Trauma-Therapeutin: Nicht die Opfer aus dem Blick verlieren

Sybille Jatzko im Gespräch mit Ulrike Timm · 01.08.2011
Herzrasen, Panikattacken und Schlaflosigkeit seien Folgen, unter denen traumatisierte Menschen leiden, sagt die Therapeutin Sybille Jatzko. Wichtig sei eine Unterstützung aus dem privaten wie gesellschaftlichen Umfeld auch Jahre nach dem entsetzlichen Erlebnis.
Ulrike Timm: In Oslo wurden am Wochenende die ersten Opfer beerdigt. Es gab ein großes Gedenkkonzert, verbunden mit Dank an die Rettungskräfte. Die Stadt ist nach wie vor voller Blumen, aber die Cafés sollen nicht mehr ganz so gähnend leer sein wie noch vor ein paar Tagen. Irgendwie muss man sich aus der Schockstarre ja auch lösen. Aber was ist mit denen, die davongekommen sind? Die jungen Leute von Utöya, neben denen jemand erschossen wurde, die sich in Todesangst totgestellt haben oder die durchs eiskalte Wasser geflohen sind? Darüber spreche ich jetzt mit der Traumaexpertin Sybille Jatzko, eine der Erfahrensten ihres Faches. Sie hat nach der Loveparade in Duisburg, nach dem Attentat aufs Erfurter Gutenberg-Gymnasium und nach dem Seilbahn-Unglück von Kaprun versucht, den Opfern zu helfen. Guten Morgen, Frau Jatzko!

Sybille Jatzko: Guten Morgen, Frau Timm!

Timm: Diese Menschen, die direkt Davongekommenen, die erleben den Schrecken ja wieder und wieder in Träumen, in Gedankenkreiseln. Bleibt die Zeit für sie stehen?

Jatzko: Es bleibt die Zeit für sie stehen und sie werden, oder viele von ihnen werden sagen, ab jetzt ist mein Leben völlig anders, als ich es vorher gelebt habe. Sie haben plötzlich Unsicherheit, alles, alles, was jetzt im Leben passiert, ist plötzlich unsicher. Sie werden plötzlich Herzklopfen kriegen, Herzrasen, sie können nicht mehr schlafen, sie kriegen plötzlich Panikattacken, manchmal wissen sie gar nicht, warum und weshalb. Die Sicherheit wiederzufinden, ist eigentlich das oberste Gebot und fällt den meisten am allerschwierigsten.

Timm: Der Täter trug die Uniform eines Polizisten und gewann damit Vertrauen. Also, welche Reaktionen sind denn dann denkbar, wenn diese überlebenden Jugendlichen von Utöya ja künftig mit einem Polizisten zu tun haben, der zum Beispiel den Verkehr regelt oder sie darauf anspricht, dass die Fahrradlampe nicht richtig leuchtet? Was ist da denkbar?

Jatzko: Da kann plötzlich wieder Panikattacke auftreten, Herzklopfen, dass sie Angst haben, sie müssen weggehen, werden vielleicht sogar aggressiv. Das heißt, die Jugendlichen haben genau die Person, die sie normalerweise als hilfreich und vertrauensvoll erlebt haben, plötzlich als einen bedrohlichen Menschen, der ihnen das Leben nehmen kann, kennengelernt. Und alles, was mit diesen Menschen jetzt verbunden ist, ist natürlich auch in ihrer inneren Welt konditioniert als gefährlich. Das wieder umzustimmen und langsam wieder Vertrauen zu gewinnen, das braucht sehr viel Zeit, da brauchen sie Begleitung drin, Traumatherapie und Unterstützung, dass sie diese Sicherheit eigentlich wiederfinden.

Timm: Vergessen kann man solche Bilder nie, mit oder ohne psychologische Hilfe. Was kann denn in diesen Fällen Verarbeitung wirklich bedeuten, welches Ziel steckt sich zum Beispiel eine Traumatherapie?

