Total zivilisiert

Von Bernd Wagner |
Als Norbert Elias den Zivilisationsprozess als Sublimierung unserer animalischen Triebe durch staatliche Erziehung beschrieb, konnte er nicht ahnen, zu welchen Höhen sich unsere Zivilisiertheit schon 40 Jahre später erheben würde.
Der heutige Mensch abendländischer Herkunft - für den eine treffendere Bezeichnung als die des "homo sapiens" zu suchen man langsam erwägen sollte - findet sich bereits in seiner Wiege in ein dichtes Netz von Bindungen, Verpflichtungen und zukunftsweisenden Maßnahmen eingesponnen, das zu durchreißen ihm äußerst schwerfallen wird.

In den besten Fällen ist die erste Lebensversicherung bereits abgeschlossen, auf jeden Fall liegen seine Daten den verschiedensten Ämtern, Registern und Werbeagenturen vor und steht sein Einschulungstermin unwiderruflich fest. Die Straße wird er, bewacht von Eltern oder Kindergärtnerinnen, nur als Einkaufsmeile kennenlernen und nicht etwa, um "Räuber und Gendarm" zu spielen und dabei seine kriminellen oder kriegerischen Neigungen zu entfachen.

Später kommen die disziplinierenden Maßnahmen der Schulbildung hinzu, deren zugegebenermaßen noch existierende Verbesserungsfähigkeit mehr als ausgeglichen wird durch die Zwänge des beruflichen Werdegangs. Der Auszubildende, früher diskriminierend "Lehrling" genannt, wird ebenso wenig das drohende Abschlusszeugnis vergessen wie der Student, der obendrein die Rückzahlungspflicht für sein "BAföG" nicht aus den Augen verlieren darf.

Wer später seinem Chef oder seinen heuchlerischen Arbeitskollegen kein Stein des Anstoßes sein will, wird seine eventuell noch vorhandenen aggressiven Neigungen bezähmen müssen. Wer dies nicht kann oder will oder aus anderen Gründen arbeitslos wird, muss deshalb die gesamtgesellschaftliche Fürsorge nicht entbehren und kann sich beim Ausfüllen von Formularen, beim Warten auf das Aufleuchten seiner Nummer und dem Umgang mit Behördenvertretern zivilisieren lassen.

Welchen der - in nicht allzu irritierend großer Auswahl zur Verfügung stehenden - Lebenswege der Einzelne auch einschlagen mag, dem mächtigsten Mittel, aus uns Urmenschen einen bewussten Bürger zu formen, kann er kaum entkommen. Ich meine damit das Fernsehen und dabei erst in zweiter Linie, dass er dafür regelmäßig GEZ-Beiträge zu zahlen hat. Viel wichtiger ist seine grundsätzliche, selbst in den Stunden des Schlafes nicht unterbrochene Präsenz.

Obwohl der von uns trotz aller Notwendigkeit zur Triebsublimierung am höchsten gehaltene Wert, der der Freiheit, durch die freie Kanalauswahl nicht angetastet wird, ist in Anbetracht der Austauschbarkeit der Programme unsere Bildung zum anpassungsfähigen Untertanen - Verzeihung, ich meine natürlich mündigen Bürger - niemals gefährdet.

Und hiermit kommen wir wieder zu Norbert Elias, denn die Rolle, die nach seiner Theorie dem königlichen Hof bei der Zivilisierung seiner fränkischen Untertanen zukam, erfüllt heute das Fernsehen. Alle Adligen von einiger Bedeutung hatten durch ihre Präsenz am Hof dem König zu beweisen - und Ludwig der XIV. hatte ein Personengedächtnis, das eines Walter Ulbricht würdig war -, dass sie nicht gerade auf ihren Schlössern Umsturzpläne und die dazu nötigen Schwerter und Hellebarden schmiedeten.

Wir sind zwar keine Adligen, doch potentiell gefährlich sind auch wir - wenn wir nicht vor dem Fernsehgerät sitzen. Ob wir nun dabei Flaschenbier oder Hagebuttentee trinken, vor ihm sind wir alle gleich in unserer Rolle als schweigende Zuschauer und Zuhörer, die selbst bei den aberwitzigsten Talkshows nicht auf den Tisch hauen und dazwischenrufen können.

Trotzdem, oder vielleicht gerade wegen der fehlenden Möglichkeit des Widerspruchs, erfüllt die Television heute die Funktion der für jede Zivilisation so wichtigen Sprachnormierung nicht weniger effektiv als einstmals der Hof von Versailles. Wiewohl sich unser Fernsehdeutsch noch nicht mit der Glätte und Eleganz des Französischen messen kann, leistet es doch bei unserer Erziehung zu lupenreinen Demokraten Erstaunliches. Wer niemals vergisst, auf den "Bürger" die "Bürgerin" folgen zu lassen, wird die Gleichberechtigung auch im Alltag praktizieren; wer die "Neger" und "Zigeuner" durch "Farbige" und "Roma" ersetzt, hat den Rassismus in sich ausgemerzt; wer das Wort "Pogrom" nicht benutzt, wird keinen mehr begehen. Oder unterliege ich da einem Trugschluss?

Bernd Wagner, Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997), "Club Oblomow" (1999) und "Wie ich nach Chihuahua kam". Zuletzt erschien "Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler".