Träume aus einer verloren gegangenen Heimat

Im Alter von zehn Jahren verließ Marica Bodrožić mit ihren Eltern Jugoslawien. In dem Erzählband "Der Windsammler" fasst die 1973 geborene Schriftstellerin elf Geschichten zusammen und berichtet in einer Mischung aus Träumen, Märchen und Realem über ihre alte Heimat Dalmatien.
Es war einmal ein Staat namens Jugoslawien, ein offenes, sommerheißes Land mit eigensinnigen, meist friedfertigen Menschen. Ein Land, das nur noch in Träumen existiert oder in Büchern. Marica Bodrožić, Jahrgang 1973, ist dort aufgewachsen, bei ihrem Großvater in einem dalmatinischen Dorf. 1983, drei Jahre nach Titos Tod, zog sie nach Deutschland. (Die Eltern lebten hier als Gastarbeiter.) Sie lernte die fremde Sprache, machte eine Lehre als Buchhändlerin und studierte (Kulturanthropologie, Psychoanalyse, Slawistik in Frankfurt/Main). Heute wohnt sie in Berlin und schreibt – auf Deutsch.

2002 verlegte Suhrkamp einen ersten Band mit Kurzgeschichten. "Tito ist tot." Die Erzählungen beschwören den verlorenen Ort, die nicht mehr existente Heimat. Sie beschreiben ein ländliches Idyll, an dessen Rändern Gespenster lauern, Krieg und Führerkult, Diktatur und Repression. Wie ein Spiegel wirkt diese Prosa, ein zerbrochener Spiegel, der in hundert Splittern die Bilder von einst nicht mehr zu fassen vermag. Man spürt viel Sehnsucht und viel Melancholie. Für ihr Debüt ist Frau Bodrožić oft gelobt und manchmal – genauso berechtigt – kritisiert worden. Sie schreibe anrührend und poetisch, hieß es. Sie nutze ungewöhnliche Wendungen und suggestive Metaphern. Doch bisweilen verliere sie sich in mädchenhaft-duftigen Luftschlössern und "hymnischer Verklärtheit".

2005 erschien der Roman "Der Spieler der inneren Stunde", eine Variation des Grundthemas – Leben in zwei Welten. In einem autobiographischen Band ("Sterne erben, Sterne färben", Anfang 2007), einer Liebeserklärung an die deutsche Sprache, beschrieb die Erzählerin ihre "Ankunft in Wörtern" und skizzierte einen Teil ihrer Poetik: "Das Gedächtnis ist es, das mich als Mitarbeiterin braucht, als bereite Geherin in den Ecken und Bauchgebieten meines eigenen Sterns."

2004 erhielt Marica Bodrožić das "Grenzgänger"-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung für Recherchen zu Mittel- und Osteuropa, und einmal mehr bereiste die Autorin das Kindheitsland Dalmatien (heute in Kroatien gelegen). Ergebnis der Fahrt ist nun ein Band mit surrealistischen Geschichten über die Inselwelt der kroatischen Adria, sind Berichte von der Brijuni-Gruppe, von Pag und Brač, Lopud und Lokrum, von der Langen und der Kahlen Insel, den Höllen- und Sonneninseln. "Als Kind sehnte ich mich nach den sagenumwobenen Inseln", bekennt Frau Bodrožić in einem Essay. "Im Schreiben und bei der Grenzgänger-Forschungsreise haben sich den äußeren Inseln mehr und mehr innere angeschlossen und die sind immer stärker geblieben." Der Archipel: was für ein Reservoir an Kulissen, Statisten, Metaphern. Jede Insel ein Ort in dunstiger Ferne, vom Festland zwar sichtbar, aber abgeschieden, verloren im Meer, ein Experimentierfeld, Paradies und Gefängnis, ein fremder Planet mit anderer Zeitrechnung, bewohnt von Sonderlingen.

