Topografie des alten Paris

Die "Straße der Verwünschungen" im Quartier Latin - aus der Sicht des Autors Jacques Yonnet ist sie das heimliche Kraftfeld der Stadt Paris. Knapp 50 Jahre nach ihrem Erscheinen sind die magischen Geschichten des Dichters, Zeichners und Kneipenforschers auf Deutsch erschienen.
Die Rue des Maléfices liegt im Pariser Quartier Latin und heißt heute Rue Xavier Privas: eine Fußgängerzone mit Restaurants, Imbissen und kleinen Läden für Touristen. Das mittelalterliche ehemalige Bohème- und Studentenquartier hat sich sehr verändert seit der Zeit, als Jacques Yonnet (1915 bis 1974) hier sein geselliges Wesen trieb. Das war vor allem während der deutschen Besatzung und in den Jahren danach, als es noch billig, schmutzig, schräg und manchmal auch richtig lausig war.

In den Kaschemmen trafen die Lumpensammler und Kriminellen auf Spitzel, verkrachte Künstler, Propheten, Hexen, Nutten und Heilige. Yonnet, der aus der Armee desertiert und zeitweilig unter falschem Namen in der Résistance aktiv war, interessierte sich jedoch am allermeisten für die esoterische Seite der Gegend um die Rue Mouffetard und die Rue Maubert: Für ihn steckten die mittelalterlichen Gassen am linken Seine-Ufer voller Geheimnisse. Sie lagen unter dem Bann schrecklicher Flüche und waren doch gesegnet, durchwirkt von allerhand magischen Kräften, in denen Gut und Böse einander sehr nahe kamen. Die "Straße der Verwünschungen" ist nicht nur ein alter Name, sondern das heimliche Kraftfeld der Stadt Paris, wie Yonnet sie sah.

Da gibt es einen alten Mann, der - nie vor Mitternacht - plötzlich aus dem Nichts in bestimmten Kneipen aufzutauchen pflegt und salomonische Urteile spricht. Ein äußerst gewalttätiger Gangsterboss, der mit Leidenschaft Lieder von Francois Villon vorträgt, hat die esoterische Topografie des alten Paris genau im Kopf: Er kennt neben vielen anderen machtvollen Orten ein Zimmer, das den Menschen die Wahrheit entlockt und bezeichnenderweise zu einem Bordell gehört – sogar bei einem Spitzel der Gestapo wirkt der Zauber. Ein gelähmter Zwilling besitzt die Fähigkeit, die Krankheiten anderer Menschen zu heilen, indem er darüber schläft. Ein Zigeuner verflucht ein Haus bis es verfällt, ein anderer Mann spricht böse Gebete und verwünscht ein Paar Ohren, mit tödlichen Folgen.

Yonnet, der Erzähler all dieser Geschichten, hat sie nicht einfach erlauscht und niedergeschrieben, er ist auch selbst in allerlei seltsame Begebenheiten verstrickt und gestaltet das ganze Amalgam von Mythen und Realität in einer kunstvollen Mischung aus Argot und Poesie, Pathos und Beiläufigkeit. In der deutschen Übersetzung von Karin Uttendörfer funktioniert das leider nicht gut - die alte Umgangssprache klingt manchmal allzu künstlich.

Bis 1954 betrieb der Dichter, Trinker, Zeichner, Kneipenforscher und hauptberufliche Pariser Yonnet seine existenziellen Feldforschungen, dann schrieb und zeichnete er seine magische Chronik, unter dem freundlichen Einfluss Raymond Quéneaus, der dieses Buch liebte. Es sollte Yonnets einziges bleiben. 1966 verlängerte er es noch ein bisschen.

Es ist ein sehr besonderes Werk, das insbesondere allen Parisreisenden ans Herz gelegt sei.

Besprochen von Katharina Döbler

Jacques Yonnet: Rue des Maléfices. Straße der Verwünschungen
Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012
445 Seiten, 34,90 Euro
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