Traumhäuser auf dem Wasser

Von Anna Stellmann und Michael Fischer · 03.06.2010
Um in den Niederlanden die Nachfrage nach Baugrund weiter befriedigen zu können, entstehen derzeit Siedlungen im Wasser - und zwar keine Ansammlungen von Hausbooten, sondern fest verankerte Häuser und Stadtteile.
"Hallo, wollen Sie hereinkommen. Das Haus, ja es ist schön, einfach anders. Es gibt viel Platz rundherum. Vor allem merkt man, dass man auf dem Wasser lebt. Denn das Haus bewegt sich ein bisschen."

Robert Ross fühlt sich wohl in dem Haus, das er erst vor wenigen Monaten bezogen hat. Das Parterre besteht aus einem geräumigen Wohnzimmer mit integrierter Küche. Große Fenster nach drei Seiten geben den Blick frei auf eine weite Wasserfläche und auf den Quai, der zu den schwimmenden Häusern führt.

"Im Winter sind wir Schlittschuh gelaufen. Wir haben einfach die Fenstertüren aufgemacht und sind aufs Eis gesprungen."

Eine Etage höher stehen noch nicht ausgepackte Umzugskisten. Der Raum erstreckt sich nur über die Hälfte des Grundrisses. Die andere Hälfte besteht aus einer großen Terrasse.

"Früher wohnte ich in Amsterdam in einer Wohnung. Hier ist es viel schöner. Wir haben viel mehr Platz, eine schöne Aussicht und keine direkten Nachbarn."

Die schwimmende Siedlung liegt am Nordrand von Amsterdam. Auf sieben künstlich aufgeschütteten Sandinseln entsteht der neue Stadtteil Ijburg. Zwischen auf den Sandinseln gebauten herkömmlichen Apartmenthäusern wächst eine bunte Mischung aus Hausbooten, Häusern auf Stelzen und schwimmenden Häusern. Insgesamt sollen hier rund 240 schwimmende Häuser andocken, erzählt der Nachbar von Robert Ross.

"Wie Schiffe werden sie in Trockendocks gebaut und anschließend von Schleppern nach Amsterdam gebracht."

Solche schwimmenden Häuser sollen neue Siedlungsflächen erschließen und gleichzeitig dem Wasser genug Raum lassen. Damit helfen sie den dicht besiedelten Niederlanden aus einem akuten Dilemma: Denn einerseits steigt die Nachfrage nach Baugrund, andererseits gibt es fast nur noch in hochwassergefährdeten Gebieten Platz für neue Häuser.

In den letzten Jahren spezialisierten sich etliche Architekturbüros auf den Bau sogenannter schwimmender Häuser. "Waterstudio", das erste Architekturbüro dieser Art, ist inzwischen weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt.

In einem unscheinbaren Büro am Rande von Den Haag sitzen zirka 15 Waterstudio-Mitarbeiter an langen, hintereinander aufgereihten Schreibtischen und zeichnen, telefonieren oder diskutieren. Unter ihnen der jugendlich wirkende Chef und Gründer des Architekturbüros, Koen Olthuis,
der sich über die gute Auftragslage freut:

"Am Anfang haben wir uns auf einzelne schwimmende Häuser konzentriert. Damit sind keine Hausboote gemeint, so wie man sie aus Amsterdam kennt, sondern moderne Villen auf Wasser. Aber weil viele Städte in aller Welt mit dem Problem Platzmangel und Wasser konfrontiert sind, ist der Bau einzelner schwimmender Häuser keine wirkliche Lösung.

Küstennahe Städte brauchen große schwimmende Siedlungen. Daran arbeiten wir gerade hier in den Niederlanden. Wir haben eine Siedlung mit 1200 Häusern entworfen, von denen 600 schwimmen werden, 600 werden auf künstlichen Inseln und Stelzen stehen."

Auf einer langgestreckten, von einem sechs Meter hohen Damm umgebenen Wiese in der Nähe der Hauptstadt Den Haag sind mehrere Dutzend Arbeiter in gelben Schutzwesten dabei, Fundamente für die Siedlung "Neues Wasser" auszuschalen und zu betonieren. Anschließend soll der Polder, auf dem die Siedlung entsteht, geflutet werden.

