Trägheit

Von Susanne Mack · 13.02.2010
Muße ist ein höchst besonnener Zustand, der Kreativität fördert und einen Rückzug aus dem Geschäftigen, Übertriebenen und Machtgeilen dieser Welt bietet, sagt der Psychologe Heiko Ernst. Trägheit dagegen ist das genaue Gegenteil: das Verharren in Besinnungslosigkeit.
"Die Trägheit, 'acedia' im Lateinischen, ist immer schon eine Todsünde gewesen. Weil das mit einer Art Lebensverneinung zusammenhängt. Wenn ich mir sage: 'Ja, ich häng' hier rum! Was soll's, mein Leben ist eh' entschieden, ich will nichts mehr bewirken', dann mach' ich auch nichts draus. Das ist ein depressives Verharren in einem lichtlosen Zustand … "

… sagt Pater Hermann-Josef Zoche. - Der Theologe Alfred Bellebaum beschreibt die Trägheit als ein subtiles Laster, das in vielerlei Masken daherkommt:

"Langeweile
Mutlosigkeit
Feigheit
Widerwille
Überdruss
Ekel

Gleichgültigkeit"


"Der Gleichgültige scheint wie abgestorben zu sein. Er wirkt auf sein Umfeld bei aller Normalität fremdartig und entrückt. Er braust nicht auf, er ist unbeteiligt. Er macht sich keine Feinde und keine Freunde … "

… schreibt Pater Zoche in seinem Buch über "Die sieben Todsünden unserer Zeit". Auch für den Psychologen Heiko Ernst ist "Gleichgültigkeit" die alte Sünde Trägheit im Gewand a la mode:

"Man könnte sagen, das ist die moderne Version dessen, was die Erfinder, die ersten großen Beschreiber der Todsünden, was Gregor der Große im frühen Mittelalter darunter verstanden hat: nämlich eine geistige Trägheit vor allem. Es geht also weniger um diese 'couch potatoes', die faul auf’m Sofa liegen und den Hintern nicht hochkriegen, wie man so schön sagt, sondern um die geistige Trägheit, die gefährlich ist, die uns gleichgültig macht."

Acedia, so der lateinische Name für die Trägheit, ist im Mittelalter als "die Krankheit der Mönche" beschrieben worden. Als ein Laster derer, die - in wirtschaftlicher Sicherheit - ein gleichförmiges Leben lebten und denen die Gottesfreude abhanden gekommen war. Die sich nicht mehr begeistern konnten für die Schönheit der Erde und das göttliche Geschenk des Lebens.

Auch die moderne Trägheit ist zweifellos eine Wohlstandsphänomen. Apathie aus Übersättigung. - Heiko Ernst:

"Dieser Rückzug. Auch aus dem politischen Bereich. Also, man kümmert sich nicht um die Verfasstheit eines Stadtteils oder auch der Nachbarschaft: das interessiert mich nicht, das sollen die anderen machen. - Und die Resignation gegenüber den Hochmütigen und den Habgierigen. Dass man sagt: Ach, es hat ja keinen Sinn, die sind so wie sie sind, ich zieh’ mich zurück in meine vier Wände und guck’, dass ich selber keinen Schaden nehme. Also, diese manchmal auch idealisierte Resignation … Denken Sie an den russischen Schriftsteller Gontscharow, der den Oblomov geschaffen hat. Den Mann der auf’m Sofa liegt, die ganze Zeit, und berühmt dafür geworden ist in der Weltliteratur."

Zitat aus Iwan Gontscharows "Oblomow":

"Das Herumliegen war für Ilja Iljitsch weder eine Notwendigkeit wie für einen Kranken oder für einen Menschen, der schlafen möchte. Noch eine Zufälligkeit, wie für einen Müden, noch ein Genuss, wie für einen Faulpelz. - Das Herumliegen war sein normaler Zustand."

Allerdings: Wir wollen die "Trägheit" nicht mit der "Muße" verwechseln. Träge sein ist ein besinnungsloser Zustand, Muße dagegen ein höchst besonnener. – Heiko Ernst:

"Dieser Rückzug aus dem Geschäftigen, Übertriebenen, Machtgeilen, Gierigen dieser Welt hat auch etwas zu tun mit der Weltverachtung oder dem Welt-Ekel. Und war natürlich manchmal auch eine kultivierte Haltung."

"Gar nichts tun, das ist die allerschwierigste Beschäftigung. Und zugleich diejenige, die die am meisten Geist voraussetzt!"

Oscar Wilde. Ein Plädoyer gegen die Versuchung, im Hamsterrad des allgegenwärtigen Kapitalismus bis zur Besinnungslosigkeit zu schuften, ohne nachzudenken: "Will ich das? Und wofür mache ich das eigentlich?"

Echte Kreativität hat ihre Wurzel in Muße, um nicht zu sagen: in der Faulheit.

"War Gutenberg nicht nur zu faul, Buch um Buch abzuschreiben, wie das die Mönche in jahrhundertelanger Fron getan haben? Und war nicht Carl Benz zu faul zu laufen?"

Heiko Ernst in seinem Buch mit dem Titel "Wie uns der Teufel reitet".

Als Papst Gregor der Große bemerkte, viele seiner Zeitgenossen seien dem Laster der "Trägheit" verfallen, ging es ihm nicht etwa darum, dass diese Menschen zu wenig gearbeitet hätten. Ernst:

"Das war früher eh nicht so wichtig wie heute. Der Acht-Stunden-Tag oder der Zehn-Stunden-Tag oder der Zwölf-Stunden-Tag war kein Ideal, man hat so viel gearbeitet, wie nötig war. Die Trägheit bezog sich ganz eindeutig auf die geistige und die geistliche Trägheit. Also, dieses Verzagtsein, das Nicht–sich-Engagieren, die Selbstunterforderung auch. Nicht sich geistig anstrengen, nicht weiterkommen wollen."

