Too fat to fight

Von Alexander Schuller |
Wie soll der Mensch leben? Das wissen wir eigentlich sehr gut, und außerdem geben uns die Experten immer wieder viele mehr oder weniger nützliche Ratschläge.
Nur: Wissen und Wollen einerseits und Handeln andererseits haben oft erstaunlich wenig miteinander zu tun. Wie kommt das? Was sind die Kräfte, die unser tatsächliches Handeln bestimmen?

Fettleibigkeit macht krank – das sagen uns die Mediziner. Und außerdem wissen wir das selber. Aber dennoch gibt es immer mehr Dicke, viel zu dicke Dicke. Die wiederum haben begonnen, ihr eigenes Körperbild gegen die Ratschläge der Ärzte zu verteidigen, viele sehen sich bereits als Anarchisten im Kampf gegen herrschende, vermeintlich repressive Schönheitsideale. Gesundheit wird zweitrangig, der Genuss, das Wohlbefinden entscheidet. Wellness heißt die Parole.

Jede medizinische Disziplin hat ein anderes Körperbild, ein anderes Menschenbild, ein anderes Gesellschaftsbild. Der Psychoanalytiker, der Endokrinologe und der Chirurg leben in gemeinsamer Sprachlosigkeit. Der kurzfristige Sieg der psychoanalytischen Medizin ist längst von der operativen, der technischen, vor allem der gentechnischen Medizin erledigt worden. Hinter der anti-autoritären Geste der Psychoanalyse verbarg sich ein totalitärer Machtanspruch.

Inzwischen erobert die Prothesen-Medizin den Menschen, mit sowohl natürlichen als auch künstlichen Transplantaten. Diese Medizin konstruiert immer mehr einen eigenen, einen alternativen Körper. Stück für Stück wird dieser Körper durch Kunst-Stücke ersetzt: Zähne, Brüste, Beine, Leber. Die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwindet. Der Mensch wird zum technischen Artefakt. Geschlechtsumwandlungen gehören schon längst zur Normalität.

Es geht um Macht, um paradigmatische Kontrolle, damit aber auch um ordnungspolitische Kontrolle. Im tatsächlichen Sinne bedeutet Kontrolle: Diagnose und Therapie. Diagnose lässt sich primär handwerklich definieren, aber schon Therapie zielt unumwunden auf eine Norm, eine Ordnung und auf Gehorsam.

Was also ist diese Körper-Norm, wer definiert sie? Gibt es diese Norm überhaupt noch? Wie erkenne ich jenes Paradigma, das Strukturen schafft und Regeln und Perspektiven? In welcher sozialen Wirklichkeit haben diese Fragen eine Funktion?
Das noch immer zelebrierte Paradigma des Körpers ist weder biographisch, noch historisch, noch ästhetisch. Es ist weltfremd. Es ist naturwissenschaftlich und abstrakt. Dazu dienen einerseits funktionale Werte, wie der Blutdruck, andererseits statistische Werte, wie das Körpergewicht. Mit Normwerten soll der menschliche Körper festgezurrt, noch ein letztes Mal zur Ordnung gerufen werden: nicht Fressen, nicht Kiffen, nicht Saufen, nicht Rauchen sollen wir.

Die Norm ist brav und puritanisch und neben der Spur. Denn die Verhältnisse, die sind schon lange nicht mehr so. Das puritanische Paradigma hat seine Legitimität verloren. Seine verzweifelten Verteidigungswaffen - Mode, Pornographie, Sport - greifen nicht mehr. Eine entfesselte Weltgesellschaft hat die reale Gewalt an sich gerissen. In unerwarteter Weise haben wir als universale Konsumenten zueinander gefunden.

In vielfach ausdifferenzierten, auch öffentlichen Formen verwirklicht sich nun Freiheit als Fluch, als migratorisches Quatschen, als migratorisches Saufen, als migratorisches Rauchen, als migratorisches Fressen. "Wenn wir nichts dagegen tun, wird das Ausmaß von Übergewicht sogar den 11. September in den Schatten stellen" meint der amerikanische Admiral Richard Carmona in Anbetracht seiner fetten Rekruten.

Der Körper enthüllt sein Gorgonenhaupt. Unsere Ikone weiblicher Schönheit ist nicht mehr die kokett geschwungene Aphrodite des Praxiteles, sondern die Filmfigur Gabourey Sidibe. Sie ist 29 Jahre alt, sie wiegt 168 Kilo, sie lebt in der Neuen Welt. Dazu sagt Admiral Carmona: too fat to fight.


Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von "Paragrana" (Akademie-Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie "Merkur" und "Universitas".
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