Traum von der Reformation im Weltformat

Von Andreas Malessa |
Der Münchner Soziologie-Professor Ulrich Beck schrieb 1986 ein Buch, das als Meilenstein gelten darf: "Die Risiko-Gesellschaft". Letztes Jahr folgte "Die Welt-Risiko-Gesellschaft", ein Werk, in dem er die Folgen der Globalisierung für unseren Begriff von Gleichheit aller Menschen reflektierte. Nun hat Beck Chancen und Risiken religiöser Individualisierung untersucht.
Individualisierung zwingt zur Wahl, damit zum Vergleichen, zur Wanderung, zum Liebäugeln mit dem Ketzertum, dem Atheismus, der Konversion. Zwei von drei französischen Teenagern aus katholischen Familien haben nie eine Messe besucht, andrerseits kennen sie zweifellos Filme wie "Little Buddha" oder "Sieben Jahre Tibet". Gut möglich, dass sie mit dem Evangelium erstmalig durch ein populäres Musical konfrontiert wurden. Es kommt zu "Polygamien des Religiösen", zu einem Glauben-ohne-Kirchenmitgliedschaft und - neben der Mitgliedschaft-ohne-Glauben - zu einer "multiplen Glaubensbindung trotz Kirchenmitgliedschaft."

Das hat jeder Dorfpfarrer auch schon beobachtet und mit dem abschätzigen Begriff "Patchwork-Religiosität" oder "Hape-Kerkeling`sche Glaubens-Melange" belegt. Ulrich Beck nun, tief bewegt von den Tagebüchern der holländischen Jüdin Etty Hillesum, die von 1941 bis zu ihrer Ermordung 1943 sehr intime schriftliche Gespräche mit einem Gott führt, der weder der Juden- noch der Christengott ist - Ulrich Beck geht der Herkunft dieser "Individualisierung Gottes zum eigenen Gott" auf den Grund.

Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms, der sein Gewissen - ermächtigt durch den "eigenen Gott" - den kollektiven Autoritäten gegenüberstellt, setzt Grenzen: Er bindet die Unmittelbarkeit Gottes an die Unmittelbarkeit des Wortes Gottes. Der "eigene Gott" Luthers ist also keineswegs der "Bastel-Gott" des 21. Jahrhunderts, sondern der sich in der Heiligen Schrift offenbarende "eigene" und "einzige" Gott. Folglich ist auch der Protestantismus dazu gezwungen, eine klare und notfalls blutige Trennungslinie zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu ziehen.

Und um diese Trennungslinie geht es. In der katholischen Kirche und bei den Evangelikalen sowieso, im Judentum auch und im Islam vielerorts mit den Mitteln staatlicher Gewalt oder religiösen Terrors. Um dieses "Gewaltpotenzial", wie es im Untertitel des Buches heißt, zu entschärfen, müsse eine "institutionalisierte Individualisierung" voranschreiten, meint Ulrich Beck und zitiert dazu den Philosophen Emile Durkheim, der schon 1986 beobachtete:

"Alles spricht nun dafür, dass die einzig mögliche Religion der Menschheit diejenige sei, deren rationaler Ausdruck die individualistische Moral ist. So bewegt man sich Schritt für Schritt auf einen Zustand zu, der jetzt schon fast erreicht ist und in dem die Mitglieder derselben gesellschaftlichen Gruppe nichts Gemeinsames mehr haben werden außer ihrer Eigenschaft als Mensch. Das zeigt, wie der Mensch ein Gott für den Menschen geworden ist. Die Idee der Heiligkeit des Individuums, die der Individualisierung zugrunde liegt, besagt: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen geworden."

Und das wäre das Ende aller religiösen Institutionen, oder nicht? Ulrich Beck hält sich dankenswerterweise nicht bei den inflationär gewordenen Beteuerungen religiöser Führer zu Toleranz und Koexistenz auf. Er verdammt auch nicht im Gestus atheistischer Empörung das angeblich nur schlummernde Gewaltpotenzial jedes Christen, Juden oder Muslim, der eine Überzeugung hat. Sondern Ulrich Beck will die weltreligiösen Konflikte "zivilisieren" und träumt von nicht weniger als einer "neuen religiösen Reformation im Weltformat".

Was Religionen und Kirchen - befangen in ihrem religiösen Wahrheitsanspruch - nicht nur für moralisch verwerflich, sondern für logisch ausgeschlossen halten, wird hier praktiziert. In der nomadischen Suche nach religiöser Transzendenz sind die Individuen beides zugleich: Gläubige und Ungläubige. Ja, der Sinn des "eigenen Gottes" liegt ja gerade in dieser Feindesliebe als religiöser Horizonterweiterung.

Die gewaltträchtige Spaltung zwischen Gläubigen und Ungläubigen wird unterlaufen. Die "Ungläubigen" werden zum integralen Bestandteil der eigenen Glaubenserfahrungen. Erst so wird erkennbar, was sich im Zusammenspiel von alten und neuen Religionen und Bewegungen ereignet, nämlich nicht weniger als eine "religiöse Reformation im Weltmaßstab". Was wohl Luther dazu sagen würde?

Das können wir den Reformator aus Wittenberg nicht mehr fragen. Aber der Soziologe aus München knapp 500 Jahre später, Ulrich Beck, muss sich nach diesem ebenso klugen wie streitbaren Buch fragen lassen : Was ginge der Weltkultur und Weltgesellschaft verloren, wenn es keine gemeinsamen Religionspraktiken und -institutionen mehr gäbe, sondern nur noch lauter "institutionalisierte Individualisten" ihre gläubig-ungläube Menschheitsvergottung praktizierten?

Auf gemeinsamen Überzeugungen und Erfahrungen basierende Kirchen und religiöse Gemeinschaften mögen tatsächlich ein "Gefahrenpotential" in sich bergen. Sie bergen aber auch ganz praktisch die Möglichkeit, riesige Sozialwerke, diakonische Dienstleistungen und Rettungsmaßnahmen zu betreiben. Sie üben als Institution politischen Einfluss aus, auch im humanisierenden Sinne. Ein nur mit sich in religiöser Einigkeit stimmiger Individualist und sein "eigener Gott" können das nicht.

Ulrich Beck: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen
Verlag der Weltreligionen, Insel-Verlag Frankfurt & Leipzig 2008,
275 Seiten, 19,80 Euro