Traumatherapeut: Schockzustand lässt kein Schuldeingeständnis zu

Thomas Weber im Gespräch Matthias Hanselmann · 06.08.2010
Der Traumatherapeut Thomas Weber sieht den Grund dafür, dass keiner der Verantwortlichen nach der Duisburger Loveparade seine Mitschuld an der Katastrophe eingestanden hat, in der Ausnahmesituation.
Matthias Hanselmann: Fritz Pleitgen, der ehemalige Intendant des WDR, ist Chef der RUHR.2010 und hat die Aufgabe, die Kulturhauptstadt Essen und das ganze Ruhrgebiet weltweit bekannt zu machen. Als die Katastrophe von Duisburg passierte, hat er neben Adolf Sauerland in der Leitstelle der Feuerwehr in Duisburg gesessen, und Pleitgen sagte über Sauerland, er habe dagesessen wie ein Häufchen Elend. Vielleicht, so Pleitgen, hätte man ihm einen der Notfallseelsorger zur Seite stellen sollen. Ich habe mit dem Psychologen und Traumatherapeuten Thomas Weber gesprochen, der unter anderem nach dem Amoklauf von Winnenden als Betreuer der Angehörigen und Freunde der Opfer tätig war. Ich wollte von ihm wissen, ob er diesen Gedanken Fritz Pleitgens nachvollziehen könne und in welcher psychischen Lage sich eigentlich Entscheidungsträger wie Sauerland befinden.

Thomas Weber: Eine Person, die in einer solchen Entscheidungsnot ist beziehungsweise ein solches Ereignis gerade miterlebt hat, ist genauso geschockt wie alle Beteiligten, die im Prinzip direkt von dem Ereignis betroffen worden sind. Das heißt, man erwartet hier eigentlich dann von einer solchen Führungsposition Klarheit und klare Entscheidungen, die er eigentlich aufgrund der Schocksituation gar nicht geben kann.

Hanselmann: Das heißt, Sie haben begrenzt Verständnis dafür, dass ein Mensch in so einer Situation schlicht und ergreifend aussteigt?

Weber: Viele Menschen können nicht mehr, das heißt, es überfordert die normalen Bewältigungsmöglichkeiten, die Ohnmacht und Hilflosigkeit, wie ein solches Ereignis natürlich gravierend sozusagen auf den Menschen einwirkt, führt auch hier dazu, dass eigentlich die normalen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert sind und nicht mehr ausreichen.

Hanselmann: Hätte denn zum Beispiel Ihre Anwesenheit in der Situation einen Sinn gemacht?

Weber: Wir hätten beruhigen können. Wichtig ist vor allen Dingen in der Situation, dass wir mit den Betroffenen diese Situation aushalten. Also man kann durchaus davon ausgehen, dass aufgrund der Schocksituation die Menschen in der Situation auch unberechenbar sind, eigentlich nicht mehr handlungsfähig sind.

Hanselmann: Ist Ihnen ein Fall bekannt aus Ihrer eigenen Praxis, wo ein Entscheidungsträger - wo auch immer - von sich aus nach solcher Hilfe gefragt hat?

Weber: Das kommt durchaus relativ selten vor, weil natürlich der Betroffene selbst versucht erst mal zu agieren. Das heißt, wir neigen in diesen Situationen, wo wir tatsächlich überfordert sind, entweder dazu zusammenzubrechen oder tatsächlich dann einfach zu agieren. Das heißt, viele Betroffene versuchen, erst mal durch einen Handlungssturm sozusagen das Geschehene in den Griff zu bekommen, und merken erst später, wie betroffen sie eigentlich tatsächlich selbst sind.

Hanselmann: Das heißt, Sie halten es fast für undenkbar aus der psychologischen Situation eines Mannes wie Sauerland heraus, dass er in dieser Situation um Hilfe bittet?

Weber: Es ist schwierig, weil wie gesagt, wir neigen dazu sozusagen, dann natürlich sofort nach den Verantwortlichen zu schreien. Tatsache ist, dass diese Personen, die gerade mit ansehen mussten, wie Menschen ums Leben gekommen sind, in der Situation genauso geschockt sind wie alle anderen auch. Das heißt, auch diese Menschen sind eigentlich nicht mehr in der Lage, tatsächlich sachgerecht zu entscheiden.

