Tomi-Ungerer-Ausstellung
Tomi Ungerer war nicht nur erfolgreicher Kinderbuchautor, sondern auch ein streitbarer politischer Künstler. © Musées de la Ville de Strasbourg / Mathieu Bertola
Der anarchische Provokateur
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Der 2019 verstorbene Zeichner und Schriftsteller Tomi Ungerer war ein kritischer Kommentator der Zeitläufe. Das zeigt eindrucksvoll eine Ausstellung in den Deichtorhallen Hamburg mit Ungerers Zeichnungen. Die entfalten ein wüstes, inhumanes Panoptikum.
Rassismus und Vietnamkrieg radikalisierten auch Tomi Ungerer. Ende der 60er-Jahre schuf er zahlreiche politische Plakate, die jetzt einen ganzen Raum füllen und wirken, als seien sie gerade entstanden: Da rammt eine Hand einer nackten Figur gegen ihren Willen eine Freiheitsstatue in den Rachen. Oder Uncle Sam zwingt einen Gefangenen, den USA den Arsch zu küssen.
"Diese Plakate habe ich einmal einer Zeitschrift in Los Angeles geschickt. Und da sind so Vandalen in der Nacht dort hingekommen und haben die Originalzeichnungen alle zerrissen."
Kunst mit Sprengkraft
Rund 400 Zeichnungen, Illustrationen, Collagen, kleine Objekte, Werbegrafik und Plakate umfasst die Ausstellung "It's all about freedom", die Ungerer erstmals in solchem Umfang als politischen Künstler vorstellt.
"Er hat immer den Sprengstoff, der in der Zeit lag, in wenige Striche bündeln können", sagt Kurator Dirk Luckow. "Noch einmal den Kern der Problematik einer Zeit, der Zustände so wahrzunehmen und so präzise ins Bild zu setzen, dass es eben nicht nur in der Zeit gültig ist, sondern etwas hat, was heute wieder brandaktuell ist."
Chronologisch gehängt und sich über drei Stockwerke ausbreitend, wird schnell deutlich: Egal welches Medium Ungerer nutzte, stets diente es ihm dazu, mit analytischem Blick und in scharfer, klarer Form aufzuspießen, was ihn in der Welt empörte.
„Ich glaube an das Zweifeln", sagte Tomi Ungerer. "Das Zweifeln erlaubt keine Träume. Ich glaube an die Realität, an die Wirklichkeit der Sachen.“
Gewalterlebnisse in Zeichnungen verarbeiten
1931 im Elsass geboren, erlebte Tomi Ungerer Krieg und Gewalt und verarbeitete das Gesehene in kleinen Zeichnungen, mit denen die Ausstellung eröffnet: Da sieht man waffenstarrende Soldaten, Tote, Verwundete und die Demütigungen der faschistischen Besatzer, die dem Kind seine kulturelle und gesellschaftliche Identität raubten.
"Es kommen die Nazis. Und innerhalb von sechs Monaten darf man kein Französisch mehr sprechen. Man kann sogar verhaftet werden für ein einfaches Bonjour oder Bonsoir oder Merci. Verboten!"
Kinderbuchautor und Anprangerer
1956 ging der 25-Jährige nach New York. Er machte Karriere als Werbegrafiker und wurde als Kinderbuchautor gefeiert. Für alle Fans seiner ungewöhnlichen Geschichten wurde ein eigener "Kinderraum" eingerichtet. Ansonsten aber geht es in der Ausstellung ans Eingemachte.
Schon die Gesellschaftsserie "The Party" führte 1969 zu einem Skandal: Ungerer zeigt die New Yorker Kulturelite als sich gegenseitig anschleimende Untote.

Tomi Ungerers Zeichnung "With no eyes to cry with" für das Buch "Slow Agony": ein Bildband über das langsame Sterben eines Fischerdorfs am Ende der Welt.© Musées de la Ville de Strasbourg / Mathieu Bertola
„Man sieht die Abgebrühtheit. Man sieht das sich Verstellen. Man sieht die Begierden der Leute", sagt Dirk Luckow. "Und man kapiert sogleich: Diese Party könnte auch heute stattfinden.“
Als dann noch pornografische Blätter erschienen, die die Verlogenheit im Umgang mit Sexualität aufgriffen, hatte die ach-so-liberale Gesellschaft genug: Der Künstler kam auf die Schwarze Liste, seine Kinderbücher wurden aus den Bibliotheken entfernt.
Flucht nach Irland
Ungerer floh nach Kanada und zog später nach Irland, wo er bis zu seinem Tod lebte und arbeitete. In den 70er- und 80er-Jahren – angesichts von Militärputschen, neuen Massenmedien, Konsum- und Schönheitswahn – erschienen dann Arbeiten, die man kaum fassen kann.
Serien wie "Babylon" oder "Rigor mortis" zeigen die Verfallserscheinungen und die Hybris des imperialen Kapitalismus: Da grinsen blutbefleckte Militärs vom ansonsten leeren Blatt Papier. Skelette gebärden sich als wildgewordene Cowboys.
Menschen mit Mickey-Mouse-Masken laufen Amok. Damen der Upperclass posieren als Skelette in Bikinis vor den historischen Wahrzeichen der USA. Andere spritzen sich Botox in die Augen, um ja die Realität nicht sehen zu müssen. Es ist ein nicht enden wollendes, wüstes, inhumanes Panoptikum.
„Zwischen Satire und ganz ernstem Ansatz geht er der Dekadenz auf den Grund", so Deichtorhallenleiter Dirk Luckow. Das habe auch immer "etwas sehr Morbides" bei ihm. "Diese Morbidität, die er dann auch in Serien wie 'Rigor mortis', was ja Totenstarre heißt, aber natürlich sich auch auf den Totentanz bezieht, ist sehr tiefgründig und tiefblickend.“
Offen für neue Kunsttechniken
Noch mit 80 Jahren entdeckte Tomi Ungerer das Medium der Collage für sich. Mit diesen Arbeiten, in denen er drastisch arm und reich aufeinanderprallen lässt, schließt die Ausstellung.
Auch wenn die Collagen für das Finale etwas platt wirken, die Ausstellung führt eindrucksvoll vor Augen: Ungerer war ein anarchischer, zorniger, lustvoller und melancholischer Provokateur, der die herrschenden Missverhältnisse vielleicht auch deshalb wieder und wieder aufspießen musste, um nicht an ihnen zu verzweifeln.