Traditionsfestival mit Bedeutungsverlust
Eine lange Tradition und ein guter Ruf allein reichen nicht aus. Das Filmfestival von Locarno, das heute Abend eröffnet wird, sucht eine neue künstlerische Leitung und muss sich heftig ins Zeug legen, will es sich gegenüber anderen großen Festivals in Europa behaupten können. Denn viele Filmproduzenten zeigen ihre Filme inzwischen lieber auf anderen Festivals.
"Es ist nicht leicht, Festivaldirektor zu sein, der völlig in dieser Sache aufgeht."
sagt Marco Solari, Präsident des Filmfestivals von Locarno. Einen Tag nach der diesjährigen Ausgabe wollen er und der Verwaltungsrat den neuen künstlerischen Direktor bestimmen. Denn Irene Bignardi, seit fünf Jahren künstlerische Direktorin, aber auch ihre Stellvertreterin Teresa Cavina, verlassen das Festival.
Irene Bignardi hat die Gründe ihres Rücktritts bekannt gegeben: Zu viel Stress. Für die Arbeitsbelastung der demnächst 62-jährigen Festivaldirektorin interessiert sich das Publikum wenig. Es will nach Ertönen des Festivallogos filmische Leckerbissen sehen.
Liebt das Festivalpublikum einen Film, so lobt es die Regie oder die Schauspieler. Fällt ein Film beim Publikum durch, rügt es nicht die Filmschaffenden, sondern die Festivaldirektion, die den Film ausgewählt und eingeladen hat.
Das Publikum geht von der Annahme aus, ein Festival sei bei der Auswahl der Filme völlig frei und könne all jene Filme zeigen, die die künstlerische Leitung für sehenswert hält. Mehr denn je ist dies heute ein Trugschluss. Ob ein Film ins Programm kommt, entscheidet nicht allein die Festivalleitung. Auch der Rechteinhaber - ob Produzent oder Weltvertrieb - hat hier ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Ein Rechteinhaber will seinen Film möglichst gut verkaufen und sucht dazu jenes Festival, an dem sein Film die optimale Aufmerksamkeit der Einkäufer findet. Und schon beginnt das Buhlen der großen Festivals um die besten Filme.
In Europa gibt es sieben so genannte A-Festivals. Das sind Festivals, die in ihren Hauptprogrammen Filme in Premiere zeigen wollen und müssen. Zwei dieser Festivals gelten als sehr attraktiv: Cannes und Berlin, da beide einen großen Filmmarkt haben, der von sehr vielen Einkäufern aus aller Welt besucht wird.
Zum Kampf um die Filme kommt es zwischen den vier Festivals, die zwischen Juli und September stattfinden. Die besten Karten hat nach wie vor das Festival von Venedig, die schlechtesten das Festival im tschechischen Karlovy Vary.
Doch wo steht das Festival von Locarno? Die abtretende Direktorin Irene Bignardi gibt sich optimistisch.
Viele Filmschaffende finden in Locarno den optimalen Ort vor, ihre neuen Filme vorzustellen, sagt Irene Bignardi. Nicht für Mainstream-Filme sei Locarno die perfekte Plattform, sondern für die neuen cineastischen Stimmen, die neuen Filmländer. Und gerne erwähnt sie den Siegerfilm des letzten Jahres, der sich dank Locarno in 35 Länder verkauft habe: "Private" von Saverio Costanzo über ein palästinensisches Haus, das von der israelischen Armee besetzt wird.
Am richtigen Festival erhält ein kleiner Film die nötige Aufmerksamkeit, sagt Irene Bignardi. An einem großen Festival werde der kleine Film von den großen erdrückt.
Marco Solari: "Wir sind kein Glitzer-, kein Glamour-Festival… Wir spüren, was wächst, was kommt."
Das Argument von Marco Solari, Locarno sei die erste Adresse für cineastische Entdeckungen, zieht nur noch beschränkt. Denn jedes internationale Festival sucht heute eifrig Nachwuchstalente und bietet diesen meist spezielle Wettbewerbssektionen an.
Nicht wenige Kenner der internationalen Filmszene sagen, das Filmfestival im baskischen San Sebastián sei heute mindestens gleich bedeutend, wenn nicht bedeutender als jenes von Locarno. Und etliche Rechteinhaber bieten ihre Filme Locarno gar nicht erst an, sondern nur den Festivals von Venedig und San Sebastián. Offensichtlich gehen diese Rechteinhaber davon aus, dass die Konkurrenten von Locarno eine bessere Premieren-Plattform sind.
Marco Solari: "Die Rahmenbedingungen sind sehr viel schwieriger geworden… Wenn wir überleben wollen, dann müssen wir diese Nischenpolitik konsequent weiterführen."
Es gibt etliche Indizien dafür, dass es das Filmfestival Locarno schwierig haben wird, seine Position halten zu können. Berufsleute kritisieren, das Festival warte mit zu vielen Programmsektionen auf, was die Aufmerksamkeit der Einkäufer für den einzelnen Film schmälere.
