Traumatische Erlebnisse

Kristin Derfler im Gespräch mit Katrin Heise · 09.11.2011
Im berüchtigten DDR-Frauengefängnis Hoheneck saßen neben Straftäterinnen auch Frauen, die nichts weiter wollten, als die DDR zu verlassen. Viele leiden noch heute unter den Folgen der Haft. Die Drehbuchautorin Kristin Derfler hat ihnen eine Dokumentation und einen Spielfilm gewidmet.
Katrin Heise: Schönen guten Tag, Frau Derfler!

Kristin Derfler: Guten Tag!

Heise: Wenn es um Stasi-Knast geht, dann kennt man Hohenschönhausen, man weiß von Bautzen – warum weiß man eigentlich so wenig von den Schicksalen der Frauen in Hoheneck?

Derfler: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Es liegt wohl daran, dass Hoheneck auch schon zu Zeiten der DDR ein absolutes Tabu war. Es war ja sowieso allgemein nicht üblich, in den Zeitungen, so wie wir es heute gewohnt sind, über Gefängnisse zu schreiben, und insofern war auch Hoheneck ein absolut schwarzer Fleck auf dieser Landkarte.

Heise: Wie sind Sie auf das Thema gestoßen?

Derfler: Ich beschäftige mich seit 1998 intensiv als Drehbuchautorin mit der jüngsten deutsch-deutschen Geschichte. Ich habe schon mal einen anderen Film zu einem Thema geschrieben, zu den Ostseeflüchtlingen, "Spur der Hoffnung", im Jahr 2006 wurde das Buch verfilmt. Und so war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis ich dann auch über das Frauengefängnis Hoheneck gestolpert bin und es mich seitdem auch nicht mehr losgelassen hat.

Heise: Der Spielfilm, der geht ja sehr unter die Haut, eine Geschichte, die fiktiv ist, aber in Grundzügen auch so hätte passieren können. In der Dokumentation, da kommen dann einige Frauen von Hoheneck zu Wort, die das alles erlebt haben, denen zum Beispiel die Kinder weggenommen worden sind, die unter den Folgen der Psychopharmaka noch heute leiden. Bisher haben die Frauen meist geschwiegen. Warum schweigen sie, oder ist das Verdrängung?

Derfler: Ja, Verdrängung, natürlich. Das Schweigen ist ja auch ein sehr zentraler Punkt in dem Spielfilm, das Schweigen der Carola Weber. Ich habe das erst eigentlich mit der Zeit begriffen, warum die Frauen so wenig über diese traumatischen Erlebnisse gesprochen haben und erst recht nicht, wenn sie im Westen waren. Es gab eigentlich zwei Ängste: Eine sehr zentrale war, dass viele Frauen befürchtet haben, im Westen könnten manche denken, na ja, warum ist sie denn wirklich im Gefängnis gewesen?

Es ist ja so, dass diese Frauen eigentlich aus ganz normalen, aus heutiger Sicht bürgerlichen Verhältnissen kamen. Sie hatten eine gute Ausbildung, sie hatten Familien, und nur, weil sie einen Ausreiseantrag gestellt haben oder in den Westen wollten, wurden sie eben so aufs Schärfste verurteilt und kamen in dieses Gefängnis, als Politische, wobei es ja Politische in der DDR offiziell nicht gab, das heißt, sie wurden wie Schwerkriminelle behandelt. Und diese ganzen Erlebnisse, die diese Frauen dort gehabt haben, hat sie wirklich stumm gemacht. Sie konnten nicht darüber reden, zumal sie auch von der Stasi unter Druck gesetzt wurden: Wenn sie erzählen, was ihnen dort widerfahren ist, dann würden weitere Frauen nicht ausreisen können.

Heise: Also das war der Druck, den man damals schon auf sie ausübte. Die Öffentlichkeit heutzutage will wahrscheinlich sich auch gar nicht unbedingt damit beschäftigen. Helfen sich die Frauen eigentlich gegenseitig, gibt es da ein Forum?

