastri Park nahe der gleichnamigen Metrostation leben ca. 18.000 Menschen auf engstem Raum.
Slum in Neu Delhi: 18.000 Menschen leben hier auf engstem Raum.© Christian Charisius/dpa
Es gebe eine ganze Reihe anthropologischer Studien, erklärt der Wissenschaftler, die nahe legten, dass die Praxis der "Unberührbarkeit" mit Religion nichts zu tun habe.
Die Liste der Ungleichheiten ist lang: Für die indischen Muslime gehört Ausgrenzung ebenso zum Alltag wie für die Adivasi, die indigene Bevölkerung Indiens, die an den Rand gedrängt wird.

Traumverlorene Hippies gestrandet in der Realität

Was haben die traumverlorenen Hippies der 60er-, 70er-Jahre von dieser Wirklichkeit mitbekommen? Nicolai Schirawski hat davor nicht die Augen verschlossen und reist trotzdem immer wieder nach Indien.

"Da ist trotz alledem, was da an so ganz Offensichtlichem, ja Unerträglich ist, eine Zumutung ist. Trotz alledem gibt es etwas, was darunter ist, was die Leute zutiefst berührt und die Leute auch immer wieder hinzieht."
Indien hat eine Fläche von 3,2 Millionen Quadratkilometern, ist fast zehnmal so groß wie Deutschland, besteht aus 29 Bundesstaaten und hat über 1,3 Milliarden Einwohner, die weit über 100 verschiedene Sprachen sprechen.
Viele Kinder in Indien müssen arbeiten, meist in Textilfabriken. Man sieht einen Jungen, der Stoffe auf der Schulter trägt.
Viele Kinder in Indien müssen arbeiten, oft in Textilfabriken oder im Steinbruch.© JEWEL SAMAD / AFP
Ein Bewohner des nordindischen Staates Punjab unterscheidet sich von einem Einwohner des südlichen Tamil Nadu mindestens so sehr wie ein Skandinavier in Europa von einem Italiener. Dennoch teilen die Einwohner des indischen Subkontinents kulturelle Eigenheiten, so wie alle Europäer Gemeinsamkeiten aufweisen.

Ein Land voller Widersprüche

Da Indien ein unendlich diverses Land ist, sind alle Verallgemeinerungen so ungerecht wie zutreffend. Für jedes Beispiel gibt es ein Gegenbeispiel. Für jede gedemütigte Frau existiert das Gegenbeispiel einer selbstbestimmten Frau. Genauso wie sich die scheinbar zementierten sozialen Hierarchien immer wieder als durchlässig erweisen.
Es gibt Frauen in Spitzenpositionen wie Indira Gandhi oder den ehemaligen Präsidenten der indischen Republik, Narayanan, ein Dalit, oder muslimische Filmschauspieler wie Shah Rukh Khan. Menschen mit Alibi-Funktion sagen die einen, Menschen mit positiver Symbolwirkung, sagen die anderen.

"Was ich bisher wusste, ist bedeutungslos geworden"

Tagebuch: "15. April 1999. Indien weicht mich auf. Was ich bisher wusste, ist bedeutungslos geworden. Alles muss ich neu lernen, die Sprache, Mimik und Gestik. Ich höre und beobachte eine Welt, die ich nicht verstehe. Meine Kategorien von Logik greifen hier nicht. Ich wundere mich von morgens bis abends, bin verunsichert, mein ganzes Sein ist höchst fragwürdig."
Schirawski: "Solche Verunsicherungen gibt es auf ganz vielen Ebenen. Eine andere, die wir zum Beispiel haben, ist, entweder ist es Wahrheit oder es ist Mythos. Das ist für uns immer völlig klar, entweder sind es Dinge, die sich wirklich ereignet haben oder es sind Dinge aus Märchen. Und in diese zwei Kategorien stopfen wir alles rein."
Robert Köckritz: "Wir haben hier ein großes Manko in unserer Gesellschaft. Das größte Manko, das ich sehe, ist die lineare Logik. Die lineare Logik lässt nur zu ein Ja oder Nein, ein An oder Aus. Der Inder hat das nicht und der Buddhist auch nicht."
Schirawski: "Und dann war ich total überrascht, als ich dann sah, in Indien sehen die das überhaupt nicht so. Da ist der Übergang zwischen Mythos und Realität völlig fließend."
Biete etwa der Priester dem Gott Ganesha im Tempel morgens Milch an, erklärt Nicolai Schirawski, gingen die Gläubigen unerschütterlich davon aus, dass der Elefantengott diese Milch trinke. Und ich erinnere mich noch gut daran, wie verwirrend es bei der Feldforschung für meine Magisterarbeit war, etwas über die Historie des Tempels herauszubekommen, der Gegenstand meiner Untersuchung war.
Der Tempelvorsteher verknüpfte Mythos und geschichtliche Daten so variantenreich, dass ich ratlos zurückblieb. Es scheint, als würden präzise Erinnerungen in Wärme und Monsunregen genauso zerfließen, wie sich jede feste Materie durch das feucht-heiße Klima zermürbt und auflöst.

