Tragische Geschichten

Schauplatz des Romans ist der Boulevard Ney am nordöstlichen Stadtrand von Paris. Es geht um Menschen, die hier leben: Clochards, Fixer, Exilanten und Prostituierte - und die damit verbundenen tragischen Geschichten.
Wenn von Boulevards die Rede ist und von Pariser Boulevards zumal, dann denken wir an den Glanz der Seine-Metropole, die Belle Epoque, die Existenzialisten am Boulevard Saint-Germain oder die Studentenunruhen vom Mai 68 am Boulevard Saint-Michel. Der Schriftsteller und Journalist Jean Rolin hat aber einen Boulevard am nördlichsten Stadtrand als Feld gewählt, das er für seinen jüngsten Roman, "Boulevard Ney", observiert.

Gerade noch innerhalb des Péripherique, des Autobahnrings, der Paris einschließt, gelegen, findet sich hier wenig von der oft romantischen Vorstellung, die die französische Hauptstadt gemeinhin auslöst. Und an Michel Ney, den Napoleon als "den Tapfersten der Tapferen" bezeichnete, erinnert nur mehr der Name.

Doch Jean Rolin baut zahlreiche Episoden aus der erstaunlichen Laufbahn dieses 1769 als Sohn eines Böttchers in Saarlouis geborenen Soldaten in seinen Roman ein. Nach nur elf Jahren brachte Ney es vom "Gemeinen" zum Divisionsgeneral, als er 1799 Mannheim eroberte. Nach der Kaiserkrönung ernannte Napoleon ihn zum Maréchal de France und verlieh ihm am 1. April 1813 den Titel eines "Fürsten von der Moskwa" nach der dortigen Schlacht.

In Waterloo wurden fünf Pferde unter ihm erschossen, und als er nach Napoleons endgültiger Exilierung wegen Hochverrats zum Tode verurteilt wurde, gab er den Schießbefehl selbst. Hierzu schreibt Rolin: "Obwohl die Figuren von Aufstieg und Fall zu einer abgedroschenen Literaturgattung gehören, charakterisieren sie manchmal tatsächlich das Schicksal von Menschen, sofern es diesen vergönnt ist, eines zu haben."

Ganz anders, aber in ihrer Art nicht weniger mutig, sind die Menschen, denen Jean Rolin zwischen Boulevard Ney und Autobahnring begegnet. Er, der sich selbst als Reporter bezeichnet, hat dort drei Jahre lang immer wieder gelebt, sich in bescheidenste Hotels vor Ort einquartiert und so gründlich recherchiert wie für seine Reportagen vom Kongo, aus Bosnien, dem Libanon und anderen Kriegs- und Krisenregionen.

Seine Vergangenheit bei der extremen Linken als Maoist hat Rolins Sensibilitäten für die sozialen Außenseiter, die hier im wahrsten Sinn des Wortes an den Rand gedrängt leben, zweifellos geschärft, sie tritt aber an keiner Stelle als penetrante Sozialkritik in den Vordergrund. Stattdessen schildert er die verschiedenen Schicksale prägnant, mitunter knapp, und dort, wo es angemessen ist, durchaus auch mit einem Quäntchen Ironie.

Vor allem aber beweist er sich als genauer Beobachter, der hier den verschiedensten Formen des Scheiterns begegnet, wobei er keineswegs der Versuchung erliegt, die Frustrationen der Gestrandeten allein der Gesellschaft zuschreiben zu wollen. Er entlarvt sinnlose Gewalt oder persönliche Trägheit, ohne indes die Figuren bloßzustellen.

Der besondere Reiz der Lektüre besteht in der Verflechtung von Neys Heroismus, der am Ende dennoch zum Scheitern verurteilt ist, mit den Schwächen oder dem alltäglichen Heldenmut der Bewohner des nach dem General benannten Boulevards.

Besprochen von Carolin Fischer

Jean Rolin: Boulevard Ney
Aus dem Französischen von Holger Fock
Berlin Verlag 2009
220 Seiten, 24 Euro