Traditionsdebatte in der Bundeswehr

Von historischem Exorzismus und Vorbildsuche

Soldaten in der Grundausbildung marschieren am 01.11.2016 über das Gelände der Marinetechnikschule (MTS) in Parow (Mecklenburg-Vorpommern) bei Stralsund. Die Bundeswehr hat die knapp acht Millionen Euro Ausgaben für die Realitiy-Dokumentation "Die Rekruten" und eine damit verbundene Werbekampagne verteidigt. Die Serie soll nach Angaben der Bundeswehr die Ausbildung der Rekruten mit allen Höhen und Tiefen abbilden. Von Dienstag an wirbt die Bundeswehr in der täglichen Dokumentation auf einem Youtube-Kanal um junge Soldaten, indem sie die Ausbildung und das Leben von zwölf Rekruten der Marinetechnikschule abbildet.
Welche Traditionen und Helden braucht die Bundeswehr? © dpa-Zentralbild/Stefan Sauer
Von Christian Ahlborn · 22.01.2018
Wehrmachtsdevotionalien in Kasernen, Soldaten zeigen Hitlergruß, falsche Helden als Namensgeber – Wie viel Wehrmacht steckt in der Bundeswehr? Trotz 60 Jahre eigener Geschichte wird die Bundeswehr diese Frage nicht los.
Plötzlich ist sie wieder da … die Frage nach unserer Haltung, nach unserer Verantwortung.
Die Frage, ob – und was – wir gelernt haben aus 150 Jahren voll von katastrophalen Niederlagen, furchtbaren Siegen und beispiellosen Kulturbrüchen.
Die Frage nach dem Wert deutscher Tugenden wie Gehorsam, Ehre, Treue, Tapferkeit, Heldenmut und den daraus resultierenden Konsequenzen.
Ein kleiner Trost im Voraus für alle, die gerade ein "Nicht schon wieder … hört das denn nie auf?!" in sich hinein denken: Gefragt sind in erster Linie nicht Sie und ich, sondern die Bundeswehr, die ihr Traditionsverständnis neu verhandelt. Aber das ist wie erwähnt ein kleiner Trost, denn so einfach kommen wir - also Sie und ich - nicht aus der Nummer raus, denn im Endeffekt geht es um unsere Geschichte, unsere Traditionen und unsere Mythen.

Erste Abteilung, erster Zug: Das deutsche Fremdeln

Nur wenige Militärnationen der Welt leisten sich den – aus historischer wie pazifistischer Sicht durchaus vernünftigen – Luxus, ein so ambivalentes Verhältnis zu ihrer Armee zu haben. Für lange Zeit war das auch kein wirkliches Problem, da die Bundeswehr – dank eingeschränkter Souveränität – ausschließlich zur Abschreckung und zur Landesverteidigung eingesetzt wurde.
Von der Leyen: "Der damalige Generalinspekteur Ulrich de Maiziére hat das sehr schön formuliert: ‚Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen.‘ Das war das Leitbild militärischer Professionalität zu dieser Zeit."
Die Bundesrepublik gab sich betont zivil, jedem öffentlichen Ausdruck militärischer Kultur wurde mit Skepsis oder gar Ablehnung begegnet und reduzierte sich so auf ein eher unauffälliges Minimum. Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass eine Art mehr oder minder entspannter Antimilitarismus in weiten Teilen der Bevölkerung Common Sense war.
Mit Ende des Kalten Krieges änderte sich die Lage dramatisch:
"Liebe Mitbürger, heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen!"
"Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt."
"Unsere Soldaten fallen, unsere Soldaten werden schwer verwundet, unsere Soldaten müssen töten. Wir Soldaten empfinden diese Situation als Krieg!"
Damit hatte die deutsche Wiederbewaffnung wieder blutige Konsequenzen, und die Debatte um Selbstverständnis und Auftrag der Armee wandelte sich – sowohl für die Soldaten als auch für die Zivilgesellschaft – von einer bloßen Ansichtssache zu einer Gewissensfrage.
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) in Masar-i-Scharif in Afghanistan mit Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.
Verteidigungsministerin von der Leyen mit Bundeswehrsoldaten in Masar-i-Scharif© Michael Kappeler/dpa

Erste Abteilung, zweiter Zug: Was bisher geschah, oder: Warum das Ganze?