"Wenn Sie schwimmende Siedlungen erfolgreich verkaufen wollen, müssen die Wohnungen und Häuser denselben Komfort und denselben Preis haben wie solche auf dem Land. Was wir hier bei Den Haag machen, ist so ein Projekt. Wir werden den Polder fluten und als Wasserspeicher bei Überschwemmungen nutzen.

Auf das Wasser bauen wir schwimmende Häuser und Siedlungen, die aussehen wie ganz normale Häuser und Siedlungen. Wenn Sie durch diese Viertel gehen, sehen Sie Reihenhäuser und Apartmentkomplexe von derselben Qualität wie auf dem Lande. Aber sie schwimmen auf den gefluteten Poldern. Durch diese Baupolitik werden die Niederlande sicherer."

Denn bei Hochwasser auf den die Niederlande durchquerenden Flüssen kann das Wasser in die gefluteten Polder ausweichen. Um gleichzeitig Raum für Siedlungen auf diesen Poldern zu schaffen, werden schwimmende Häuser gebaut.

Bei Einfamilienhäusern verwenden die Baufirmen für den unter Wasser befindlichen Teil möglichst schwere Materialien, vor allem Beton, und für den über Wasser liegenden Teil leichte Materialien wie Holz und Glas. Je großflächiger der Grundriss, desto stabiler liegt das Gebäude im Wasser.

Größere Gebäudekomplexe können deshalb auf einer preisgünstigen Mischung aus Styropor und Beton gebaut werden. Mit Styropor-Beton-Plattformen können auch in ganz seichten Gewässern schwimmende Siedlungen gebaut werden, die wie Legosteine hergestellt und zusammengesteckt werden: ein Haus, zwei Häuser, viele Häuser, plus Straßen und Gärten. Olthuis deutet auf eine große schwimmende Anlage auf dem Bildschirm seines Laptops:

"Im Grunde ist das nichts Neues, nur die Größe ist verschieden. Die Leute denken, das ist ein großer Schritt, von einer schwimmenden Villa zu einem Apartmentkomplex. Aber wir haben eine andere Perspektive. Wir nehmen uns die riesigen Ölbohrplattformen als Beispiel. Dagegen ist ein schwimmendes Apartmentgebäude eine einfache Angelegenheit."

Jahrhunderte lang deichten die Niederländer Wasserflächen ein und legten sie anschließend trocken. Früher pumpten sie das Wasser mit Hilfe ihrer Windmühlen aus den Poldern über die Deiche. Heute haben gigantische Diesel- oder Elektromotoren diese Aufgabe übernommen.

Auf diese Weise sind nicht nur Sumpfgebiete und Seen, sondern ganze Meeresbuchten trockengelegt worden. Die jüngste Provinz des kleinen Landes, Flevoland, rangen die Niederländer fast vollständig dem Wasser ab.

"Eine Warnung für die Schifffahrt. Bezirke Vlissingen und Hoek van Holland – Nordwest zehn, Wasserstand in Haarlingen und Delft Zuid zirka zwei Meter über dem Hochwasser…"

Die Natur hat der niederländischen Hybris jedoch einen gewaltigen Dämpfer versetzt. Zumindest vorübergehend. Den ersten großen Schock erlitten die Holländer 1953, als eine verheerende Sturmflut die Deiche an über hundert Stellen durchbrach und fast 2000 Quadratkilometer Land überschwemmte. Über 1800 Menschen starben.

Nach dieser schwersten Sturmflut des 20. Jahrhunderts wurden im Rahmen des Deltaplans alle vorhandenen Deiche verstärkt und von vier Meter 30 auf knapp acht Meter erhöht. Kernstück des Plans bildete jedoch der Bau der Deltawerke, eines gewaltigen Schleusensystems, das alle niederländischen Meeresarme bis auf die Hafeneinfahrten bei Rotterdam und Antwerpen abriegelte und so die Küstenlinie um 700 Kilometer verkürzte. Sollte wieder einmal eine Sturmflut das Wasser in die Flussmündungen pressen, würde es an dem Bollwerk aus Dämmen und Wehren abprallen.