Jatzko: Die Traumatherapie steckt sich das Ziel, dass man all die auslösenden Mechanismen, die ein Flash-back, ein inneres Wiedererleben dieser Situation, dass man diese kennenlernt. Und wenn man die kennengelernt hat, dann kann man auch damit umgehen lernen, Bewältigungsmechanismen finden. Wir sagen, Traumatherapie oder das Trauma ist dann verarbeitet, wenn wir es in unseren Lebenskontext so integriert haben, dass es das Leben eines jungen Menschen, eines älteren Menschen nicht mehr bestimmt. Dass sie bestimmen, was mit diesen plötzlichen Fantasien und plötzlichen Unsicherheiten, was sie tun können und wie sie es bewältigen. Das ist das Wichtige, ansonsten fühlen sich immer wieder die Menschen von dem Trauma bestimmt, sie kriegen plötzlich Panikattacken, sie kriegen plötzlich Herzklopfen, sie kriegen Schweißausbrüche, sie können überhaupt nicht mehr schlafen, sie können sich auch in eine Gesellschaft nicht mehr richtig integrieren, Depressionen tauchen auf. Also, es ist eine folgenreiche Erkrankung, die wirklich der Behandlung bedarf.

Timm: Das klingt, als solle man Regisseur werden über die eigenen Bilder, die in einem ablaufen.

Jatzko: Ja, genau.

Timm: Ist das denkbar, dass man, so jemand, der so etwas gesehen, so etwas erlebt hat, in ein paar Jahren oder, keine Ahnung, in welchem Zeitraum, den Film dann einfach ausknipst und sagt, Kino-Ende, ich geh da weg, ist das denkbar?

Jatzko: Ja, na, Kino ausknipsen wird man nicht, die Menschen werden immer wieder damit konfrontiert sein, auch mit den Folgen, auch mit den Stimmungsschwankungen, auch mit der plötzlichen Aggressivität, mit der geringeren Belastbarkeit, mit der Konzentrationsstörung, mit der werden sie immer wieder konfrontiert werden. Aber in einer Behandlung können sie lernen, damit umzugehen, sie können lernen, es zu bewältigen, sie können lernen, Bewältigungsmechanismen zu finden. Und das oberste Gebot, das Wichtigste ist eigentlich die verständnisvolle Unterstützung im sozialen Netz, von vielen anderen Menschen, auch wenn nach einem halben Jahr jemand erst plötzlich mit Schlaflosigkeit anfängt, der sogenannte verzögerte Beginn, dass die Menschen dann auch Gehör finden, Unterstützung finden, und nicht, dass die Gesellschaft dann sagt, es ist ja ein Jahr rum, jetzt muss es bewältigt sein. Nein, es dauert für die Jungendlichen länger, es wird Jahre dauern.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit Sybille Jatzko, einer der erfahrensten Traumatherapeutinnen. Frau Jatzko, Unterstützung scheinen die Jugendlichen ja gesellschaftlich jede Menge zu finden, man zeigt ihnen bei jeder Gelegenheit, dass man zueinandersteht. Nun heißt es aber, es sei nicht nur die sozialdemokratische Jugend getroffen, sondern ganz Norwegen. Gibt es so etwas wie ein nationales Trauma, psychologisch gesehen?

Jatzko: Na ja, ich würde es nicht als Trauma bezeichnen, weil das ja individuell, dieses Trauma, wirklich mit Lebensbedrohung einhergeht. Aber es ist eine schwere Belastung, es ist auch eine schwere Belastung für ein ganzes Volk. Wir müssen uns vorstellen, dass hier der Dirigent dieses Orchesters, dieses Volksorchesters auch den Takt vorgibt. Das heißt also, wenn von ihm ein Takt vorgegeben wird, lasst uns zusammenrücken, lasst uns untereinander uns unterstützen, achtet aufeinander, nehmt Abschied von Vorurteilen, wenn dieser Takt eines Dirigenten vorgegeben wird, dann ist die Chance sehr groß, dass diese Kräfte gefördert werden, dass letztendlich ein Volk auch diese Musik dann spielt. Man weiß ja, dass psychiatrische Veränderungen, wie sie hier bei diesem Täter eben vorhanden sind, dass die auch in einem Volk, in jedem Volk immer wieder vorkommen und davor werden wir uns in gewissem Sinne auch nicht richtig schützen können.

Timm: Der Dirigent, den Sie meinen, das wäre in diesem Fall Ministerpräsident Stoltenberg, ...

Jatzko: ... ja ...

Timm: ... der ja sehr offen ja nicht nur gezeigt hat, wie ihn das traf, sondern dass er es schlicht auch nicht unterdrücken konnte und wollte.

