Toleranz ist nicht genug
In keinem anderen muslimischen Land leben so viele Juden wie in der Türkei. Etwa 20.000 sind es in Istanbul. Doch in den letzten Jahren häuften sich antisemitische Anfeindungen am Bosporus. Besonders eine Studie rüttelte die jüdische Gemeinde auf: 90 Prozent der Türken haben noch nie in ihrem Leben einen Juden getroffen.
Das neue Ziel der Jüdischen Gemeinde der Türkei heißt deswegen nicht mehr einfach nur Toleranz, sondern Dialog und Kommunikation. In einer Tour durch Galata, einem der ältesten Stadtviertel von Istanbul, können Türken auf den jüdischen Spuren der Jahrtausende alten Stadt wandeln - und dabei Religion und Kultur ihrer jüdischen Nachbarn kennen lernen.
Der alte Mann mit der grauen Wollmütze auf dem Kopf hat es nicht nötig seine Kunden freundlich zu behandeln oder gar zu lächeln. Seit 20 Jahren verkauft Ali goldgelbe Sesamringe von einem hölzernen Handkarren in den Straßen von Istanbul. Im Winter wenn es schneit, im Sommer, wenn ihm Sonne und Luftfeuchtigkeit am Bosporus den Schweiß über das Gesicht laufen lassen.
Zehn Stunden arbeitet Ali am Tag, manchmal mehr. Seine Familie kann er trotzdem nur gerade so durchbringen. Und wer ist Schuld? "Die Juden und so", sagt der Alte und macht eine wegwerfende Handbewegung.
"Die Juden in der Türkei arbeiten heimlich mit Israel zusammen. Sie haben ein Haus für arme Juden ganz in der Nähe von hier. Alle Familien da haben den gleichen Nachnamen. Sie lassen sie einander heiraten, weil die Juden immer Verwandte heiraten. Und Geld kriegen sie von der Neve Shalom Synagoge. Dann behalten sie die Behinderten und Schwachen hier und die Gesunden schicken sie nach Israel."
Genug erzählt. Ali packt die Holzgriffe seines Karrens, schiebt weiter. Zurück bleibt ein junger Mann in Lederjacke, der traurig den Kopf schüttelt. "Genau deswegen machen wir diese Tour" sagt Mois Gabay und hält eine kleine Broschüre hoch. "Tour durch das jüdische Galataviertel" steht darauf.
Mois ist Jude und ausgebildeter Tourguide. Im Auftrag der Jüdischen Gemeinde der Türkei zeigt er interessierten Istanbulern die jüdischen Spuren ihrer Stadt. Menschen, wie den Simitverkäufer Ali trifft Mois dabei jeden Tag, sagt er und zuckt ratlos mit den Schultern.
Mois: "Für unser Projekt hier wurde eine Umfrage gemacht: 90 Prozent der Türken haben nie einen Juden getroffen. Sie gehen jeden Tag durch dieses Viertel, aber sie wissen nicht, was sich hinter den Türen verbirgt. Da ist nur ein trübes Bild in ihren Köpfen.
Unser Ziel ist es, dieses trübe Bild aufzuhellen. Warum? Weil besonders zum Beginn des 19. Jahrhunderts viele, viele Juden in Galata gelebt haben und weil wir türkischen Juden uns unserer eigenen Gesellschaft vorstellen wollen."
Bisher hat die jüdische Gemeinde der Türkei sich möglichst unauffällig verhalten, auf Toleranz gehofft. Die neue Strategie ist aktiver, es geht um mehr, als nur in Ruhe gelassen zu werden, erklärt Mois. Während er spricht, versammeln sich die 16 Teilnehmer der heutigen Tour um ihn herum. Vor allem Paare sind gekommen, einige kauen noch an einem von Alis Sesamringen.
Die jüdische Gemeinde will sich vorstellen – jedenfalls denen, die sie kennen lernen möchten. Touren durch das jüdische Istanbul, Konzerte und Ausstellungen, Projekte mit türkischen Theologiestudenten … All das gehört zur neuen Strategie. Lina - um die 40, immer in Bewegung - organisiert das Projekt.
Lina: "Wir haben dadurch gemerkt, dass wir türkischen Juden einen ganz bestimmten Lebensstil haben, der teilweise von jüdischen Traditionen bestimmt wird, teilweise außerhalb der jüdischen Tradition stattfindet. Normalerweise fühlen wir die anderen Aspekte, die nicht-jüdischen, sehr viel stärker. Aber dieses Projekt, diese Tour bringt uns unser jüdisches Erbe viel näher – wer wir sind, was wir tun, jüdische Themen, Philosophie usw."