Hanselmann: Herr Weber, dieser spontane Reflex, in so einer Situation zu sagen, ich habe nichts damit zu tun, ich habe keine Schuld, hat der eine ganz bestimmte psychische Ursache, die verständlich ist?

Weber: In vielen Fällen, weil es ist tatsächlich hier der Ausdruck sozusagen, dass man tatsächlich dieses Trauma erst mal nicht an sich heranlassen will. Es ist wie so ein Reflex, weil tatsächlich das Schuldeingeständnis einen im Prinzip in diesem Moment fertigmachen würde. Man würde es nicht verkraften.

Hanselmann: Das heißt, die spontane Reaktion und die spontane innere Haltung zu dem Geschehen ist für Sie nachvollziehbar?

Weber: Die Person steht unter Schock, das heißt, alles, was eine Person in einer solchen psychischen Ausnahmesituation sagt, darf tatsächlich in dieser Situation nicht auf die Goldwaage gelegt werden.

Hanselmann: Warum genauer eigentlich ersucht so ein Mensch keine Hilfe? Ich will es noch mal ein bisschen genauer wissen: Nehmen wir an, er würde sagen, ich bin völlig überfordert gewesen, ich bin mit der Lage nicht klargekommen, mich haben die Todesfälle so erschüttert, dass ich zurücktrete und mir therapeutische Hilfe hole, ich meine jetzt nach den Vorgängen – hätte die Öffentlichkeit dafür nicht letztlich mehr Verständnis aufgebracht, oder sind wir noch nicht so weit?

Weber: Das überfordert aber erst mal den psychischen Apparat generell. Trauma bedeutet, wir verlieren die Handlungskontrolle und wir versuchen in einer solchen Extremsituation die Handlungskontrolle auf Teufel komm raus wieder aufrechtzuerhalten. Wir versuchen sozusagen, dem entgegenzuarbeiten, wir bilden uns zumindestens ein, dadurch sozusagen das Trauma auch ein Stück weit abwenden zu können. Es ist eine Überforderung des Systems. Also hier gibt es keine Schuldvorwürfe, weder für den Betroffenen selbst als auch für das Umfeld. Es ist ganz einfach so: Wir schreien hier nach Handlung, wo eigentlich keine Handlung in der Form eventuell möglich sein kann.

Hanselmann: Ist eigentlich für traumatisierte Entscheidungsträger in den Institutionen oder in den Firmen etwas vorgesehen? Einfaches Beispiel, nehmen wir einen Flugkapitän, der überlebt hat einen Absturz, selbst schuld ist daran und viele Passagiere haben nicht überlebt – kümmert sich jemand um ihn, zum Beispiel ein Therapeut seiner Airline oder Ähnliches?

Weber: Das wird versucht, es gibt Unterstützungssysteme. Das Wichtige ist nur vor allen Dingen, dass wir alle einen langen Atem haben, weil gerade diese Entscheidungsträger meistens erst nach einer längeren Zeit tatsächlich diese Hilfe auch annehmen können.

Hanselmann: Sie haben selbst Betroffene des Amoklaufes von Winnenden betreut, ich habe es vorhin gesagt, hat sich eigentlich auch jemand psychologisch um die Eltern des Amokläufers gekümmert?

Weber: Die Betreuung ist sichergestellt worden, die Betreuung lief allerdings durch andere Psychologen, die ist nicht durch die Psychologen erfolgt, die sich um die Opfer gekümmert haben.

Hanselmann: Letzte und glaube ich entscheidende Frage: Gibt es überhaupt psychologische Experten für traumatisierte Entscheidungsträger, speziell ausgebildete Therapeuten?

Weber: Speziell für diesen konkreten Fall nicht, weil auch hier tatsächlich die gleichen Mechanismen wirken wie bei allen anderen Opfern auch. Wichtig ist nur tatsächlich auch hier, dass dieser Entscheidungsträger in der Situation adäquat aufgefangen wird. Es bedarf sehr viel Erfahrung, weil natürlich der Entscheidungsträger durchaus auch schwieriger im Gespräch zu erreichen ist als andere Opfer.

Hanselmann: Schocksituationen auch bei Entscheidungsträgern. Das war Thomas Weber, der nach den Amokläufen von Erfurt und Winnenden als Traumatherapeut tätig war.
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