Heute-Journal: "In welcher Tradition sieht sich die Bundeswehr? Seit dem Skandal um den rechtsextremen Soldaten Franco A. stellt Verteidigungsministerin von der Leyen diese Frage; von heute an soll sie neu beantwortet werden. Es ist Zufall, dass ausgerechnet heute neue Vorwürfe laut werden: feiernde Elitesoldaten sollen unter anderem den Hitlergruß gezeigt haben."
Eine sichtlich angefressene Verteidigungsministerin ging daraufhin in die Offensive.
Von der Leyen: "Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem, und sie hat offensichtlich eine Führungsschwäche."
Sie zog das Bundeswehr-Liederbuch "Kameraden singt!" – und damit Marschlied-Klassiker wie "Schwarzbraun ist die Haselnuss" oder das "Panzerlied" – zur Überarbeitung aus dem Verkehr und veranlasste eine Begehung aller Standorte.
Tagesschau: "… in den Kasernen gibt es 41 neue Funde von Wehrmachtsandenken. Die seien aber nirgendwo so schwerwiegend wie in Illkirch und Donaueschingen, beruhigt die Ministerin."
Im politischen Berlin sowie in der Bundeswehr kochten derweil die Gemüter. Ein Oberstleutnant geriet in die Schlagzeilen, weil er in einem launigen Nebensatz zum Putsch aufrief, und Politiker aller Couleur fühlten sich zu harscher Kritik berufen.
Neben heftigem Zurückrudern in Sachen Führungsschwäche und Haltungsproblem geschieht jedoch Erstaunliches. Und damit sind wir endlich beim eigentlichen Thema:
Eine breite und bemerkenswert ehrliche Debatte zum Umgang mit Geschichte, Tradition und der Frage, wie viel und welchen Platz die Wehrmacht in der Bundeswehr haben soll, wird angestoßen.
Von der Leyen: "Wir werden uns in den eigenen Reihen beschäftigen mit der Frage Traditionserlass, der 1982 zuletzt überarbeitet wurde."

Zweite Abteilung, erster Zug: Traditionsverständnis in Flecktarn

Der Ansatz: das Profil der Bundeswehr als Parlamentsarmee zu schärfen, indem man sich konsequent von allen Traditionsaltlasten der Wehrmacht befreit, erwies sich als wenig konsensfähig.
Neitzel: "Sicherlich geht der Drang der Politik dahin, endgültig damit zu brechen – alles weg! –, aber es gibt etliche Stimmen auch innerhalb der Truppe, die das anders sehen."
Die Verteidigungsministerin musste schnell feststellen, dass ein zügiger Exorzismus von Wehrmachtsrestbeständen - um damit rechtsradikalen Tendenzen den Nährboden zu entziehen -, eher als Mischung aus Bildersturm und Hexenjagd rezipiert wurde. Das scheint – angesichts der Tatsache, dass die Bundeswehr im Grunde ein ebenso radikaler wie erfolgreicher Gegenentwurf zu allen bisherigen deutschen Armeen ist – im ersten Moment erstaunlich. Vielleicht hilft ein Blick auf die paradox-fragmentarische Traditionsarchitektur der deutschen Armee. Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt.

