Transplantationsmedizin

Organspende als "lernendes System" etablieren

Ein Mann in grüner OP-Kleidung trägt einen Styropor-Behälter für den Transport von Spenderorganen an einem Operationssaal vorbei.
Spenderorgan auf dem Weg in den Operationssaal © dpa / Soeren Stache
13.10.2014
Seit bekannt wurde, dass Transplantationsmediziner Wartelisten manipulierten, um eigene Patienten zu bevorzugen, hat die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland dramatisch abgenommen. Experten wie der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, plädieren deswegen dafür, das System zu reformieren.
Korbinian Frenzel: Die Organspende ist ein Dauerthema, vor allem, seitdem es Fälle gab, in denen offenbar manipuliert wurde, welche Patienten die Organe erhalten haben. Patienten, die auf dem Papier kränker gemacht wurden, als sie es tatsächlich waren. Das ist nämlich genau die Maßgabe bei Patienten: Die, die es am dringendsten brauchen, sind zuerst dran. Und das kann dann im Zweifel ein 75-Jähriger sein, der noch vor dem 25-Jährigen dran kommt. Es gibt Mediziner, die hier eine Korrektur fordern. Einer ist jetzt bei mir zu Gast im Gespräch: Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin und auch Mitglied im Vorstand der Bundesärztekammer. Ich grüße Sie!
Günther Jonitz: Guten Morgen!
Frenzel: Sie fordern, mehr nach Lebenserwartung, weniger nach Dringlichkeit soll entschieden werden bei der Organvergabe. Ich übersetze das mal böse: Für die alten lohnt es sich nicht mehr?
Jonitz: Das hat weniger was mit alt oder jung zu tun, sondern mit dem Dilemma, das uns der Gesetzgeber in das Transplantationsgesetz reingeschrieben hat. Dort steht nämlich drin, was dann im Grunde auch nachvollziehbar ist, die Organe sollen nach den Kriterien der Erfolgswahrscheinlichkeit und Erfolgsaussicht und Dringlichkeit vergeben werden.
Aber genau diese Ziele stehen im Konflikt miteinander. Dringlich braucht jemand ein Organ, der schwerstkrank ist und kurz vor dem Sterben liegt und möglicherweise am Vormittag höchstdosierte Medikamente braucht, die er am Nachmittag vielleicht schon nicht mehr braucht. Die Erfolgsaussicht ist bei demjenigen größer, der gerade im Anfangsstadium einer unumkehrbaren Krankheit ist, mit einem Organversagen, bei dem bislang nur ein Organ geschädigt ist, zum Beispiel das Herz. Und dieser Mensch profitiert von einem neuen Herzen deutlich mehr, weil er eine längere Lebenserwartung hat als derjenige, der durch eine lange Krankheit bereits im Sterben liegt.
Frenzel: Aber die übliche Praxis ist zurzeit, dass nach der Dringlichkeit gegangen wird.
Die meisten Organ-Empfänger fallen unter die höchste Dringlichkeitsstufe
Jonitz: Momentan wird in Deutschland mehr nach der Dringlichkeit gearbeitet. Das führt dazu, dass der Großteil der Organe ... in Höhepunktzeiten waren über 80 Prozent aller Herzen, die transplantiert wurden, Patienten, die "High Urgency" gemeldet wurden, also höchste Dringlichkeitsstufe.
Frenzel: Das liegt ja möglicherweise und ziemlich sicher auch daran, dass das ein relativ einfaches Kriterium ist. Man weiß, es ist die Dringlichkeit – wenn man jetzt nicht hilft, dann wird dieser Patient sterben. Bei einem anderen hat man noch mehr Zeit. Wenn man jetzt die Prinzipien ändert, macht man dann den Arzt nicht wirklich im wahrsten Sinne zum Gott in Weiß, weil er nämlich darüber entscheidet: Leben oder Tod?
Jonitz: Das liegt im Wesen des Berufes, dass der Arzt oder die Ärztin eine Entscheidung treffen muss im besten Sinne des Patienten. Das Problem bei der Transplantationsmedizin besteht darin, dass dort sehr viele unterschiedliche Ebenen zusammenkommen.