Das war der Plan. Doch seit einiger Zeit nähern sich fast jedes Jahr bei Rheinhochwasser die kritischen Pegelstände - nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch aufgrund der drastischen Reduzierung der natürlichen Überschwemmungsgebiete.

Um die Schifffahrt zur erleichtern, wurden der Rhein und seine Nebenflüsse an vielen Stellen eingedämmt und begradigt. Folge: Das Wasser läuft schneller ab. Die kleinen Hochwasserwellen der Nebenflüsse können sich im Rhein zu einer großen Welle addieren. Die Niederländer können jedoch ihre Deiche nicht ewig erhöhen, denn jede Erhöhung macht sie unstabiler und verschärft damit die Gefahr, dass sie brechen.

Das Rhein-Maas-Delta, in dem Europas größter Hafen – Rotterdam - liegt, ist das ökonomische und soziale Zentrum der Niederlande. Wie Adern durchziehen die Flussarme das Land.

Treffen Hochwasser und Sturmflut zusammen, geraten die Niederländer in arge Bedrängnis, befürchtet Cees Veerman. Der frühere Landwirtschaftsminister leitete die Neue Deltakommission, die von der Regierung den Auftrag bekommen hatte, eine Lösung für Hollands Problem Nummer eins zu finden. Denn wenn die Sturmflutwehre geschlossen werden, kann das Flusswasser nicht mehr ins Meer abfließen.

"Dann können wir/von innen/ertrinken. Im schlechtesten Fall Sturm,/höheren Meeresspiegel, wir schließen/die Werke, kommt viel Rheinwasser,/diese 18.000 Kubikmeter pro Sekunde, die kommt dann auf Rotterdam heran, und das kann nicht zum Meer heraus, weil alles geschlossen ist, wegen der Sturm. Also - dann haben wir ein Problem."

Bislang wurde das Flusswasser bei Sturmfluten in riesige Auffangbecken geleitet. Da die Niederländer, als sie ihre Küste nach allen Regeln der Ingenieurskunst abriegelten, nicht im Traum daran dachten, dass die nächste große Flut nicht nur von Meer her kommen könnte, sondern, wenn Rhein und Maas über die Ufer treten, auch aus dem Landesinneren, reichen die Auffangbecken nicht ansatzweise für die in Zukunft erwarteten Hochwassermengen.

Um auf die größer werdenden Flutwellen des Rheins und der Maas vorbereitet zu sein, werden deshalb einige der Flutdeiche zurückversetzt und Polder, aus denen die Niederländer seit Jahrhunderten das Wasser herauspumpten, werden jetzt geflutet.

"Mit dem Wasser leben" lautet das neue Programm, das durch ausgewiesene Überflutungsgebiete dem Wasser erlauben soll, sich weiter auszubreiten, das aber gleichzeitig eine Bebauung der gefluteten Polder mit schwimmenden Siedlungen vorsieht.

Eine der führenden Hersteller schwimmender Häuser in den Niederlanden ist die Firmen Arkenbouw. Das Betriebsgelände liegt in der dem Ijsselmeer abgetrotzten Provinz Flevoland am Rande von Urk. Das beschauliche Dorf war einst eine Fischerinsel auf der offenen Zuidersee. Heute ist Urk ein Hafendorf an der Ostküste des riesigen Süßwassersees Ijsselmeer.

Kleine Fachwerkhäuser ducken sich hinter dem breiten Damm, der sie vor den anbrandenden Wellen schützt. Neben dem mittelalterlichen Dorf mutet die Fabrik der Firma Arkenbouw futuristisch an: Sie besteht aus drei riesigen überdachten Wasserbecken, die durch Schleusen miteinander verbunden sind.