Unübersehbar sind die Probleme bei der Filmauswahl fürs Freilichtkino Piazza Grande. Dieses Jahr hat die Festivalleitung für den Publikumsmagneten Piazza Grande deutlich weniger Filmpremieren anzubieten als früher.
Obwohl sich das Festival sehr darum bemüht hat, wird beispielsweise die Hollywood-Produktion mit dem Titel "Stay" des Schweizer Regisseurs Marc Forster nicht in Locarno uraufgeführt. Dagegen zeigt der im Ausland ebenfalls anerkannte Schweizer Regisseur Samir seinen neuen Spielfilm mit dem Titel "Snow White" - Schneewittchen - im Wettbewerb von Locarno.
Samirs Film "Snow White" erzählt vom 20-jährigen Partygirl Nico aus reichem Haus in der Zürcher Agglomeration. Nico, mit nichts anderem als sich selbst beschäftigt, verliebt sich in Paco, den Sänger einer Hip-Hop-Band, was verheerende Folgen hat.
Da der Film bereits im August in den Schweizer Kinos anlaufen wird, ist eine Premiere in Locarno ein Vorteil fürs einheimische Marketing.
Hinzu kommen für Samir die Geschichte und Tradition von Locarno.
Ob das Filmfestival von Locarno seine internationale Position wird halten können, hängt von vielen Faktoren ab. Nicht in erster Linie, wie oft beklagt wird, vom Willen der politischen Instanzen, genügend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Gefragt sind Ideen, Prioritäten und überzeugende Entscheide.
Nicht ändern lässt sich, dass das Festival in einem kleinen Land stattfindet, das über einen im internationalen Vergleich kleinen Kinomarkt verfügt. Hinzu kommen handfeste Probleme: So schliesst in Locarno ein Erstklasshotel nach dem anderen. Und die Struktur des Festivals hat Nachholbedarf.
Allein die Wahl des neuen Direktors wird die Probleme nicht lösen können. Am Profil des Festivals soll grundsätzlich nicht gerüttelt werden, sagt Festivalpräsident Marco Solari. Er suche einen Direktor, der ans bestehende Leitbild glaube: Inhalt vor Glamour.
Zu den Namen, die in der Gerüchteküche gehandelt werden, gehören Alberto Barbera, der frühere Direktor von Venedig, Wieland Speck, Leiter der Panorama-Sektion bei der Berlinale, oder Jean Perret, der das Schweizer Dokumentarfilmfestival "Visions du Réel" leitet.
Obwohl er sicher schon einen konkreten Favoriten ins Auge gefasst hat, will Marco Solari vor dem diesjährigen Festival die Katze nicht aus dem Sack lassen.
sagt Marco Solari, Präsident des Filmfestivals von Locarno. Einen Tag nach der diesjährigen Ausgabe wollen er und der Verwaltungsrat den neuen künstlerischen Direktor bestimmen. Denn Irene Bignardi, seit fünf Jahren künstlerische Direktorin, aber auch ihre Stellvertreterin Teresa Cavina, verlassen das Festival.
Irene Bignardi hat die Gründe ihres Rücktritts bekannt gegeben: Zu viel Stress. Für die Arbeitsbelastung der demnächst 62-jährigen Festivaldirektorin interessiert sich das Publikum wenig. Es will nach Ertönen des Festivallogos filmische Leckerbissen sehen.
Liebt das Festivalpublikum einen Film, so lobt es die Regie oder die Schauspieler. Fällt ein Film beim Publikum durch, rügt es nicht die Filmschaffenden, sondern die Festivaldirektion, die den Film ausgewählt und eingeladen hat.
Das Publikum geht von der Annahme aus, ein Festival sei bei der Auswahl der Filme völlig frei und könne all jene Filme zeigen, die die künstlerische Leitung für sehenswert hält. Mehr denn je ist dies heute ein Trugschluss. Ob ein Film ins Programm kommt, entscheidet nicht allein die Festivalleitung. Auch der Rechteinhaber - ob Produzent oder Weltvertrieb - hat hier ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Ein Rechteinhaber will seinen Film möglichst gut verkaufen und sucht dazu jenes Festival, an dem sein Film die optimale Aufmerksamkeit der Einkäufer findet. Und schon beginnt das Buhlen der großen Festivals um die besten Filme.
In Europa gibt es sieben so genannte A-Festivals. Das sind Festivals, die in ihren Hauptprogrammen Filme in Premiere zeigen wollen und müssen. Zwei dieser Festivals gelten als sehr attraktiv: Cannes und Berlin, da beide einen großen Filmmarkt haben, der von sehr vielen Einkäufern aus aller Welt besucht wird.
Zum Kampf um die Filme kommt es zwischen den vier Festivals, die zwischen Juli und September stattfinden. Die besten Karten hat nach wie vor das Festival von Venedig, die schlechtesten das Festival im tschechischen Karlovy Vary.