Auf der einen Seite geht es wirklich um Leben oder Tod, gerade bei herzkranken Patienten. Das heißt, sie sind einem enormen auch psychologischen Druck ausgesetzt, weil der Arzt im Transplantationszentrum schaut seinen Patienten in die Augen und die wiederum zurück und sagen, Herr Doktor, wann ist es denn so weit, wann komme ich endlich auf die Warteliste? Und da ist schon mal der Anreiz gegeben, an der einen oder anderen Stelle wenigstens nach der Aktenlage nachzujustieren, was natürlich nicht sein darf, weil damit das gesamte Verfahren in Frage gestellt wird. Gleichzeitig, die Frage, wie verhindern wir Willkür, ist dabei eine ganz wesentliche.
Frenzel: Ja, denn das öffnet ja eigentlich anderen Formen der Manipulation Tür und Tor.
Jonitz: Genau. Also erst mal, es wird kein perfektes System geben, niemals, weil es wird immer Möglichkeiten geben, mit krimineller Energie bestehende Systeme zu unterlaufen. Das ist jetzt heute nicht das Thema, aber solange Patienten keine Mathematik sind und auch Medizin nicht, wird man immer nur gucken können, dass die Grauzone so gering wir möglich ist und dass das System, wenn es sich verlaufen hat, möglichst schnell nachjustiert wird.
Das heißt, wir brauchen im Bereich der Transplantationsmedizin ein lernendes System, wo man möglicherweise die Indikationen, wann wird transplantiert, anders gestaltet, aber dann wesentlich genauer hinguckt, was ist aus dem Patienten geworden, der ein neues Organ gekriegt hat, und auch hingeschaut wird, was wird aus den Patienten, die keines gekriegt haben.
Frenzel: Sie sagen, Patienten sind keine Mathematik. Aber wenn ich Ihnen zuhöre, gerade in diesen letzten Worten, dann hat das ja schon was von Kosten-Nutzen-Rechnung, die wir ja eigentlich in der Medizin nicht anwenden wollen. Medizinisch wird normalerweise geholfen, so, wie man helfen muss, wie man nach bestem Wissen und Gewissen und Handeln helfen kann. Wäre das nicht ein moralischer Dammbruch, wenn wir an dieser Stelle anfingen zu sagen, wir entscheiden dort für die Patienten, die eine längere Lebenserwartung haben?
"Eine Kostendiskussion findet in Deutschland Gott sei Dank nach wie vor nicht statt"
Jonitz: Sie hätten dann recht, wenn man sich, wie andere Länder – zum Beispiel in Großbritannien – Gedanken macht, was kostet mich das. Und da muss man ganz zynisch sagen: Der High-Urgency-Patient, der ein neues Herz kriegt, kostet die Krankenkasse weniger, weil der eine kürzere Lebenserwartung hat. Und genau diese Kostendiskussion in Euro und Cent findet in Deutschland Gott sei Dank nach wie vor nicht statt, sondern es ist immer das Dilemma abzuwägen zwischen Dringlichkeit und Erfolg. Und erfolgreich ist die Medizin dann, wenn ein Patient, der behandelt wird, möglichst lange möglichst beschwerdefrei lebt.
Frenzel: Sie sagen, die Diskussion findet in Deutschland nicht statt. Sie hat einmal kurz stattgefunden vor Jahren. Der damalige Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, der ja, genau mit dem englischen Beispiel kommend, vorgeschlagen hat, älteren Patienten nicht mehr unbedingt eine künstliche Hüfte geben zu müssen. Ich musste bei Ihren Vorschlägen auch sofort in diese Richtung denken, auch wenn es vielleicht zunächst erst mal logisch erscheint bei so wichtigen Fragen wie Leben und Tod und Lebenserwartung. Ich frage noch mal: Ist das nicht letztendlich ein Türöffner, wenn wir dieses Prinzip einmal verlassen?