Lina kommt ins Plaudern, während der Rest der Gruppe sich langsam auf den Weg durch eine der engen Gassen des Galatviertels macht. Die alten, teilweise heruntergekommen Fassaden rechts und links zeugen von früherem Reichtum. Hier und da bröckelt Putz von den Wänden, Kabelbündel hängen aus Löchern und Stromkästen. Juden wohnen heute keine mehr in Galata, erzählt Tourguide Mois der Gruppe.
"Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Galata mit all den umliegenden Banken ein wichtiges Handelszentrum wurde, begannen Jüdische Einwohner hierher zuziehen, um in der Nähe ihrer Arbeit, in der Nähe der Banken zu wohnen. So wurde aus der Gegend eine jüdische Gegend. Hier gab es kleine Krämerläden, Avram, den Fischverkäufer und Ishak, den Gemüsehändler …"
Damals lebten etwa 100.000 Juden in Istanbul - heute sind es nur noch knapp 20.000. Viele jüdische Einrichtungen und Synagogen sind deswegen im Laufe der Zeit verloren gegangenen. "Das wollen wir ab jetzt verhindern", sagt Lina, die Organisatorin.
"Wenn die Gemeinde nicht mehr aktiv ist, dann geht nach einiger Zeit leider alles Eigentum in den Besitz des Staates über. So haben wir auch viele jüdische Stätten in Anatolien verloren. Wir konnten uns nicht mehr um sie kümmern.
Damit das Gleiche nicht auch in Istanbul passiert, haben wir in den letzten Jahren all unsere Informationen usw. erneuert. Aber in Anatolien haben wir auf diese Art viel verloren …"
Mois bleibt jetzt vor ihr stehen, zeigt auf ein schlichtes weißes Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die stabilen braunen Türen erinnern an Garagentore. Nur kleine weiße Davidsterne weisen darauf hin, was sich dahinter verbirgt: die Neve Shalom Synagoge. Mois beginnt sofort zu erklären.
"Es ist die größte und auch die meist genutzte Synagoge der türkischen Juden. Hier finden Hochzeiten, Barmizwa-Feiern und Beerdigungen statt … Diese Synagoge hat eine traurige Geschichte für unsere Gemeinde. Vielleicht haben sie davon gehört. 1986 fand hier der erste Anschlag statt. Damals gab es hier keine riesigen Tore wie heute.
Es gab nur einen Wachmann am Eingang, er öffnete die Tür sobald jemand klopfte. Dann kamen Terroristen und schossen in der Synagoge umher, 22 Gemeindemitglieder starben. Danach haben sie diese Türen angebracht."
Die Türen erfüllten ihren Zweck und verhinderten 1992 eine weitere Katastrophe. Doch beim letzten großen Anschlag auf die jüdischen Türken, am 15. November 2003, halfen auch keine Stahltüren: Mutmaßliche Al-Qaida-Sympathisanten ließen vor der Neve Shalom Synagoge eine Autobombe explodieren, mehr als 20 Menschen starben.
"Danach wurde viel diskutiert, ob die Synagoge hier bleiben sollte oder nicht. Aber wir haben gesagt: Nein! Wir werden die Synagoge wieder aufbauen. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden erhöht und eine weitere Tür hinzugefügt …
Aber trotzdem ist da keine generelle Angst in der Gemeinde, es hat danach keine Migration oder Ähnliches gegeben. Das wäre es ja, was die Terroristen wollen. Wenn man die Synagogen schließen würde, dann wäre da auch kein Terrorrisiko mehr. Aber das ist, als ob man alle Autos aus Istanbul wegschafft, um keinen Stau mehr zu haben."
Mois führt die Gruppe langsam weiter zur nächsten Station seiner Tour, der Italienischen Synagoge.
Während die Teilnehmer eine kleine Marmortreppe hinaufsteigen, bleibt Lina noch einen Moment draußen stehen, schaut auf die gotische Fassade der Synagoge. Im Hintergrund glänzt eine Kirchturmspitze, von irgendwo ruft ein Muezzin.
Eine seltene Kombination in der zu 99 Prozent muslimischen Türkei. Nein, betont auch Lina, eigentlich hat Antisemitismus keine große Tradition hier. Und trotzdem:
"In letzter Zeit bemerken wir einen ansteigenden Antisemitismus in Verbindung mit dem Nahostkonflikt. Jedes Mal, wenn dort im Nahen Ostens etwas passiert, bemerken wir hier direkt eine Veränderung in den Medien, in der Fernsehberichterstattung. Also ich denke, da besteht eine Wechselbeziehung mit der politischen Situation.
Und das ist das größte Problem für uns. Denn die Politiker hier haben solche Vorurteile über Jahre weiter belebt. Und jetzt ist es sehr schwierig für uns, dieses Bild wieder zu ändern. Das muss Teil der Erziehung im ganzen Land werden. Es ist eine Aufgabe, die wir nicht allein bewältigen können."
