Tomás González: "Die stachelige Schönheit der Welt"

Geschichten, die von innen leuchten

07:43 Minuten
Buchcover zu Tomás González: "Die stachelige Schönheit der Welt"
Fein gezeichnete Porträts: Tomás González gibt seine Protagonisten auch in dunklen Momenten nicht auf und kommt ihnen dabei sehr nah. © Deutschlandradio / edition8
Von Manuela Reichart · 27.05.2021
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Ein Demenzkranker, ein Clochard, ein Rauschgiftsüchtiger: Der kolumbianische Autor Tomás González lässt uns teilhaben an Lebensgeschichten zwischen Leidenschaft und Verderben. Dabei verleiht er seinen Protagonisten eine leuchtende Würde.
Der Mann ist dement, aber immer gut angezogen, seine beiden gebügelten Taschentücher trägt er stets bei sich. Er erinnert sich noch an die Vergangenheit aber weiß nichts mehr von der Gegenwart. Einmal im Jahr holt er den Koffer vom Schrank und will an die Küste zum Geburtstag seiner Mutter fahren. Dass die lange schon tot ist, dass auch seine liebenswürdige Schwester gestorben ist, das hat er vergessen.

Inszenierte Reise an die Küste

Einmal im Jahr inszenieren seine Frau und seine erwachsenen Kinder deswegen für ihn eine "Reise an die Küste". Dafür werden Zimmer ausgeräumt und Stühle aufgestellt: Das wird der Eisenbahnwagen. Der Schreibtisch wird zum Fahrkartenschalter. Die Tochter wird erst zur Fahrkartenverkäuferin, später wird sie auf dem Bahnsteig Köstlichkeiten verkaufen, der Sohn spielt den Schaffner. Wie dessen Uniform einst aussah, wusste niemand mehr, man musste improvisieren. Der Vater hatte zwar gestutzt, weil sie so gar nicht den Uniformen seiner Jugend entsprach, es aber hingenommen.
Das Ehepaar jedenfalls reist, der Mann genießt die Fahrt, er kennt alle Stationen, spricht mit Mitreisenden, die nur er sieht, aber auch für die Frau verschwimmen Realität und Phantasie. Sie weiß vor allem, dass sie am Reiseziel den Kampf mit der Schwiegermutter gewinnen muss, die den Sohn da behalten wollen wird. Und auch ein Jugendfreund will ihn offenbar vom Leben in den Tod hinüberziehen. Die Frau kämpft, denn sie liebt ihren dementen Mann immer noch, und sie weiß, dass es noch viele Dinge gibt, an denen er sich erfreut. Er darf noch nicht sterben.

13 Erzählungen aus einem Vierteljahrhundert

In dieser wunderbaren Liebesgeschichte gehen Zeit und Raum ineinander über, die Erinnerung an den Beginn des gemeinsamen Lebens leuchtet immer wieder auf, all die Reisen, die real zur Schwiegermutter stattgefunden hatten, lassen diese fiktive Eisenbahnfahrt, die so perfekt inszeniert ist, zur wirklichen Erfahrung der Heldin werden. Keine traurige Demenzbegegnung ist das, stattdessen eine vor Lebendigkeit strotzende Hommage an einen alten verwirrten Mann und seine an der Liebe festhaltende Frau.
Der kolumbianische Autor Tomás González gilt immer noch als Geheimtipp der lateinamerikanischen Literatur, mit diesem Erzählungsband sollte sich das endlich ändern. 13 Erzählungen aus mehr als einem Vierteljahrhundert hat der Übersetzer und Herausgeber Peter Schultze-Kraft zusammengestellt. Auf dem Buchumschlag ist eine kluge Beurteilung des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm abgedruckt:
"González schreibt einen sehr trockenen, aber zugleich unglaublich atmosphärischen Stil. Die Geschichten sind dunkel, aber es ist, als leuchteten sie von innen."

Tiefe Stürze, stille Würde

Da verkommt ein Künstler, der einen Todesfall nicht verwinden kann, zu einem saufenden Clochard, ein schöner junger Mann wird das Opfer seiner Rauchgiftsucht und lebt am Ende als stinkendes Wrack auf der Straße, eine einstmals besonders hübsche Tante liegt hilflos im Krankenhaus.
Egal, wie tief seine literarischen Helden sinken, wie wenig Attraktivität ihnen bleibt, wie düster ihr Leben aussieht, der Autor lässt ihnen eine große leuchtende Würde. Und er lässt uns teilhaben an Lebensgeschichten zwischen Leidenschaft und Verderben, Schmerz und Hoffnung.

Tomás González: "Die stachelige Schönheit der Welt"
Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft, Gert Loschütz, Peter
Stamm u.a.
edition 8, Zürich 2021
240 Seiten, 21,20 Euro

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