Jonitz: Auch hier noch mal: Nein. Weil es ist eine ethische Frage und keine ökonomische Frage. Und die ethische Frage ist, wem nützt ein bestimmtes Verfahren, wenn ich vor die schwierige Situation gestellt bin, dass ich zwei Patienten habe, aber nur einen behandeln kann. Das finden Sie bei Juristen zum Teil auch. Aber wir haben im Bereich der Transplantationsmedizin leider Gottes eben den Mangel an Spenderorganen, dass ich eine solche Auswahl treffen muss. Das heißt, der eine wird operiert, der andere wird nicht operiert. Und diese Frage nach ökonomischen Kriterien zu beantworten, also wo lohnt es sich finanziell, lehne ich in Deutschland wirklich rigoros ab. Aber sich der ethischen Frage zu stellen, wo setzen wir größere Betonung darauf, diese Frage, über die müssen wir neu nachdenken.
Frenzel: Wenn ein Arzt diese Frage ethisch beantwortet, im konkreten Fall – ich stelle mir das vor, man muss einem Patienten sagen: "Ihre Lebenserwartung, Ihre Gesundheitserwartungen sind zu schlecht, wir geben einem anderen beispielsweise ein neues Herz." Sie sind selbst Arzt – wie macht man das? Kann man das? Ist das nicht unglaublich schwierig?
Der Patient fragt den Arzt: Wann geht es mir endlich schlecht genug, damit ich ein Organ bekommen kann?
Jonitz: Also, ich habe – ich würde jetzt fast sagen, Gott sei Dank, aber ich habe es nicht gesagt – also, ich habe selber nicht in der Transplantationsmedizin gearbeitet, aber meine Frau war lange Zeit auf einer kardiologischen Intensivstation, die genau dieses Situationen eben miterlebt hat, wo man dann zum Teil von den Patienten gefragt wird, Herr Doktor oder Frau Doktor, wann geht es mir denn endlich schlecht genug, damit ich dann entsprechend ein Organ kriege. Und das ist im Prinzip in hohem Maße grausam, das kriegen Sie dann auch momentan nur im Einzelfall gelöst.
Frenzel: Es gibt einen weiteren Vorschlag von Ihnen in der Frage der Organvergabe: Sie wollen die regionale Vergabe stärken. Was bedeutet das?
Jonitz: Die regionale Vergabe bedeutet, dass man das momentan praktisch zu hundert Prozent anonyme System einer europäischen Vergabe über Eurotransplant insoweit aufweicht, dass man regional, wenn man selber vor Ort mehr Spenderorgane angeboten bekommt, dann auch die Möglichkeit hat, über diese Organe primär zu verfügen, das heißt, nicht ausschließlich – eines der Dilemmata liegt eben darin, dass ich auf der einen Seite zwar zusehen muss, dass ich (die) Spendenbereitschaft erhöhe, aber den Effekt dieser Spendenbereitschaft überhaupt nicht mehr erleben kann.
Frenzel: Das heißt, das ist vor allem ein Argument, um Menschen zu animieren, das Herz, das hier gespendet wird, bleibt auch in der Region?
Jonitz: So in dem Stil, nach dem Motto, ich kriege zumindest mit, dass der Arzt, der mich befragt, der dann auch wiederum das neue Organ einbaut, einen stärkeren persönlichen Bezug hat, als es derzeit der Fall ist. Das jetzige System ist in hohem Maße durchorganisiert, aber auch in hohem Maße anonym. Aber Transplantationsmedizin, egal ob auf der ärztlichen Seite, auf der Seite der Pflegenden oder auf der Patientenseite, ist genau das Gegenteil von anonym – es ist hochemotional.
Frenzel: Gibt es medizinische Gründe dafür, die Wege zu verkürzen?
Jonitz: Ja, weil natürlich, je geringer die Transportzeiten sind und je frischer das Organ ist, das wieder eingepflanzt wird, umso besser ist auch die Rate des Angehens im neuen Körper, das heißt, die Annahme des Transplantats beim Erkrankten.
Frenzel: Günther Jonitz, der Präsident der Ärztekammer in Berlin. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch!
Jonitz: Vielen Dank!
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