Dann betritt auch Lina über weiche türkische Teppiche die Italienische Synagoge. Gläserne Kronleuchter lassen den Innenraum hell erstrahlen. Die Teilnehmer fotografieren Menora und Thoraschrein, versammeln sich dann gespannt um Mois. Der nutzt die Geborgenheit der Synagoge, um von den Gemeinsamkeiten von Judentum und Islam zu erzählen: Essensregeln, Fastenzeiten, Geschlechtertrennung beim Gebet …
"Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich etwas vergesse oder falsch sage … Im Islam wird fünfmal am Tag gebetet, wir Juden beten drei Mal am Tag. Man muss dabei nicht mit anderen gemeinsam beten. Wie im Islam, wo ja auch nur das Freitagsgebet in der Moschee mit anderen sein muss. Der Freitag der Muslime ist wie der Sabbat für uns oder der Sonntag für die Christen …"
Mehr als eine Stunde beantworten Mois und Lina Fragen, erklären, zeigen. In einer Stunde soll die Tour zu Ende sein. Eigentlich zu kurz, findet der 30-jährige Chemiker Süleyman. Trotzdem ist er froh, überhaupt gekommen zu sein:
"Wenigstens habe ich jetzt überhaupt irgendein Bild im Kopf. Ich hatte vorher überhaupt keine Ahnung vom Judentum oder der Kultur der Juden in der Türkei. Ich habe nie einen Juden getroffen. Jetzt konnte ich wenigstens schon eine ganze Menge über unsere gemeinsame Geschichte und Kultur lernen."
Durch verwinkelte Gassen geht es weiter zum Jüdischen Museum von Istanbul, das in der 350 Jahre alten Zulfaris Synagoge untergebracht ist. Drinnen bleibt Mois vor einer Glasvitrine stehen und wartet, bis sich alle wieder um ihn versammelt haben. Hier im Museum endet die Tour, doch bevor sich die Teilnehmer über die drei Stockwerke zu Geschichte und Kultur der türkischen Juden verteilen, möchte er ihnen noch eins mit auf den Weg geben:
"Meine Bitte an Sie, nachdem wir uns heute ein wenig kennen gelernt haben: Erzählen Sie Ihren Freunden von uns, laden Sie sie zu unserer Tour ein und überzeugen Sie sie davon, dass direkte Dialoge und Kommunikation besser sind als nur Toleranz. Das ist das neue Ziel unserer Gemeinde: einander kennen zu lernen und sich zu verstehen. Danke!"
Jahrelang hat die jüdische Gemeinde der Türkei auf Toleranz gesetzt, sich passiv und unauffällig verhalten. Doch die neue Strategie ist eine andere: Mois, Lina und viele andere Gemeindemitglieder wollen nun aktiv auf ihre muslimischen Nachbarn zugehen, sich vorstellen, einander besser kennen lernen.
Das Bildungssystem der Türkei ändern, um auch einfachere Menschen wie Simitverkäufer Ali zu erreichen, können sie nicht. Dennoch: Die Touren sind ein Anfang, meint Mois und lächelt zuversichtlich.
"Wenn wir nur einen kleinen Unterschied machen können, dann ist das besser als gar nichts zu tun. Wenn seit heute knapp 20 Türken mehr einen Juden in ihrem Leben gesehen haben, dann ist das doch schon etwas für uns, etwa nicht?"
Der alte Mann mit der grauen Wollmütze auf dem Kopf hat es nicht nötig seine Kunden freundlich zu behandeln oder gar zu lächeln. Seit 20 Jahren verkauft Ali goldgelbe Sesamringe von einem hölzernen Handkarren in den Straßen von Istanbul. Im Winter wenn es schneit, im Sommer, wenn ihm Sonne und Luftfeuchtigkeit am Bosporus den Schweiß über das Gesicht laufen lassen.
Zehn Stunden arbeitet Ali am Tag, manchmal mehr. Seine Familie kann er trotzdem nur gerade so durchbringen. Und wer ist Schuld? "Die Juden und so", sagt der Alte und macht eine wegwerfende Handbewegung.
"Die Juden in der Türkei arbeiten heimlich mit Israel zusammen. Sie haben ein Haus für arme Juden ganz in der Nähe von hier. Alle Familien da haben den gleichen Nachnamen. Sie lassen sie einander heiraten, weil die Juden immer Verwandte heiraten. Und Geld kriegen sie von der Neve Shalom Synagoge. Dann behalten sie die Behinderten und Schwachen hier und die Gesunden schicken sie nach Israel."
