Trauerkultur im Wandel

Kuscheltier und Kraniche statt Kreuze

Grabsteine auf dem Alten Friedhof von Schwerin, aufgenommen am Donnerstag (16.11.2006). Am Sonntag (19.11.2006) wird in Deutschland der Volkstrauertag begangen. Traditionell wird an diesem Tag zwei Wochen vor dem ersten Advent der Toten beider Weltkriege und der Nazi-Opfer gedacht.
Auf Friedhöfen gelten strenge Regeln für das Trauern - doch außerhalb davon setzen sich die Menschen über diese Regeln hinweg © picture-alliance/ dpa-ZB / Jens Büttner
Von Michael Hollenbach · 20.11.2016
Über Jahrhunderte hinweg diktierte die Kirche den Menschen ihre Trauerrituale. Doch jetzt findet ein fundamentaler Wandel statt: Die Menschen erobern sich ihre Trauer zurück. Sie drücken sie aus, wie es ihnen gefällt - und das nimmt bisweilen ganz eigene Züge an.
25. März 2015. Ein Flugzeug von Germanwings zerschellt an einem Berg in den französischen Alpen. Unter den 150 Toten sind auch 16 Schülerinnen und zwei Lehrerinnen des Joseph König Gymnasiums in Haltern. Ulrich Wessel ist der Direktor dieser Schule. Er steht in seinem Büro und zeigt auf den Schulhof. Dort erinnerten damals neben den Kerzen auch viele Fotos an die Verstorbenen:
"Es waren hier vor meinem Fenster ein ganz großes Lichtermeer, 300 Quadratmeter groß. Und ich fand diesen Gedanken fast ein wenig tröstlich, dass jeder sah, er ist nicht in seiner Trauer allein, sondern die gesamte Stadt Haltern trauert mit."
Auf dem Schulhof führt heute eine Reihe von Bäumen zu einer Stahltafel mit den Namen der Verstorbenen.
"Die 18 Bäume sind 18 japanische Kirschen, weil in der japanischen Mythologie ist die Kirsche auch ein Zeichen des wiederkehrenden Lebens. Und der Stahl ist Cortenstahl, das ist ein Stahl, der anrostet, aber nicht verrostet. Und das ist ein Zeichen der Vergänglichkeit, der Stahl, und die Namen sind herausgeschnitten, die fehlen ja eigentlich. Und so wie die Namen fehlen, so fehlen auch die Kinder."

Kirschbäume aus der japanischen Mythologie

Im zweiten Stock dient ein ehemaliger Kursraum nun dem Gedenken an die Verstorbenen. Auf den Tischen Fotos, erloschene Kerzen, Erinnerungsstücke. Nicht bei allen Dingen ist der Bezug zu Tod und Trauer sofort erkennbar. In der Mitte des Raumes liegen auf dem Boden blaue gebastelte Papiervögel:
"Da wundert man sich ja, was das ist: 1000 Kraniche, von einer Schule in den USA. Es gibt eine Sage, wenn jemand 1000 Kraniche faltet, hat er von den Göttern einen Wunsch frei. Und der Wunsch ist natürlich, dass die Kinder zurückkommen. Ach Gott, es ist ein bisschen schräg."
Früher symbolisierte vor allem das christliche Kreuz Tod und Auferstehung. Heute gibt es Kirschbäume aus der japanischen Mythologie; Stahl, der Vergänglichkeit symbolisiert; Papierkraniche und einen freien Wunsch bei den Göttern.
Hans-Jürgen Ludwig weiß um den Wandel der Trauerkultur. Er ist Pastoralreferent der katholischen Kirche in Haltern. Bis heute begleitet er einige der betroffenen Eltern.
"Hilflosigkeit und Ohnmacht ist das, womit wir Menschen am schlechtesten umgehen können. Und so versucht man, einen Ausdruck zu finden für den inneren Schmerz."
Deshalb ist es Ulrich Wessel auch wichtig, den jugendlichen Hinterbliebenen Angebote zu machen, damit sie sich mit ihrer Trauer nicht einigeln. In den Ferien ist der Schulleiter mit einer Schülergruppe in die französischen Alpen gefahren - zu jener Stelle in Seyne les Alpes, an der das Flugzeug am Berg zerschellte.
"Ich glaube, dass der Ort wichtig ist, weil das wirklich der Ort ist, an dem die Kinder zuletzt waren, und das mag auch der Grund sein, warum der Ort den Eltern so wichtig ist."
Gerold Eppler: "Der Ort, wo ein Mensch ums Leben kam, ist immer ein besetzter Ort. Das ist in unserem Unterbewusstsein verankert, und von daher haben diese Orte auch eine entsprechende Bedeutung. Man könnte schon fast sagen: eine magische Bedeutung, weil man vielleicht glaubt, dass der Verstorbene in irgendeiner Art und Weise da noch wirkt."
Gerold Eppler ist Leiter des Museums für Sepulkralkultur in Kassel, ein Museum, das sich mit den letzten Dingen beschäftigt. Bestimmte Orte, an denen ein Mensch – zum Beispiel bei einem Unfall - ums Leben gekommen ist, werden in der Trauerkultur immer wichtiger.
"Es hat sich ein Bedürfnis Bahn gebrochen, das zuvor offenbar unterdrückt werden musste", ...
... sagt der Kulturhistoriker Norbert Fischer.
"Es hat verschiede Katalysatoren gegeben. Ich denke, ein entscheidendes Ereignis war die Trauer um Lady Diana 1997 nach ihrem tragischen frühen Unfalltod. Ich denke, der erste weltweit medial inszenierte Trauerfall. In Norddeutschland spielte dann der Tod des Fußballtorwarts Robert Enke eine wichtige Rolle, wo nicht nur eine ganze Stadt, sondern ein ganzes Land mitgetrauert hat. Es scheint mir, dass diese Anlässe den Menschen Möglichkeiten geben, die Gefühle auch zu zeigen, die sie eigentlich in sich tragen."

