Toter Blick vor dem Kindsmord

Von Stefan Keim |
Eine begeisternde Inszenierung liefert Karin Beier mit „Das goldene Vlies“ und führt damit das zuvor dahin dümpelnde Schauspielhaus Köln zu Metropolenformat. Nicht nur Maria Schrader als Medea beindruckt, sondern das ganze Ensemble glänzt in der dreiteiligen Tragödie von Franz Grillparzer.
Medea schaut direkt ins Publikum. Gleich wird sie hinter die Bühne gehen und ihre Kinder töten. Die Augen sind tot, das Gesicht der Schauspielerin Maria Schrader scheint um Jahre gealtert. Der Anblick schnürt einem die Kehle zu. Langsam geht sie ab.

Die Pause ist lang. Dann kommt sie zurück, blutverschmiert. Von der anderen Seite der Bühne tritt Jason auf, vernichtet, andere Schreckensbilder im Kopf. Zwei Menschenschatten allein im großen Raum, jenseits der Verzweiflung.

Karin Beier inszeniert in Köln Franz Grillparzers Tragödientrilogie „Das goldene Vlies“, nicht nur den bekannten letzten Teil um Medeas Demütigung und Rache. Sie findet für jedes dieser „dramatischen Gedichte“ eine andere Ästhetik.

Beier beginnt mit Mitteln der antiken Tragödie. Mit überdimensionalen Masken vor den Köpfen erzählen die Schauspieler stark stilisiert, wie der Grieche Phryxus auf der Insel Kolchis ermordet wird, obwohl er Gastrecht genießt. Grund ist die Gier nach dem goldenen Vlies. Dann fallen die Masken, Held Jason – derselbe Schauspieler, ein anderer Grieche – kommt, um das Vlies zurück zu holen. Es gelingt ihm, weil sich Königstochter Medea in ihn verliebt.

Beide packt eine animalische Anziehung, ihre Liebe zeigt Karin Beier als Kampfchoreografie. Wie sich in diesem Teil überhaupt Gefühle meistens in körperlichen Aktionen manifestieren. Jens Kilians Bühne besteht aus einem tischähnlichen Podest und ein paar Stühlen. Alle Schauspieler tragen im ersten Teil weiße Hemden und schwarze Hosen.

Die optische Kargheit erinnert an ein Lehrstück Brechts und hat eine klare Botschaft. Kolcher und Griechen, Barbaren und Zivilisationsmenschen sind nicht zu unterscheiden. Karin Beier meidet oberflächliche Aktualisierungen. Alle lieben und morden, sind zur Zärtlichkeit ebenso fähig wie zur Brutalität. Fremdheit ist Vorwand, dahinter verbergen sich Angst und die Suche nach dem eigenen Vorteil.

Im dritten Teil, der in Europa spielt, arbeitet Karin Beier mit psychologischer Tiefenschärfe. Die Schauspieler tragen nun individuelle bürgerliche Kleidung. Medea will sich anpassen, es ist Jason, der den Druck nicht aushält. Carlo Ljubek wandelt sich vom maskulinen Helden zum latent aggressiven Waschlappen. Das Umherirren, die Suche nach Asyl hat ihn innerlich aufgerieben.

Die Königstochter Kreusa könnte- blond, knuffig und langbeinig – eine Wohltätigkeitslady sein. Patrycia Ziolkowska spielt eine höhere Tochter, die gern mal richtig leben würde und Ersatzbefriedigungen sucht. Sie merkt gar nicht, dass sie Medea die Kinder wegnimmt und sie zutiefst verletzt. Und sie weint, als Medea in einem Wutanfall das Cello zertrümmert. „Es ist tot“, seufzt Kreusa und trägt das Instrument wie ein totes Kind nach hinten. Das ist nicht lächerlich, die Szene berührt, weil Kreusa wenig hat außer dem Cello. Auch die Blonden und Langbeinigen können sehr einsam sein.

Beide Könige – der von Kolchos und Kreon aus Korinth – werden von Manfred Zapatka verkörpert. Er zeigt verschiedene Herrschertypen, die vereint, dass sie jede Unmenschlichkeit in Kauf nehmen im Glauben, ihr Land zu beschützen. Und beide lösen gerade durch ihren Sicherheitswahn Katastrophen aus. Wo man auch in dieser Inszenierung inne hält und nachdenkt, stellen sich Bezüge zur aktuellen Nachrichtenlage her.

Nur vier Schauspieler bringen die ganze Tragödientrilogie auf die Bühne, die Doppelbesetzungen sind genau durchdacht und richten den Blick über die Einzelschicksale hinaus auf die Strukturen dahinter. Chefdramaturgin Rita Thiele hat mit Karin Beier die dichte, kluge Spielfassung erstellt. Und das Kölner Ensemble glänzt, gleich in der ersten Spielzeit hat Intendantin Beier das zuvor dahin dümpelnde Haus zu Metropolenformat geführt.

Die dramaturgische Klarheit dieser Saison begeistert ebenso wie die Vielfalt der Formen. Fremdheit, Angst und das schwierige Zusammenleben in der multikulturellen Gesellschaft werden an kaum einem Schauspielhaus so beharrlich reflektiert wie in Köln. Das gilt für Karin Beiers Inszenierungen der „Nibelungen“ und des „Goldenen Vlies“ ebenso wie für die „Kölner Affäre“, Alvis Hermanis‘ eigener Variante des Dokumentartheaters. Und natürlich für die Nonstop-Performance „Die Erscheinungen der Martha Rubin“, die es bis zum Berliner Theatertreffen geschafft hat.

Köln hat sich unter die führenden deutschen Theatern zurückgemeldet, durch eine Mischung aus inhaltlicher Genauigkeit, ästhetischer Offenheit und einem spannenden Ensemble, das größtenteils aus ungewöhnlichen Individualisten besteht.

Das goldene Vlies
Von Franz Grillparzer
Inszenierung: Karin Beier
Schauspielhaus Köln