Neitzel: "Es gibt seit 1965 einen Traditionserlass. In den ersten zehn Jahren gab‘s das nicht, dann hat man gesagt, wir müssen was machen. 65 wurde der geschrieben. Der wurde ‘82 noch mal erneuert."
Und zum 40. Jahrestag der Bundeswehr, 1995, sah sich Verteidigungsminister Rühe genötigt ohne wenn, aber und vielleicht zu formulieren, dass die Wehrmacht als Institution nicht traditionsbildend sein kann und darf.
Neitzel: "Daran kann man sehen, an diesen Eckdaten, dass das in der ganzen Zeit, in der es die Bundeswehr gab, immer ein Thema war. Auf was sollen wir uns berufen, was ist unsere Identität, wie viel Wehrmacht steckt in der Bundeswehr."
Da die Deutschen aus guten Gründen ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Militärgeschichte haben, bleibt nicht allzu viel als unbelastetes Identifikationsmaterial übrig. Im Angebot wären: die preußische Heeresreform im frühen 19. Jahrhundert, der militärische Widerstand gegen Hitler und natürlich die eigene, inzwischen über 60-jährige Geschichte der Bundeswehr selbst.
Bösartig formuliert besteht das historische Magazin der Bundeswehr also vorwiegend aus Lücken, und da fragt man sich natürlich: Kann das funktionieren, ist das genug? Vor allem aber fragt man sich angesichts der aktuellen Debatte und der Vorfälle: Wie sieht das genau aus mit der Bundeswehr und ihrem Verhältnis zur Wehrmacht? Vorsicht, jetzt wird es sehr kompliziert … und sehr deutsch.
Eine Deutschlandfahne hängt am 08.05.2017 in Donaueschingen (Baden-Württemberg) an einem Fenstersims der Fürstenberg-Kaserne. 
In der Bundeswehr-Kaserne in Donaueschingen wurden Wehrmachtsandenken gefunden.© dpa/picture alliance/ Felix Kästle

Zweite Abteilung, zweiter Zug: Wie halt ich’s mit der Wehrmacht?

Da die Wehrmacht bekannterweise der freiheitlich-demokratischen Grundordnung diametral entgegenstand, dürfte der Fall doch eigentlich klar sein? Oberst Dr. Frank Hagemann vom Zentrum für Militärgeschichte der Bundeswehr:
"Die Wehrmacht als Organisation ist nicht traditionsstiftend! Von daher haben wir da eine ganz klare Trennung! Das heißt aber nicht, dass nicht einzelne Soldaten der Wehrmacht traditionsbildend sein können."
Und schon sind wir mittendrin in der Trauma-induzierten Dialektik deutscher Vergangenheitsbewältigung! Da wir im Fall der Wehrmacht von unseren Vätern und Großvätern sprechen, schrecken wir vor der folgenden – eigentlich recht naheliegenden – Argumentationskette zurück: Wer Mitglied einer Organisation war, die als ausführendes Organ für Vernichtungskrieg und Völkermord verantwortlich ist und damit durchaus als verbrecherische Organisation anzusehen ist, war – in welchem Ausmaß auch immer – an den Verbrechen beteiligt, trägt eine Mitschuld an den Verbrechen, und – ich sage es nur ungern – ist damit ein Verbrecher. Mit dieser Sichtweise auf den kollektiven Kulturbruch macht man sich keine Freunde.
Hagemann: "Ein Soldat der tapfer gekämpft hat, aber in einem verbrecherischen Krieg gedient hat, da kann man nicht die Tapferkeit von dem verbrecherischen Charakter des Krieges lösen. Es muss eine Leistung sein, die für den Soldaten der BW heute noch beispielhaft ist. Da ist der Maßstab unser Rechtsstaat, das Grundgesetz und das Soldatengesetz. Wer Verbrechen begangen hat, kann nicht traditionsbildend für die BW sein."
Wenn man also davon ausgeht, dass es Wehrmachtssoldaten theoretisch möglich war, unter Einhaltung der ethischen Normen des Grundgesetzes an einem durch und durch verbrecherischen Krieg teilzunehmen: Was spricht dann eigentlich prinzipiell gegen zum Beispiel das Landserbild auf der Kasernenstube? Auch da kann uns Oberst Hagemann weiterhelfen. Er leitet die "AmR", die "Ansprechstelle für militärhistorischen Rat". Diese wurde Mitte 2017 eingerichtet, nachdem Ministerin von der Leyen die Entfernung von dekorativen Weltkriegsrestbeständen aller Art aus den Kasernen anordnete. Da kuratorische Tätigkeiten eher nicht zum Aufgabenbereich von Standortbefehlshabern gehören, können sie sich dort Rat für den Umgang mit Wehrmachtsdevotionalien holen.
Hagemann: "Ein Wehrmachtshelm in einer militärgeschichtlichen Sammlung, die der kritischen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg dient, ist keine Devotionalie. Ein Wehrmachtshelm, der in einer Weise ausgestellt wird, die der Verherrlichung der Wehrmacht oder des Soldatenseins in der Wehrmacht dient, das ist eine Devotionalie! Es kommt also auf den Kontext an."
Ein Helm, ist ein Helm, ist ein Helm ... Oder eben ein anscheinend dringend notwendiges didaktisches Werkzeug, um die inhaltlichen Unterschiede zwischen Wehrmacht und Bundeswehr deutlich zu machen. Ein bisschen mehr historisches Bewusstsein könnte angesichts der Stubendekoration, wie sie zum Beispiel in der Kaserne Illkirch ans Licht der Zivilöffentlichkeit kam, nicht schaden.