Derfler: Ja. Also die Empathie in unserer Gesellschaft für die ehemaligen SED-Opfer ist wirklich gleich null, das muss ich sagen. Aus diesem Grund wohl auch haben sich die Frauen schon vor über 20 Jahren zu einem sogenannten Frauenkreis zusammengeschlossen, in dem sie sich regelmäßig treffen, einmal im Jahr, meistens im November, dann nach Stollberg fahren, dort liegt Hoheneck, und dann noch mal gemeinsam in das Gefängnis hineingehen und sich dieser Leidenszeit erinnern. Es ist auch so, dass jedes Jahr neue Frauen dazukommen, und auch ich habe das mehrfach erlebt – gemeinsam mit dem Regisseur Dietmar Klein, mit dem ich ja auch die Dokumentation gemacht habe –, dass die Frauen dort regelrecht zusammengebrochen sind und wirklich es so ist: Auch wenn es 30, 40 Jahre her ist, sind sie so überwältigt von diesen Erlebnissen, ja, dass sie wirklich mit Gefühlen konfrontiert werden, die sie vermutlich jahrelang irgendwo in sich eingeschlossen hatten.

Heise: Die Drehbuchautorin Kristin Derfler über die Leiden der ehemaligen Inhaftierten im DDR-Frauengefängnis Hoheneck im Deutschlandradio Kultur. Frau Derfler, Carola Weber, so heißt die Frau in Ihrem Spielfilm, die geht ja bis an ihre Grenzen, um eben den Stasiarzt wenigstens dazu zu bringen, dass er seine Untaten zugibt, wenigstens ihr gegenüber. Wie sieht denn das eigentlich in der Realität aus? Sie haben eben von dem Schweigen gesprochen. Gibt es auch Frauen, die den Kampf aufnehmen und da auch Erfolge schon haben?

Derfler: Ja, also in unserer Dokumentation kann man eine solche Frau sehr gut erleben, das ist nämlich die wunderbare Ellen Thiemann, die also wirklich seit Jahrzehnten unermüdlich auch Bücher veröffentlicht hat zu dieser Thematik und unermüdlich auch den Kampf aufnimmt, über 24 Anzeigen gestellt hatte, die allerdings alle verjährt waren, die eingestellt wurden, das heißt, die Täter wurden nie belangt, das ist ihre Erfahrung. Sie gibt diesen Kampf trotzdem nicht auf, und sie sagt auch den sehr schönen Satz in unserer Dokumentation: "So lange wir leben, werden wir reden."

Heise: Sie sagt aber beispielsweise auch: "Die, die uns gequält haben, wenn die uns heute erneut angreifen" – was meint sie damit? Meint sie damit, dass der lange Arm der Stasi immer noch wirkt?

Derfler: Nun ja, das nicht unbedingt, also das hat eher etwas damit zu tun, dass heute Täterschutz vor Opferschutz geht, also das heißt, die Folgen des Einigungsvertrages haben ja auch dazu geführt, dass die ehemaligen Täter mehr oder weniger problemlos von einem System ins andere wechseln konnten, das heißt, sie haben eigentlich ihre Karrieren, die sie schon zu SED-Zeiten wunderbar begonnen hatten, im Westen fortsetzen können oder im wiedervereinigten Deutschland. Und das ist etwas, was natürlich für die Frauen zu einer Fortsetzung dieser Traumatisierung führt, das heißt: Sie haben einen hohen Preis dafür gezahlt, dass sie ursprünglich für Demokratie und Freiheit eingetreten sind, und diejenigen, die damals dieses Unterdrückersystem maßgeblich unterstützt haben, sind eigentlich die Profiteure der Wiedervereinigung.

Heise: Kann man das besonders bei den eben thematisierten Ärzten sagen? Weil davon ist eigentlich relativ wenig bekannt.