In Indien gibt es unzählige heilige Orte, die eng mit bestimmten Gottheiten und den Erzählungen der heiligen Schriften verknüpft sind. Die dort erbauten Tempel ziehen oft Massen von Gläubigen an, die sich durch den Anblick der Gottheit ihren Segen erhoffen.
Mann beim heiligen Morgenritual am Ganges in der heiligen Stadt Varanasi, Indien.
Morgenritual am Ganges in der heiligen Stadt Varanasi.© All Canada Photos
Michael Schied: "Da wird natürlich eine gewisse Religiosität gelebt, die ist für mich schon phänomenal, weil – die Leute sind begeistert. Die kommen aus irgendwelchen Dörfern und haben sich ihre Rupien zusammengekratzt. Und für die ist das wie eine Weltreise, da hinzukommen. Das ist ein Erlebnis."

Demütige Spiritualität und hemmungslose Unsitte

Tagebuch: "Varanasi, 6. Februar 2002. Habe heute wieder im Durga Kund Tempel gesessen und die Gläubigen beobachtet. Einer von ihnen hat sich vor dem Durga-Bildnis flach auf den Bauch geworfen und hat herzzerreißend immer wieder Ma! Ma! gerufen, beinahe geweint. Mir ging sein Appell an die Große Göttin durch Mark und Bein. Ich bewundere diese offen ausgelebte Emotionalität sehr und gleichzeitig macht sie mir Angst."

Der Durga Kund Tempel ist einer von Tausenden Tempeln und Schreinen in der nordindischen Stadt Varanasi. Varanasi, auch Benares oder Kashi, "Stadt des Lichts", genannt, ist eine der ältesten und heiligsten Städte Indiens.
Die Stadt Shivas liegt am Ganges und hat rund 1,2 Millionen Einwohner, sie gilt als Zentrum der traditionellen hinduistischen Kultur und Wissenschaft. Wer hier stirbt und verbrannt wird, so die Mythologie, hat sich vom Kreislauf der Wiedergeburten befreit.
Varanasi ist antik, mystisch und hinterlässt das Gefühl von völliger Zeitlosigkeit. Wahrscheinlich liegen nirgendwo sonst auf der Welt demütige Spiritualität und hemmungslose Unsitte, Weisheit und Dumpfheit so eng beieinander wie hier.

Tagebuch: 18. Oktober 1998: "Morgens um vier höre ich, wie die ersten Gläubigen durch die engen Gässchen zu den Ghats, die Treppen zum Ganges, hinunter laufen. Die mitgebrachten Ritualgegenstände klappern. In der Morgendämmerung stehen sie dann bis zur Hüfte im Wasser, beten und führen Rituale durch. Ihre Worte verwehen über den Ghats und die den Göttern dargebotenen Blumen schwimmen langsam den Ganges hinunter - alles in pastellfarbenes Gold getaucht."
VARANASI, INDIEN - 24. MAI: Eifrige Anhänger treten zusammen, um ein heiliges Bad im Fluss Ganga anlässlich Ganga Dussehra bei Sheetla Ghat am 24. Mai 2018 in Varanasi, Indien zu nehmen. Es wird von Hindus geglaubt, dass der heilige Fluss Ganges an diesem Tag vom Himmel zur Erde herabstieg. (Foto von Rajesh Kumar / Hindustan Times) Eifrige nehmen Bad in Ganga in Varanasi bei Ganga Dussehra PUBLICATIONxNOTxINxIND   VARANASI, INDIA - MAY 24: Devotees gather to take a holy dip in River Ganga on the occasion of Ganga Dussehra at Sheetla Ghat on May 24, 2018 in Varanasi, India. It is believed by Hindus that the holy river Ganges descended from heaven to earth on this day. (Photo by Rajesh Kumar/Hindustan Times) Devotees Take Bath In Ganga In Varanasi On Occasion Of Ganga Dussehra PUBLICATIONxNOTxINxIND
Pilger-Massen in Varanasi: Alle möchten ein Bad im Ganges nehmen.© imago stock&people
Schirawski: "Durch meinen Aufenthalt dort hat sich sehr viel relativiert. Sehr, sehr vieles. Zum Beispiel die Frage: Was bin ich eigentlich? Wie sehr bin ich derjenige, der denkt? Könnte ich nicht einfach auch was völlig anderes denken und wäre trotzdem noch ich?"

Ob Yoga, Meditation, Musik, Tanz oder andere Künste – es ist die uralte Tradition der Selbst- und Wirklichkeitserforschung, die Nicolai Schirawski an Indien fasziniert. Wie weit hängen Wirklichkeit, das Ich und das Göttliche zusammen? Ist das, was ich sehe, nur eine Spiegelung von mir selbst? Indien verkörpert für Nicolai Schirawski die spirituelle Suche nach dem, was hinter dem Offensichtlichen steht:

"Also die tiefe Überzeugung, dass die Welt nicht einfach so beschaffen ist, wie man sie so ganz oberflächlich sieht. Sondern dass hinter dem ersten Eindruck noch viel mehr steckt, als das, was einem so ins Auge springt."

Hinter dem alltäglichen Alptraum geht der Traum nicht verloren. Auch für mich nicht, nach meiner Rückkehr in die europäische Welt. Vor Kurzem war ich wieder in dem Land, in dem Realitäten so zu zerfließen scheinen wie der Lehmboden im Monsun.

Das Feature wurde erstmals am 31. Mai 2017 ausgestrahlt.

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