Nach Gregors Diagnose kann man sehr beschäftigt sein und dennoch träge - weil zu faul zu denken: nicht bereit, darüber nachzudenken, welche Aufgabe Gott dem Menschen im Allgemeinen und einem selbst im Besonderen zugedacht hat.

"Für die Freiheit hat Christus uns frei gemacht. - Steht nun fest! Und lasst Euch nicht durch ein Joch der Sklaverei belasten … "

… heißt es in Paulus’ Brief an die Galater.

Versklaven lassen kann sich ein Mensch auf vielerlei Weise: durch seine Arbeit, durch andere Menschen, durch den unbewusst gebliebenen Zwang, einen Batzen Geld verdienen zu müssen, koste es an Freiheit, was es wolle. Die Freiheit ist das Geschenk Gottes an den Menschen, davon war Paulus zutiefst überzeugt, und jeder Mensch ist herausgefordert, diese Freiheit zu gebrauchen: Entscheidungen zu treffen und tätig zu werden, um leidvolle Selenlagen zu überwinden.

"Was verkürzt mir die Zeit?
Tätigkeit!
Was macht sie unerträglich lang?
Müßiggang!
Was bringt in Schulden?
Harren und Dulden.
Was macht Gewinnen?
Nicht lange besinnen!
Was bringt zu Ehren?
Sich wehren!"


Ein Gedicht aus Goethes "West-östlichem Divan".

Milvas "Die Macht der Gewohnheit":

"Warum fällt so schwer zu erkennen, was Wirklichkeit ist und was Schein? Zu stark ist die Macht der Gewohnheit! Man fällt auf sie zu gern herein."

"Als Gemeindepfarrer bekomme ich diese zur Unfreiheit verkommene Trägheit immer wieder bei Paaren mit schlechter Beziehung mit. Der Gleichgültige nutzt seine Freiheit nicht, er ist mit ihr überfordert."

Machen wir uns nichts vor, sagt Pater Zoche, die Trägheit ist ein alltägliches und allgegenwärtiges Phänomen. Es gibt eine "Furcht vor der Freiheit", wie Erich Fromm sie genannt hat: eine Trägheit gegenüber sich selbst. Ernst:

"Die Selbst-Unterforderung. Das Nicht-Ausschöpfen der eigenen Talente. Dazu gibt es ja in der Bibel die passenden Gleichnisse, dass jemand eben nicht mit seinen Talenten wuchert. Das sollen wir durchaus, wir sollen unsere Fähigkeiten ausschöpfen und sollen sie vorantreiben und entwickeln. Das nicht zu tun, das ist die Trägheit, das ist die Krankheit oder die Todsünde: nämlich geistig und seelisch zu verarmen, weil man sich nicht mehr anstrengt."

Trägheit ist es auch, wenn wir uns von anderen versklaven lassen. Nicht mehr zornig werden, wenn man uns schlecht behandelt, uns an die Sklaven-Existenz gewöhnt haben, sie uns womöglich noch schön reden.

Milvas "Die Macht der Gewohnheit":

"Was macht es so schlimm, sich zu trennen, auch wenn man längst weiß, es ist aus? Zu stark ist die Macht der Gewohnheit, man nimmt nicht so einfach Reißaus."

Trägheit kleidet sich auch gerne in's Gewand der Ignoranz, wenn andere Menschen unsere Hilfe brauchen. – Heiko Ernst:

"Das Wegsehen, wenn’s anderen nicht so gut geht. Das ist eigentlich gemeint. Die Nicht-Einmischung, oder der Rückzug auch."

Zoche : "Mich gehen viele Dinge an, die andere tun und verantworten müssen! Freiheit ist gar nicht möglich, ohne Verantwortung für die Gesamtheit der Gesellschaft."

Bei uns, sagt Pater Zoche, wird der Begriff der "Freiheit" auch oft missverstanden: als Lizenz zum Egotrip. Da heißt es: "Diese Freiheit nehme ich mir! Ich lebe nach meiner Facon und verbitte mit jede Einmischung!" – Aber diese Freiheit hat Grenzen. Wenn zum Beispiel der Nachbar seine Kinder schlägt, ist ein "Das geht Sie nichts an!" durchaus unakzeptabel.

"Dass man das, was man tun kann, auch tut! Wohl wissend, dass man vieles nicht kann, aber das, was man kann, muss man auch tun!"

"Uns vom Halben zu entwöhnen!
Und im Ganzen, Guten, Schönen
Resolut zu leben."


Das sei die Bestimmung des Menschen, schreibt Goethe in einem Gedicht mit dem Titel: Generalbeichte. - Gegen die Versuchung, träge zu werden, hilft der Entschluss, leidenschaftlich zu leben. Zoche:

"Genau! Und sich auch mal den Mut nehmen und mal los zu machen. Dass man auch sein Leben in die Hand nimmt, dass man auch losgeht. Aber wir müssen auf dem Weg, auf dem wir sind, zugleich auch erkennen, dass es nicht nur daran liegt, etwas erreichen zu wollen. Sondern unterwegs gibt es immer wieder Korrekturen, und wir wissen immer nur den nächsten Schritt auf dem Weg. Und oft kommen wir ja auch an Kreuzungen und müssen neu entscheiden, aber wir müssen losgehen!"

Augustiner-Pater Hermann-Josef Zoche schätzt die Lebensmaxime des Ignatius von Loyola:

"Bete, als hinge alles von Gott ab.
und handle, als hinge alles von Dir ab!"