Derfler: Die Ärzte sind natürlich eine Gruppe, eine bestimmte Gruppe. Das geht ja durch alle Gesellschaftsschichten durch, also ob das jetzt Lehrer sind, ob das Richter sind, ob es … Tja, also ich möchte mich da gar nicht zu ausführlich äußern, das weiß ja jeder selber. Und die Ärzte sind eben auch eine sehr entscheidende Gruppe. 3 bis 5 Prozent aller Ärzte haben nachweislich für die Stasi gearbeitet. Jetzt kann man sagen, gut, es sind nur 3 bis 5 Prozent, aber wenn man das hochrechnet, sind es eben doch mehrere Hunderte, die da zusammenkommen, die im Dienste der Staatssicherheit tätig waren und ganze Familien zerstört haben, indem sie Patientengespräche an die Staatssicherheit weitergegeben haben.

Heise: Ganz besonders auffällig ist jetzt: Heute in der "Bild"-Zeitung steht ein Artikel, wo einer der Darsteller im Film – im Film ist er ein ehemaliger Stasi-Offizier – im wirklichen Leben auch Stasi-Spitzel war. Die Rede ist von dem Schauspieler Ernst-Georg Schwill. Wie kam es dazu?

Derfler: Ja, ich habe gestern diese Meldung gehört und erfahren, und ich war natürlich auch entsetzt, als ich das vernahm. Auf der anderen Seite sage ich natürlich auch, genau darum geht es ja in unserem Film: Es geht ja auch um die verdrängte Schuld, also dass die alle weiterleben und arbeiten und machen und tun, ohne vielleicht auch mal darüber zu reflektieren, was früher war und was heute ist, und das ist ja ein ganz wesentlicher Teil in diesem Film. Und jetzt, kann man natürlich sagen, hat die Wirklichkeit unseren Film eingeholt oder der Film die Wirklichkeit, jetzt muss man diese unangenehmen, wirklich sehr unangenehmen Wahrheiten aushalten, und darum geht es ja auch: Ist unsere Gesellschaft in der Lage, eben auch diese unangenehmen Wahrheiten auszuhalten? Wie geht sie damit um, und wie stellt man sich dazu und sagt, ja, selbst die eigenen Reihen sind jetzt davon nicht verschont geblieben, was wirklich eine dramatische Ironie der ganzen Geschichte ist? Aber so ist es, das ist eben die Wahrheit, das gehört eben auch dazu.

Heise: Also quasi auch das wieder so ja fast als Chance nutzen, Aufarbeitung ernsthaft zu betreiben?

Derfler: Ja, genau, also weil man einfach merkt: Es ist eben nicht nur Fiktion, sondern es ist plötzlich eine Realität, die da hereinbricht, die für alle natürlich erst mal sehr konsternierend ist. Und glauben Sie mir, also allen geht es so, dass … ja, niemand hat damit in dieser Weise gerechnet, und auch, wenn es heißt, es ist bekannt gewesen – ja, gut, es gibt auch andere Dinge, die bekannt sind, über die nicht geredet wird. Da könnte man noch ganz anders hingucken. Und wenn man sich die Diskussion jetzt in Brandenburg anschaut über die 13 ehemaligen Stasi-Richter, merkt man: Das ist doch nur sozusagen die Spitze des Eisbergs.

Heise: Eine Diskussion, der wir uns auf jeden Fall immer wieder stellen müssen. Die Drehbuchautorin Kristin Derfler zur Aufarbeitung und über das Frauengefängnis Hoheneck, die Opfer und eben die nicht erfolgte Aufarbeitung. Danke schön, Frau Derfler, für das Gespräch!

Derfler: Ich danke Ihnen!

Heise: Der Fernsehfilm "Es ist nicht vorbei", der läuft heute Abend um 20.15 Uhr im Ersten, gleich im Anschluss dann um 21.45 Uhr folgt die Dokumentation "Die Frauen von Hoheneck".

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Links auf dradio.de:

Es ist nicht vorbei - Die ARD zeigt einen Fernsehfilm über das Trauma Hoheneck
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