Schlaffer: "Wie komme ich auf die Idee, da einen Wehrmachtssoldaten abzubilden!? Der Wehrmachtssoldat hat doch gar nichts mit meiner Bundeswehrzeit zu tun?"
Oberstleutnant Dr. Rudolf Schlaffer, Veteran der Bundeswehreinsätze im Kosovo, in Bosnien und Afghanistan - als Referent im Bundesverteidigungsministerium zuständig für Militärgeschichte und Fragen der Tradition:
Schlaffer: "Das ist einfach unreflektiert gewesen, in Ermangelung, weil man nichts anderes gefunden hat oder den so martialisch fand. Viele kennen gar nicht den Unterschied, ist das ein Wehrmachtssoldat oder ein Soldat der kaiserlichen Kontingentarmee. Daher kommt die Verwirrtheit, diese Unklarheit, und das hat sich auch auf die Soldaten ausgewirkt."
Ein zukünftig etwas kontextsichererer Umgang mit Militaria sollte machbar sein. Der Umgang mit dem historischen Personal ist da schon deutlich heikler. Wie erwähnt, es könnte sich ja um einen unserer Großväter handeln, oder einen Alt-Bundeskanzler….
Gauland: "Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt in Wehrmachtsuniform gehört zu uns! Und wenn die SPD zulässt, dass eine wildgewordene CDU-Ministerin Schmidt entsorgt, dann stehen wir auf! Er ist ein patriotischer Deutscher gewesen!"
Herr Gauland bezieht sich hier auf die Entfernung eines Schmidt-Bildes aus den Fluren der gleichnamigen Bundeswehrhochschule. Auch das ein Fall für die "Ansprechstelle für militärhistorischen Rat".
Hagemann: "Klar ist, dass Helmut Schmidt nicht wegen der Zugehörigkeit zur Wehrmacht für die BW traditionsstiftend ist. Er ist für uns traditionsstiftend als Bundeskanzler und ehemaliger Verteidigungsminister. Die Zugehörigkeit zur Wehrmacht gehört zu seiner Geschichte. Die dürfen wir nicht verleugnen, aber wenn wir das ausstellen wollen, dann müssen wir deutlich machen, warum Schmidt für uns traditionswürdig ist. Wir geben der Truppe Hilfe, diesen Kontext herzustellen."
... und wie sieht der Kontext aus, der den Oberleutnant Schmidt traditionsstiftend macht?
"Wir haben das Bild eingeordnet, also es gibt einen Begleittext. Empfohlen wurde auch, dass ein weiteres Bild von H. Schmidt aufgehängt wird, wo man ihn nicht nur als Angehörigen der Wehrmacht sieht, sondern auch sieht, welche Leistungen er in der Bundesrepublik erbracht hat."
Abgesehen vom absurden Charme der subtil-bürokratischen Lösung des Geschichtsbewältigungs-Konfliktfalls steht zu befürchten, dass es seine Gründe hatte, warum man sich nicht für ein offizielles Kanzlerporträt entschieden hat. Vielleicht weil der Wehrmachts-Schmidt nicht nur für die AfD, sondern auch für den Offiziersnachwuchs ein höheres Identifikationspotenzial hat als der Politiker?
Traditionsworkshop der Bundeswehr
In Workshops will die Bundeswehr Traditionen erkunden.© Deutschlandradio / Christian Ahlborn