Doch wo steht das Festival von Locarno? Die abtretende Direktorin Irene Bignardi gibt sich optimistisch.
Viele Filmschaffende finden in Locarno den optimalen Ort vor, ihre neuen Filme vorzustellen, sagt Irene Bignardi. Nicht für Mainstream-Filme sei Locarno die perfekte Plattform, sondern für die neuen cineastischen Stimmen, die neuen Filmländer. Und gerne erwähnt sie den Siegerfilm des letzten Jahres, der sich dank Locarno in 35 Länder verkauft habe: "Private" von Saverio Costanzo über ein palästinensisches Haus, das von der israelischen Armee besetzt wird.
Am richtigen Festival erhält ein kleiner Film die nötige Aufmerksamkeit, sagt Irene Bignardi. An einem großen Festival werde der kleine Film von den großen erdrückt.
Marco Solari: "Wir sind kein Glitzer-, kein Glamour-Festival… Wir spüren, was wächst, was kommt."
Das Argument von Marco Solari, Locarno sei die erste Adresse für cineastische Entdeckungen, zieht nur noch beschränkt. Denn jedes internationale Festival sucht heute eifrig Nachwuchstalente und bietet diesen meist spezielle Wettbewerbssektionen an.
Nicht wenige Kenner der internationalen Filmszene sagen, das Filmfestival im baskischen San Sebastián sei heute mindestens gleich bedeutend, wenn nicht bedeutender als jenes von Locarno. Und etliche Rechteinhaber bieten ihre Filme Locarno gar nicht erst an, sondern nur den Festivals von Venedig und San Sebastián. Offensichtlich gehen diese Rechteinhaber davon aus, dass die Konkurrenten von Locarno eine bessere Premieren-Plattform sind.
Marco Solari: "Die Rahmenbedingungen sind sehr viel schwieriger geworden… Wenn wir überleben wollen, dann müssen wir diese Nischenpolitik konsequent weiterführen."
Es gibt etliche Indizien dafür, dass es das Filmfestival Locarno schwierig haben wird, seine Position halten zu können. Berufsleute kritisieren, das Festival warte mit zu vielen Programmsektionen auf, was die Aufmerksamkeit der Einkäufer für den einzelnen Film schmälere.
Unübersehbar sind die Probleme bei der Filmauswahl fürs Freilichtkino Piazza Grande. Dieses Jahr hat die Festivalleitung für den Publikumsmagneten Piazza Grande deutlich weniger Filmpremieren anzubieten als früher.
Obwohl sich das Festival sehr darum bemüht hat, wird beispielsweise die Hollywood-Produktion mit dem Titel "Stay" des Schweizer Regisseurs Marc Forster nicht in Locarno uraufgeführt. Dagegen zeigt der im Ausland ebenfalls anerkannte Schweizer Regisseur Samir seinen neuen Spielfilm mit dem Titel "Snow White" - Schneewittchen - im Wettbewerb von Locarno.
Samirs Film "Snow White" erzählt vom 20-jährigen Partygirl Nico aus reichem Haus in der Zürcher Agglomeration. Nico, mit nichts anderem als sich selbst beschäftigt, verliebt sich in Paco, den Sänger einer Hip-Hop-Band, was verheerende Folgen hat.
Da der Film bereits im August in den Schweizer Kinos anlaufen wird, ist eine Premiere in Locarno ein Vorteil fürs einheimische Marketing.
Hinzu kommen für Samir die Geschichte und Tradition von Locarno.
Ob das Filmfestival von Locarno seine internationale Position wird halten können, hängt von vielen Faktoren ab. Nicht in erster Linie, wie oft beklagt wird, vom Willen der politischen Instanzen, genügend finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Gefragt sind Ideen, Prioritäten und überzeugende Entscheide.
Nicht ändern lässt sich, dass das Festival in einem kleinen Land stattfindet, das über einen im internationalen Vergleich kleinen Kinomarkt verfügt. Hinzu kommen handfeste Probleme: So schliesst in Locarno ein Erstklasshotel nach dem anderen. Und die Struktur des Festivals hat Nachholbedarf.
Allein die Wahl des neuen Direktors wird die Probleme nicht lösen können. Am Profil des Festivals soll grundsätzlich nicht gerüttelt werden, sagt Festivalpräsident Marco Solari. Er suche einen Direktor, der ans bestehende Leitbild glaube: Inhalt vor Glamour.
Zu den Namen, die in der Gerüchteküche gehandelt werden, gehören Alberto Barbera, der frühere Direktor von Venedig, Wieland Speck, Leiter der Panorama-Sektion bei der Berlinale, oder Jean Perret, der das Schweizer Dokumentarfilmfestival "Visions du Réel" leitet.
Obwohl er sicher schon einen konkreten Favoriten ins Auge gefasst hat, will Marco Solari vor dem diesjährigen Festival die Katze nicht aus dem Sack lassen.