"Wir nennen das unsere Hafen, wir haben eigentlich drei Abteilungen, die erste Abteilung ist der Holzskelettbau …"

Dank der Überdachung des gesamten Baugeländes könne sein Betrieb anders als herkömmliche Bauunternehmen auch bei Regen, Hagel oder Schneesturm arbeiten, erklärt der Direktor von Arkenbouw. Aus diesem Grund sei die Herstellung der schwimmenden Häuser etwas billiger als der Bau eines konventionellen Hauses.

Sein Betrieb gleiche eigentlich mehr einer Autofabrik als einem Bauunternehmen. Über einen Holzsteg betritt Mark van Ommen einen schwimmenden Rohbau. Die Wände des Obergeschosses bestehen überwiegend aus Fensterfronten.

"Das ist Küche, Küchenbereich und Wohnzimmer. Hier kommt auch eine schwimmende Terrasse bei. Wenn Sie möchten, können wir auch nach unten gehen, aber vorsichtig ..."

Das Untergeschoss der Häuser liegt größtenteils unter Wasser. Obwohl die Fensterreihen, die im Untergeschoss knapp über dem Wasserspiegel ansetzen, sehr hoch liegen – sie beginnen erst ab Augenhöhe, reichen dafür aber bis zur Zimmerdecke – ist es auch hier unten erstaunlich hell. Die Raumtemperatur im Untergeschoss sei besonders für Schlafzimmer geeignet, erklärt Mark van Ommen.

"Unter Wasser ist es eigentlich nie ganz heiß oder ganz kalt. Man braucht da kaum zu heizen. Auch im Winter ist das Wasser relativ warm, oben kann es frieren, unten friert's nie."

Der große Erfolg der schwimmenden Häuser habe mit dazu beigetragen, dass sich der Klimawandel in der Wahrnehmung der Niederländer von einer Bedrohung in einen neuen Geschäftszweig mit erheblichem Exportpotenzial verwandelt hätte, meint der aus Tschechien zugewanderte Klimaforscher Pavel Kabat. Ein weiterer Grund für diesen Sinneswandel sei die noch recht junge Erkenntnis der Niederländer, dass nicht nur sie existenziell von den Folgen des Klimawandels betroffen sind:

"In den letzten fünf bis sieben Jahre haben wir plötzlich verstanden, dass die Lage, mit der die Niederlande konfrontiert ist, auch viele andere Regionen der Welt betrifft. 70 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts wird in Regionen geschaffen, die mit der Deltaregion der Niederlande vergleichbar sind."

Acht der zehn größten Städte wie zum Beispiel Tokio, New York, Los Angeles, Bombay, Seoul oder Nigeria liegen an Flachküsten. Die Wachstumsrate der Bevölkerung ist in diesen Metropolen doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt. "Klimawandel als Investitionsmotor" heißt das neue Motto, das für erheblichen Aufwind gesorgt hat.

"Es wird verstärkt in schwimmende Häuser investiert. Firmen beginnen, die Idee zu exportieren. Holländische Experten berieten zum Beispiel die Stadtverwaltung von New Orleans nach der Überschwemmung durch den Wirbelsturm Katrina. Es gibt Gespräche mit Gouverneur Schwarzenegger über neue Pläne für die Küste von Kalifornien.

Es wird also ein wirklich interessantes Geschäft für die Firmen. Das führt dazu, dass der drohende Wasseranstieg in den Niederlanden nicht länger als Bedrohung wahrgenommen wird, sondern einer Aufbruchsstimmung Platz macht. Das passiert gerade auf allen Ebenen."

Schon einmal gelang es den Niederländern, eine Bedrohung in eine Erfolgsgeschichte zu verwandeln. Die Sturmflutwehre der ersten Deltakommission wurden als achtes Weltwunder gefeiert und in Folge zu einer Touristenattraktion.

Lange sonnten sich die Niederländer in ihrem Ruhm und wähnten sich sicher vor dem Unbill des Wassers. Bis die Hiobsbotschaften vom Klimawandel und seinen Folgen das Land überrollten. Doch auch diesmal scheint es ihnen zu gelingen, eine vermeintlich ausweglose Situation in einen Vorteil zu verwandeln.