Dritte Abteilung, erster Zug: ‘65 – ‘82 – 2017: Der neue Traditionserlass

Von der Leyen: "Auch unsere Gesellschaft hat sich in den Jahrzehnten seit 1982 stark verändert. Sie ist in vielem offener geworden, in manchem kritischer."
Mauerfall, Ende des Kalten Krieges, Auslandseinsätze, Aussetzung der Wehrpflicht …
Von der Leyen: "Fragen der nationalen Identität, der Sinn des Heroischen ist und war Gegenstand vieler, oft schwieriger Debatten. All dieses wirkt sich auf unser Verständnis von militärischer Tradition aus. Jetzt ist es Zeit, sich unserer Tradition neu zu vergewissern."
Ein Blick auf den ersten Entwurf der Neufassung des Traditionserlasses verrät: Die Revolution scheint auszubleiben. Es geht nicht um eine Neuausrichtung oder Neubewertung des ethisch-historischen Arsenals der Bundeswehr, sondern eher um eine pragmatische Aktualisierung. Viele wird das enttäuschen, viele werden erleichtert aufatmen. Und das ist wahrscheinlich auch gut so – oder zumindest unvermeidlich –, denn es geht um einen gewaltigen Konsens-Spagat. Es muss ein Entwurf gefunden werden, der sowohl für die Zivilgesellschaft, als auch für die Soldaten funktioniert, die in unserem Auftrag im Einsatz Leib, Leben und seelische Unversehrtheit riskieren.
von der Leyen: "Ebenso müssen wir unser Traditionsverständnis und die gelebte Praxis von Tradition auch anschlussfähig halten an das Geschichtsverständnis unserer Gesellschaft. Nur wenn unsere Gesellschaft versteht, was wir denken, wie wir fühlen, wie wir unsere Vorbilder setzen, kann sie auch aus tiefsten Inneren stolz auf uns sein, sie muss uns verstehen!"

Dritte Abteilung, zweiter Zug: Schön, dass wir darüber geredet haben ...

... schön, dass die Bundeswehr darüber geredet hat. Soweit dies für einen außenstehenden Nicht-Uniformträger zu beurteilen ist, hat sich das Verteidigungsministerium ernsthaft Mühe gegeben, eine bundeswehrweite Diskussion anzustoßen und zu moderieren.
Traditionsworkshop: "Meine Damen und Herren, unsere Absicht war es, die Bearbeitung des Traditionserlasses nicht im stillen Kämmerlein, sondern im transparenten, inklusiven, breit angelegtem Beteiligungsprozessen durchzuführen ..."
Der Entwurf des neuen Traditionserlasses basiert so zum Beispiel auch auf dem Stimmungs- und Meinungsbild, das im Rahmen von Workshops erhoben wurde. Mit streckenweise durchaus divers-meinungsfreudiger Diskussionskultur, die man – aus Zivilisten-Perspektive – so in den Sphären von "Befehl und Gehorsam" nicht erwartet hätte.
Traditionsworkshop: "Was hat denn die deutsche Polizei für ein Traditionsverständnis. Spontan war meine Antwort: Das ist kein großes Thema in der Polizei."
Kurz, die Umsetzung bundeswehrinternen Debatten um den Traditionserlass ist als Indiz dafür zu werten, dass neben der Pflege der klassischen soldatischen Tugenden auch demokratische Meinungsbildung durch "Bürger in Uniform" inzwischen so etwas wie eine Bundeswehrtradition ist. Womit Bundeswehr und Bundesrepublik weiter leben werden müssen, ist die Hypothek der – zugegeben subtilen – Traditionslinien die in die Wehrmacht zurückreichen.
Bundeswehr Traditionsworkshop
Hochkarätig besetzt: Der Traditionsworkshop ist offenbar nicht die Sache von einfachen Soldaten.© Deutschlandradio / Christian Ahlborn

