Tom Blass: "Die Nordsee"

Das Meer formt Menschen und Landschaft

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Cover des Buchs "Die Nordsee. Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste" von Tom Blass vor dem Hintergrund einer Steilküste mit Häusern in Dänemark
Tom Blass hangelt sich in seinem Buch von Küste zu Küste - wortgewaltig und stimmungsvoll. © Mare / picture alliance / dpa-Zentralbild / Patrick Pleul
Von Günther Wessel · 10.05.2019
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Sie ist rau, zugleich aber gezähmt als Schifffahrtsweg und Erholungsraum: In seinem Buch "Die Nordsee" erzählt der englische Journalist Tom Blass wortgewaltig und stimmungsvoll von Halligen, Fischern und Dialekten - ein echter Lesegenuss.
Sie ist weder lieblich noch warm, und ihr oft graubraunes Wasser ist meist unruhig – die Nordsee ist ein eher bedrohliches Meer. Voller Untiefen, mit ständig sich verändernden Sandbänken.
Sie unterspült ganze Küstenstreifen, reißt Strände und schmale Landzungen weg, überspült die Halligen – gleichzeitig ist sie gezähmt, als Schifffahrtsweg, auf dem seit Jahrtausenden Menschen unterwegs sind. Der englische Journalist Tom Blass beschreibt in seinem Buch "Die Nordsee. Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste", wie das Meer die Landschaft und die Kultur an seiner Küste geprägt hat.
Seinen Schwerpunkt legt Tom Blass dabei auf die Kulturgeschichte. So umkreist er einmal die Nordsee, von der englischen Küste reist er nach Belgien, durch die Niederlande und Deutschland. Er fährt mit dem Schiff nach Schweden und nach Helgoland, und spricht mit Bewohner der Halligen ebenso wie mit Fischern in der nördlichen Nordsee.

Aus Planwagen ins Meer steigen

Der Journalist schreibt über die lange Konkurrenz von Antwerpen und Amsterdam, über den ewig umkämpften Mündungstrichter der Schelde und Dörfer wie Doel, die zu Gunsten der Antwerpener Hafenerweiterung aufgegeben werden sollten, aber momentan in einem Schwebezustand zwischen Tod und Leben vor sich hin siechen – mit Blick auf ein bröckeliges belgisches Atomkraftwerk.
Er liefert ein liebevolles Porträt der wirklich hässlichen Stadt Ostende und ihres großen Künstlers James Ensor, weiß aber auch, warum die Stadt jeden Sommer ebenso wie Knokke, wo sich auch endlose Wohnblocks am Strand langziehen, so beliebt ist: An der Nordsee wurde schließlich der Strandurlaub erfunden.
Schon 1735 schoben findige Unternehmer Planwagen ins Meer, aus denen Badegäste sicher und mit einer gewissen Privatsphäre ins Wasser steigen konnten. Dies wurde bald von beiden Geschlechtern als erotische Attraktion angesehen – der voyeuristische Blick auf das andere, meist nur leicht bekleidete Geschlecht. Aber Tom Blass berichtet auch vom Antisemitismus in vielen Badeorten und dass sich die Insel Borkum schon Ende des 19. Jahrhunderts stolz als "judenfrei" bezeichnete.

Lebendige Sprache, reich an Metaphern

So hangelt sich Blass von Küste zu Küste. Er vergleicht friesische Dialekte miteinander und lässt den Leser am schönen, aber auch knarzig-einsamen Leben auf den Halligen teilhaben, diesen Überbleibseln alter Polder, die bei Sturmfluten weggeschwemmt wurden.
Auch heute noch werden die Halligen bei Sturmflut komplett überschwemmt, weshalb die Häuser auf Warften, aufgeschütteten Erdhügeln, stehen. Er schreibt über Fischfangquoten und den Niedergang der Fischereiindustrie in Hull und erzählt vom Leben der früheren Fischer und ihrer Familien, das weit bis in die 1960er-Jahre von einem geradezu lakonischem Umgang mit Katastrophen und Tod geprägt war: der fuhr immer auf den Trawlern mit.
Wortgewaltig und stimmungsvoll erweitert Tom Blass so unser Wissen um den Kulturraum Nordsee. Dabei ist er nicht nur belesen und neugierig. Seine Sprache ist lebendig, reich an Metaphern, ohne in Kitsch abzugleiten, und sie besitzt ihren eigenen Rhythmus. Kongenial von Tobias Rothenbücher übersetzt, ist dieses Buch ein echter Lesegenuss.

Tom Blass: Die Nordsee. Landschaften, Menschen und Geschichte einer rauen Küste
aus den Englischen von Tobias Rothenbücher
Mare Verlag, Hamburg 2019
352 Seiten, 28 Euro

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