Jatzko: Ja, ganz genau. Er ist der Dirigent und er gibt letztendlich diesen Takt vor. Und das hat was damit zu tun, welche Kräfte man in einem Volk jetzt fördert und welche Kräfte man unterstützt. Eben Demokratie wagen, eben zusammenrücken, eben uns gegenseitig unterstützen und nicht wilder Aktionismus, man muss sofort ein Volk wieder schützen können. Nein, es muss ja auch genau untersucht werden, es muss genau angeschaut werden und dann wird man immer noch entdecken, wo und an welchen Enden man letztendlich auch ein Volk schützen kann. Aber dass ein Volk sich unterstützt und sich hört und wieder zusammenrückt und toleranter wird, dass wir eben auch Andersdenkende integrieren, das ist die große Chance, die dieser Dirigent als Takt letztendlich auch vorgibt und diese Stimmen fördert.

Timm: Sich unterstützen ist das Eine, das machen die Norweger in einer Weise, die, glaube ich, die Welt ziemlich bewundert. Die politischen Fragen, die man dann stellen muss aus der Psychologie heraus sind das andere, denn ob der Täter wirklich wahnsinnig war oder ob er eine sehr merkwürdig gesteuerte, vielleicht nicht verstehbar gesteuerte Intelligenz besessen hat, das wissen wir ja noch nicht.

Jatzko: Genau. Und weil man das eben noch nicht weiß und weil man das sich ganz genau angucken muss, weil man das analysieren muss, genau deswegen ist es jetzt wichtig, einen bestimmten Takt vorzugeben, der immer wieder nach Erkenntnissen dann korrigiert werden kann, sodass dann das Volk mit Toleranz und mit Offenheit und mit Transparenz dann auch Bescheid weiß, worum es sich wirklich gehandelt hat. Aber wichtig ist, dass man jetzt nicht einen Takt von Angst vorgibt, sondern von nein, wir können uns schützen, wir können aufeinander aufpassen, wir können uns untereinander auch tragen und können toleranter werden. Das halte ich für sehr wichtig und dass man der genauen Analyse Zeit gibt, die sie braucht, um die Erkenntnisse zu erlangen, die letztendlich dann nachher auch in Aktionen ein Volk wirklich schützen kann.

Timm: Im Fokus der Berichterstattung außerhalb Norwegens stand in den vergangenen Tagen ganz klar der Täter. Hat Sie das eigentlich geärgert oder ist das selbst eine psychologische Faszination, die eben von diesem böse schillernden Täter schlicht ausgeht?

Jatzko: Ach, geärgert hat es mich nicht, nur mein Herz schlägt natürlich immer auf der Seite der Opfer. Aber es ist so, dass wir natürlich alle versuchen wollen zu verstehen, wie hat so ein Täter gedacht und was für Motivationen haben ihn dazu getrieben, dass er so gehandelt hat, so entsetzlich gehandelt hat, um das zu verstehen, denke ich. Und da haben viele sich natürlich auch um den Täter gekümmert, um das zu analysieren. Aber wir dürfen niemals aus dem Blick die Opfer verlieren und da unsere Kräfte sammeln und da Unterstützung und Support geben.

Timm: Haben Sie eine zeitliche Vorstellung, wie lang es dauert, bis eine Nation aus einem Schockzustand wirklich wieder herauskommt?

Jatzko: Also, eine Zeitvorstellung habe ich ganz sicher nicht. Also, ich denke, es wird auch immer sehr unterschiedlich sein, die Menschen, die stärker betroffen sind, für die wird es ja viel länger dauern, weil sie auch mit diesen Menschen zu tun haben, andere wiederum werden mehr durch die Medien ihre Information beziehen und werden dann auch etwas schneller wieder zur Normalität zurückkommen. Also, ich denke, da in diesem Falle ja sehr viele Familien betroffen sind und sehr viele Jugendliche sind, werden auch sehr viele Familien und sogar auch sehr viele Gemeinschaften eher länger brauchen, um die Normalität des Lebens wiederzufinden. Aber das, denke ich, das hängt natürlich an der Menge der Menschen.

Timm: Die Traumatherapeutin Sybille Jatzko im Gespräch hier im "Radiofeuilleton" von Deutschlandradio Kultur. Frau Jatzko, ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Jatzko: Ich danke schön, Frau Timm!

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