Dritte Abteilung, dritter Zug: Keine Bundeswehr ohne Wehrmacht

Man kann der Bundeswehr keine mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung der Rolle und der daraus resultierenden Verbrechen ihrer Vorgängerarmee vorwerfen. In den letzten Jahren wurden im Rahmen der Bundeswehr-Strukturreform die allermeisten der Kasernen, die noch nach historisch belasteten Generälen oder Ritterkreuzträgern benannt waren, aufgelöst oder umbenannt.
Hagemann: "In der Tat ist feststellbar, dass die Auseinandersetzung um Kasernennamen eingebettet ist in die Auseinandersetzung um Straßennamen und Namen von Plätzen in den Kommunen. Mein Eindruck ist, dass die Bundeswehr in diesen Fragen häufig einen sehr viel engeren Maßstab anlegt als die Kommunen!"
Die Verbindungen zu fragwürdigen Traditionsverbänden wurden gekappt, und die Bundeswehr überlegt sich heute sehr genau, wo, mit wem und im Rahmen welcher Gedenkveranstaltung sie einen Kranz niederlegt.
Was jedoch, trotz von der Leyens forschen Vorgehens zu Beginn der Debatte, nicht stattfinden wird, ist ein harter Schnitt in Sachen Wehrmacht. Falls es eine Chance gab, festzulegen, dass die inzwischen über 60-jährige Geschichte der Bundeswehr genug zu bieten hat, um daraus ein vollkommen eigenständiges, tragfähiges Selbst- und Traditionsverständnis zu konstituieren, dann wurde sie verpasst. Das liegt allerdings wahrscheinlich weniger in soldatischer Wehrmachts-Nostalgie begründet, als in der historischen Konstruktion der Bundeswehr selbst.
Neitzel: "Die große Frage ist, hat die deutsche Geschichte vor ‘45 irgendwas mit der Bundeswehr zu tun? Ist das nicht nur Geschichte, sondern auch Tradition? Gibt es Elemente, auf die man sich berufen soll, oder gibt‘s die eben nicht? Darum geht die Debatte, die ist uralt. Wir stehen in einer deutschen militärischen Tradition mit all ihren Problemen, aber auch mit den guten Seiten, militärisch gesehen."
Nur der Neugier halber, was hatte die Wehrmacht an guten Seiten zu bieten?
"Wir tun uns als Zivilisten extrem schwer, einen militärischen Referenzrahmen einzunehmen! Da ist mein Argument, wenn wir auf das militärische Handwerk gucken, das es durchaus in einem Traditionsmix einzelne Bestände gibt vor ’45, und die können durchaus traditionsbildend sein, und wir sollten so souverän sein, dass wir auch damit umgehen können."
Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt.
"Wie stellt man sich heute einen guten Panzeroffizier vor, und zwar nicht als Parlamentarier, sondern als Soldat? Dann stellt man fest, das sind Bilder, die im Bewegungskrieg im Zweiten Weltkrieg entstanden sind."
Das Dilemma, ob technisch hervorragendes Soldatenhandwerk – im Sinne einer Armee, die sich primär der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet sieht – eben wirklich ein Vorbild sein kann, wenn es verbrecherischen Zielen diente, hat faustische Qualitäten, die bis in das Herzstück des Bundeswehr-Traditionskonstrukts hineinreichen.
Neitzel: "Die Frage, ist man bereit, diese Unterscheidung zu machen, ja oder nein? Dann habe ich auch ein Problem mit den Männern des 20 Juli. Wir lösen Tresckow aus seinem militärischen Umfeld heraus und betrachten nur den 20. Juli, das andere lassen wir weg, das machen wir auch mit Stauffenberg. Wenn wir das machen, wenn wir bereit sind, mit ‚Copy & Paste‘ zu arbeiten, dann muss ich auch bereit sein, unter bestimmten Rahmenbedingungen das Militärische zu betrachten. Wir haben eben eine Militärkultur, eine militärische Ebene."
Anscheinend müssen wir damit leben, dass die Bundeswehr, obwohl sie ein radikaler Gegenentwurf zur Wehrmacht ist, nicht ebenso radikal mit ihren Wehrmachtswurzeln brechen kann und will.
Ein Pilot und ein Techniker arbeiten im Rahmen des Einsatzes Counter DAESH am 08.01.2016 in Incirlik (Türkei) an einem Recce-Tornado der Luftwaffe der Bundeswehr.
Ein Pilot und ein Techniker am 8. Januar 2016 in Incirlik / Türkei.© Bundeswehr/Falk Bärwald/dpa

Dritte Abteilung, vierter Zug: Was braucht der Soldat?

