Tradition ohne Tradition

In ihrer heiteren Kulturgeschichte dekonstruieren Heide und Kathrin Hollmer die "erfundene Tradition" des Dirndls: Als Kopie ohne Original existiert es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als das städtische Bürgertum das Landleben für sich entdeckte.
"Lollipop & Alpenrock", "Mein Herzblut" oder "Gottseidank" - so heißen junge Designerlabel, die das Dirndl in den letzten Jahren radikal neu interpretiert haben. Zum Leidwesen traditionsbewusster Zeitgenossen bevölkern heute Frauen im filigranen Glamour-Dirndl das Münchner Oktoberfest, wenn sie nicht gerade in "Think Pink" oder dem berüchtigten "Totenkopf-Dirndl" auftauchen. Für den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer ist das eine "Todsünde", die Verramschung einer kulturellen Tradition. Doch auf diese vermeintliche Tradition, das macht Heide und Kathrin Hollmers Dirndl-Buch deutlich, können sich die Kritiker des Party-Dirndls gerade nicht berufen.

Die Autorinnen erzählen die Geschichte des Dirndls als relativ junge Erfindung. Als Ende des 18. Jahrhunderts der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau die Devise "Zurück zur Natur" ausgibt, kommen beim städtischen Adels- und Bürgertum die Ferien auf dem Lande in Mode. Um 1850 beginnen die Alpen-Touristinnen, den Arbeitskittel weiblicher Dienstboten zu adaptieren. Da der bedeutungs- und bis dato namenlose Leibchenrock mit Unterhemd und Schürze außerhalb der Tracht steht, lässt sich das Arbeitsgewand beliebig verändern. Es ist die Geburtsstunde des Dirndls, das seitdem die urbanen Sehnsüchte nach einer "ursprünglichen", heilen Welt widerspiegelt: Von den romantischen Träumen des 19. Jahrhunderts über völkisch-rassistische Fantasien zur Zeit des Nationalsozialismus bis zu den affirmativen oder auch ironischen Parodien auf das Landleben von heute.

In Kapiteln von A bis Z räumen so die Literaturwissenschaftlerin Heide Hollmer und ihre Nichte Kathrin mit einigen Mythen über das Dirndl gründlich auf. Sie machen den Hütern der Tradition nicht nur die Vorstellung eines authentischen Dirndls streitig, sie beschreiben auch, wie sich der Alpen-Look erst in den 1970er-Jahren etwa auf dem Münchner Oktoberfest durchsetzen konnte. Das heiter geschriebene Buch ist eine Spurensuche und zeigt, wie sich das Dirndl-Tragen als erfundener Brauch verankern konnte und bis heute als Projektionsfläche für Fantasien über das Landleben funktioniert.

Mitunter wechselt das Sachbuch ins affirmative Genre des Fan-Magazins, wenn etwa gymnastische Übungen für einen prallen Dirndl-Busen oder Rezepte für Lebkuchenherzen erläutert werden. Über diese kleinen inhaltlichen Ausrutscher tröstet jedoch das fantastische Layout hinweg, für das das Dirndl-Buch im Februar mit einem Design-Preis geehrt wurde.

Heide und Kathrin Hollmers Kulturgeschichte des Dirndls ist mit großformatigen Farbdrucken aktueller Dirndl-Modelle umfangreich illustriert. Die Kombination von poppigen Farben mit altdeutscher Schrift und die Verwendung klassischer Dirndlmuster als Kapiteltrenner machen das Buch zu einem echten Hingucker. Eine überraschend lesenswerte Dirndl-Dekonstruktion!

Besprochen von Tabea Grzeszyk

Heide und Kathrin Hollmer: Dirndl
Edition Ebersbach, Berlin 2011
128 Seiten, 25,00 Euro
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