Die elf Texte des Bandes passen in keine Gattungsschublade. Am ehesten sind es Prosagedichte oder Märchen (laut Bodrožić "eine Art Inventar des Menscheninneren") oder Träume, Alpträume, denn wie im Traum mischen sich Versatzstücke des Realen mit dem Irrealen, dem Verdrängten und Gewünschten. Merkwürdige Figuren tauchen auf, ein Windsammler, ein Bildinspektor, der Eroberer des Wörterbuchs, auch ein mathematisch versierter Damhirsch, ein Einhorn und ein Erzengel. Viele Protagonisten sind Suchende, Wartende, heilige Narren.

In manchen Geschichten herrscht trotz märchenhafter Anmutung ein Klima der Bedrohung. (Aus dieser Reibung zwischen Poesie und Gefahr entsteht Spannung.) Begriffe wecken Assoziationen: Gedankenprotokollant, Verbotstraum, Schriftführer und Scheinverhör. Ein Gutachter führt "Inselakten" über auffällige Mitbürger. Eine unbescholtene Reisende sieht sich jäh zwecks Befragung vor einer Kommission ("Was ist der Anlaß Ihrer unerwarteten Rückkehr auf die Lange Insel?"); im Saal sitzen ältere Menschen, "die selbst einmal überprüft worden waren", Orwell und Kafka winken von fern. An anderer Stelle wird Jugoslawien, das verlorene Reich, auf wunderbar lakonische Weise beerdigt: "Es war Sommer, die Inselgäste kamen in Scharen, ein System ging zugrunde, draußen, in der Welt der Systeme." Oder: "Der Sozialismus hatte sich nicht bewährt, der Krieg war ausgebrochen..." Etliche Traumstücke – die besten – lassen durchgängig den realen Hintergrund erkennen. In "Die Rache des Damhirsches" erleben wir Tito und Ulbricht beim Inselplausch (am Rande agieren Castro und Brandt). "Die Meeresseite der Orange" erinnert an Titos Lager auf der KZ-Insel Goli Otok.

Es gibt Klang und Duft in diesen Geschichten, "irgendwo auf der Piazza roch es nach Palatschinken und starkem Kaffee". Es gibt farbstarke Momentaufnahmen ohne Ende, betörende Impressionen und schockierende. Die große Stärke der Sammlung (auch dieser Sammlung) ist zugleich ihre große Schwäche: die Bilderflut. Gleichnisse ohne Ende, eines hetzt das nächste. Wie eine ihrer Figuren geht die Autorin in Metaphern förmlich spazieren, sie verwandelt unsere Welt in einen Kosmos der Fresken und Ikonen. Viele Bilder sind schön. "Der Wind besprach unsere Schritte und unsere Füße hörten auf ihn." Jemand hat "ein grünleuchtendes Hinterland, in dem die gesagten Wörter Wohnung nahmen". Andere Bilder stören, weil sie einen Hang zu sinnleerer Übersteigerung erkennen lassen. Wir lesen von einer "Funkuhr in der Stirn" und "dem Anrufbeantworter der Brustlaterne", von "Latrinen ihrer Herzen" oder "Ankerplätzen der Sehnsucht". Geklingel, Tand, Kitsch.

Nach ein paar Texten des "Windsammlers" spürt man Völlegefühl, Übersättigung. Zur Abwechslung wünscht man sich eine schlichte, geradlinig erzählte Geschichte, aber dann beginnt vielleicht dies – "Der Vorhof der Ewigkeit": "Als Ava die Sonneninsel betrat, wurde das Embryo in ihrem Ohr geboren, das ganze rechte Ohr wurde in Beschlag genommen und sie diente von nun an als Adresse. Sie sagt, die Geburt habe stattgefunden, als sie auf die kleine Karmeliterkirche geschaut habe, da sei das Ohr in Anspruch genommen worden, mitten am Tage und unter der Obhut der flimmernden Helligkeit der Bäume. Somnambul war Ava nicht und von Jenseitsmythen hatte sie nie etwas gehört. Sie wohnte lange Zeit in Siena und konnte wie keines der anderen Mädchen mit Wölfen sprechen, kam aus einer anderen Zeit, einer Art beständigem Sonntagmorgen und gab zu bedenken, dass die Tiere Sprecher der silbernen Schnüre sind ..."

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Marica Bodrožić: Der Windsammler. Erzählungen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2007
181 Seiten, 16,80 Euro