Sicher, der Umgang der Bundeswehr mit ihren Traditionen ist – oder sollte zumindest – eine gesamtgesellschaftliche Debatte sein. Schließlich geht es um den Umgang der Bundesrepublik mit ihrer Geschichte. Die berufsbedingt spezielle Perspektive von unseren Soldaten und Soldatinnen ist vielleicht sogar ein besonders wertvoller Beitrag zur Konsensbildung, da sie Erfahrungen damit gesammelt haben, was unsere Werte eigentlich wirklich wert sind, wenn es darauf ankommt. In Extremsituationen ... Wie zum Beispiel bei der "Verteidigung unserer Freiheit am Hindukusch"! Aber im Grunde sollte es zuallererst darum gehen, was die Menschen brauchen, die wir als Gesellschaft beauftragen, unsere Interessen unter Einsatz von Leib, Leben und seelischer Unversehrtheit durchzusetzen.
Neitzel: "Eine Tradition muss für beide Seiten, also für Staatsbürger, aber auch für den Staatsbürger, der kämpft, für beide Seiten muss die Tradition Angebote machen. Bisher ist es so, dass sie nur für den Staatsbürger ein Angebot macht, weil das Kämpfen und so, das passt nicht in unseren Diskurs."
… und da ist der bisherige Traditionserlass ganz offensichtlich ein Angebot an den Staatsbürger in Zivil, da er das Kämpfen elegant ausspart.
Neitzel: "Ich glaube, ganz viel von der Traditionsdiskussion wird von dem einfachen Soldaten nicht verstanden. Was soll mir denn, wenn ich in Mali bin, der 20. Juli sagen, oder die preußischen Reformen?"
Schreiber: "Ich brauche Vorbilder, die brauche ich! Wenn ich einem jungen Menschen sage: da vorne müssen wir jetzt hin, und es kann sein, dass uns jemand auf dem Weg mit Kugeln eindeckt, oder wir in einen Hinterhalt geraten, kann ich dem das nicht damit klarmachen, dass ich sage, ‚du kriegst dann ‘ne Tüte Gummibärchen‘, ich übertreib das jetzt mal bewusst. Sondern das kriege ich, in dem ich sage, da gab es einen Jan Hecht, der mit seiner Einheit auf dem Weg war, anderen zu helfen, und sich dann aus einem Hinterhalt herausgekämpft hat, um die vor dem sicheren Tod zu retten."
Björn Schreiber vom "Bund deutscher Einsatzveteranen", der sich als Interessenvertretung und Hilfsorganisation für im Einsatz traumatisierte Bundeswehrsoldaten engagiert.
Schreiber: "Ich persönlich habe mich tatsächlich militärisch an anderen orientiert, an Kameraden, die man kennt, die im Einsatz waren, mit dem man Dinge schlichtweg erlebt hat, sich an dem zu orientieren und an denen, die in den Gefechten von Karfreitag 2010 gesteckt haben, wie tapfer und mutig die sich da durchgekämpft haben. Das waren meine Vorbilder. Ich stelle mal ein paar Namen in den Raum: Jan Berges, Alexander Dietzen, Hendrik Lukacz, Markus Geist. Das sind die ersten vier Soldaten die wieder ein Ehrenkreuz für Tapferkeit verliehen gekriegt haben im Jahre 2009. Die kennt keiner! Nirgendwo hängen die Bilder in den Kasernen, damit ich mich an denen orientieren kann."
Also im Prinzip das, was auch einer der Schwerpunkte des neuen Traditionserlasses ist, ein verstärkter Fokus auf die eigene Geschichte der Bundeswehr.
Aber sich weg von abstrakten Meta-Traditionen wie den preußischen Heeresreformen hin zu konkreten Ereignissen und Erfahrungen wie den Kampfeinsätzen in Afghanistan zu orientieren, hat auch einen Haken: Sie sind deutlich weniger beruhigend abstrakt!
Und da sind wir wieder beim Diskursproblem, denn es geht explizit um Begriffe wie Heldenmut, Tapferkeit, um das "Sich-für-das-Vaterland-opfern". Also um Wörter und Werte, die in dem postheroischen Durchschnittszivilisten ein gepflegtes Unbehagen auslösen, eben weil sie in der deutschen Geschichte eng mit unsäglichem Leid verbunden sind. Und es wird noch unbehaglicher. Oberstleutnant Rudolf Schlaffer:
"Soldaten identifizieren sich über die Ultima Ratio. Das sind Gefecht und Kampf. Das ist durch die Auslandseinsätze wieder verstärkt ins Bewusstsein gekommen. Wenn ich in den Auslandseinsatz gehe, dann schießt jemand auf mich, und ich bin gezwungen, selbst zu schießen. Das stiftet natürlich andere Identifikationsbande. Das ist ein wichtiger Aspekt des Traditionsverständnisses. Inzwischen ist es auch so, dass durch die Einsatzerfahrung, durch Kameraden die gefallen oder verletzt worden sind, gerade gefallene Kameraden auch schon vorgeschlagen werden im Rahmen der Tradition berücksichtigt zu werden und das ist natürlich der Idealfall!"
Es geht also, sehr böse ausgedrückt, zurück in Richtung Heldenkult und eine Tradition, die auf der Verehrung "gefallener Kameraden" basiert – das scheint der Preis für eine Einsatzarmee zu sein. Das Ganze könnte jedoch auch einen erfreulichen Nebeneffekt haben. Björn Schreiber vom "Bund deutscher Einsatzveteranen":
"Der Soldat schwört: ‚Ich schwöre, der Bundesrepublik tapfer zu dienen.‘ Und dann fragt er mich: ‚Was ist tapfer, wer ist tapfer?‘ Und dann guckt er und findet keine Vorbilder in der Bundeswehr, dann guckt er woanders zurück, und da findet er Bilder von Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben. Da muss man dann schauen, hängt das an einer rechtsradikalen Gesinnung der Soldaten, oder liegt es daran, dass ich schlicht keine Vorbildmuster bieten kann? Und da sind wir wieder bei der dritten Traditionslinie, wenn ich keine Vorbilder aufbaue, kann ich auch keine Vorbilder bieten!"
In einem Schrank liegt die Mütze eines Bundeswehr-Soldaten.
Auf welche positiven Traditionen will sich die Bundeswehr beziehen?© Deutschlandradio / Christian Ahlborn