Den eigenen Gefühlen vertrauen

Nach dem Tod von Robert Enke leuchtete ein Meer von Kerzen. Zahlreiche Gegenstände, die die Menschen mit dem Fußballtorwart verbanden, wurden vor dem Stadion abgelegt. Für Norbert Fischer ein Beispiel, wie Menschen sich neue Wege suchen, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen:
"Auf Friedhöfen gibt es bis heute relativ strenge Satzungen, die vorschreiben, wie man eine Grabstätte zu gestalten hat. Diese Vorschriften sind einer postmodernen Gesellschaft nicht mehr angemessen, und da die Menschen auf den Friedhöfen noch nicht die Möglichkeit haben, derart persönliche, manchmal sicherlich kitschige Accessoires abzulegen, nutzen sie den öffentlichen Raum dafür. Da passt der normierte Grabstein und die normierte Grabstätte nicht mehr hinein."
Und so finden sich an Orten der öffentlichen Trauer zum Beispiel immer öfter Kuscheltiere.
"Zum einen sind Kuscheltiere für die Biographie von Menschen von sehr großer Bedeutung, weil sie einen in den frühen Jahren begleiten. Das Kuscheltier hat eine hohe emotionale Ausstrahlung. Es ist ein typisches Symbol, ein typischer materieller Ausdruck für Gefühle."
Ein weiteres Phänomen der neuen Trauerkultur: die öffentlich geäußerte Erschütterung über den Tod Prominenter, besonders bei Popstars. Die Sterbebegleiterin Sylvia Brathuhn vermutet:
"Das sind Identifikationsfiguren. Also nehmen wir Michael Jackson. Viele sind mit Michael Jackson sozusagen groß geworden. Sie haben seine Musik geliebt, sie haben seine Texte verinnerlicht. Das heißt, auch wenn er kein leibhaftiger Freund war, so war er ein Weggefährte. Er war ein Idol. Den lässt man nicht einfach gehen. Da zerbricht auch ein Stück der eigenen Jugend. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir uns ein Stück Identität über diese Menschen bilden."
Viele der Trauernden sind bestürzt, auch wenn sie dem Musiker wohl nie persönlich begegnet sind.
"Ich trauere, also bin ich."
... sagt Sylvia Brathuhn in Abwandlung des Grundsatzes von Descartes.
"Ich denke schon, dass dieses Gefühl von Schmerz, also dieses Zulassen, Zeugnis ablegen für meine Gefühle und andere dürfen Zeugen davon sein, schon so etwas hat: Ich spüre mich selbst, mich gibt es wirklich."
Die Trauerkultur hat sich dramatisch gewandelt. Kirchliche Bestattungslieder wie "Befiehl du meine Wege" aus dem 17. Jahrhundert weichen mancherorts Popsongs wie "Geboren um zu leben" von der Band Unheilig. Der Friedhof als klassischer Ort der Trauer rückt immer mehr in den Hintergrund.
"Wir haben einen fundamentalen Wandel, den es so in der Bestattungskultur lange nicht gegeben hat. Er ähnelt dem Wandel, den die Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert ausgelöst hat. Diese Freiheiten, die sich jetzt eröffnen, haben sich die Menschen selbst genommen, wenn Sie an die Unfallkreuze an den Straßen denken und deren Ausschmückung mit Trauerreliquien."
Der Hamburger Kulturhistoriker Norbert Fischer spricht sogar von einem Paradigmenwechsel:
"Es hat etwas von einer urdemokratischen Bewegung, wenn sich Menschen organisieren, um ihre Trauergefühle auszudrücken. In der Tat war es so, dass Trauerrituale über Jahrhunderte hinweg namentlich von den Kirchen fest organisiert waren. Das hat sich geändert."
Die religiöse Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist, verblasst zunehmend. Doch zugleich hat sich eine Kultur etabliert, in der die Menschen stärker ihren Gefühlen vertrauen und sich neue Rituale suchen, um Trauer und Betroffenheit gemeinsam mit anderen auszudrücken – und sei es für Menschen, die sie persönlich nie gekannt haben.
Mehr zum Thema