Vierte Abteilung – Nachhut

Wahrscheinlich kommt die Debatte um den Umgang der Bundeswehr mit ihren Wehrmachtstraditions-Hinterlassenschaften und die Suche nach einem Modell, das sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Referenzrahmen praktikabel wäre, zur rechten Zeit angesichts eines virulenten völkisch-nationalen "Rollbacks" in Teilen der Bevölkerung und des Versuchs, das dazu passende Geschichtsbild im öffentlichem Diskurs zu verankern.
Gauland: "Wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Churchill und Nelson, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen!"
Abgesehen davon, dass weder wir noch die Bundeswehr so einfach die Wehrmacht loswerden, also weiterhin mit unserer Geschichte leben und arbeiten müssen, bringt Sönke Neitzel die eigentliche Problematik in der Auseinandersetzung um militärische Traditionen auf den Punkt:
"Ich sehe das Problem, dass wir eigentlich uns eine zivile Bundeswehr wünschen; die kann es aber mit diesem Auftrag nicht geben! Und das ist das Problem im gesellschaftlichen Diskurs, entweder wir haben Streitkräfte ... Kampftruppen, … dann müssen wir akzeptieren, was das heißt. Die Truppe will in ihrer sozialen Realität ein positives Bild haben, die wollen ihre Orden haben, die wollen auch ihre Mythen haben. Wir müssen das akzeptieren oder wir schaffen sie ab, das könnten wir ja machen. Wenn wir sie nicht abschaffen wollen, dann müssen wir zum scharfen Ende der Streitkräfte stehen, sonst ist das den Soldaten gegenüber, die da ihren Kopf hinhalten, unfair."

Bundeswehr-Werbespot: "Bei uns gibt es kein Ich, bei uns gibt es nur ein WIR! WIR DIENEN DEUTSCHLAND!"
Also, egal ob und aus welchen Gründen wir bei zackigen Tönen wie diesen eine Gänsehaut bekommen ... da müssen wir durch!
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