Genug erzählt. Ali packt die Holzgriffe seines Karrens, schiebt weiter. Zurück bleibt ein junger Mann in Lederjacke, der traurig den Kopf schüttelt. "Genau deswegen machen wir diese Tour" sagt Mois Gabay und hält eine kleine Broschüre hoch. "Tour durch das jüdische Galataviertel" steht darauf.
Mois ist Jude und ausgebildeter Tourguide. Im Auftrag der Jüdischen Gemeinde der Türkei zeigt er interessierten Istanbulern die jüdischen Spuren ihrer Stadt. Menschen, wie den Simitverkäufer Ali trifft Mois dabei jeden Tag, sagt er und zuckt ratlos mit den Schultern.
Mois: "Für unser Projekt hier wurde eine Umfrage gemacht: 90 Prozent der Türken haben nie einen Juden getroffen. Sie gehen jeden Tag durch dieses Viertel, aber sie wissen nicht, was sich hinter den Türen verbirgt. Da ist nur ein trübes Bild in ihren Köpfen.
Unser Ziel ist es, dieses trübe Bild aufzuhellen. Warum? Weil besonders zum Beginn des 19. Jahrhunderts viele, viele Juden in Galata gelebt haben und weil wir türkischen Juden uns unserer eigenen Gesellschaft vorstellen wollen."
Bisher hat die jüdische Gemeinde der Türkei sich möglichst unauffällig verhalten, auf Toleranz gehofft. Die neue Strategie ist aktiver, es geht um mehr, als nur in Ruhe gelassen zu werden, erklärt Mois. Während er spricht, versammeln sich die 16 Teilnehmer der heutigen Tour um ihn herum. Vor allem Paare sind gekommen, einige kauen noch an einem von Alis Sesamringen.
Die jüdische Gemeinde will sich vorstellen – jedenfalls denen, die sie kennen lernen möchten. Touren durch das jüdische Istanbul, Konzerte und Ausstellungen, Projekte mit türkischen Theologiestudenten … All das gehört zur neuen Strategie. Lina - um die 40, immer in Bewegung - organisiert das Projekt.
Lina: "Wir haben dadurch gemerkt, dass wir türkischen Juden einen ganz bestimmten Lebensstil haben, der teilweise von jüdischen Traditionen bestimmt wird, teilweise außerhalb der jüdischen Tradition stattfindet. Normalerweise fühlen wir die anderen Aspekte, die nicht-jüdischen, sehr viel stärker. Aber dieses Projekt, diese Tour bringt uns unser jüdisches Erbe viel näher – wer wir sind, was wir tun, jüdische Themen, Philosophie usw."
Lina kommt ins Plaudern, während der Rest der Gruppe sich langsam auf den Weg durch eine der engen Gassen des Galatviertels macht. Die alten, teilweise heruntergekommen Fassaden rechts und links zeugen von früherem Reichtum. Hier und da bröckelt Putz von den Wänden, Kabelbündel hängen aus Löchern und Stromkästen. Juden wohnen heute keine mehr in Galata, erzählt Tourguide Mois der Gruppe.
"Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Galata mit all den umliegenden Banken ein wichtiges Handelszentrum wurde, begannen Jüdische Einwohner hierher zuziehen, um in der Nähe ihrer Arbeit, in der Nähe der Banken zu wohnen. So wurde aus der Gegend eine jüdische Gegend. Hier gab es kleine Krämerläden, Avram, den Fischverkäufer und Ishak, den Gemüsehändler …"
Damals lebten etwa 100.000 Juden in Istanbul - heute sind es nur noch knapp 20.000. Viele jüdische Einrichtungen und Synagogen sind deswegen im Laufe der Zeit verloren gegangenen. "Das wollen wir ab jetzt verhindern", sagt Lina, die Organisatorin.
"Wenn die Gemeinde nicht mehr aktiv ist, dann geht nach einiger Zeit leider alles Eigentum in den Besitz des Staates über. So haben wir auch viele jüdische Stätten in Anatolien verloren. Wir konnten uns nicht mehr um sie kümmern.
Damit das Gleiche nicht auch in Istanbul passiert, haben wir in den letzten Jahren all unsere Informationen usw. erneuert. Aber in Anatolien haben wir auf diese Art viel verloren …"
Mois bleibt jetzt vor ihr stehen, zeigt auf ein schlichtes weißes Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die stabilen braunen Türen erinnern an Garagentore. Nur kleine weiße Davidsterne weisen darauf hin, was sich dahinter verbirgt: die Neve Shalom Synagoge. Mois beginnt sofort zu erklären.
"Es ist die größte und auch die meist genutzte Synagoge der türkischen Juden. Hier finden Hochzeiten, Barmizwa-Feiern und Beerdigungen statt … Diese Synagoge hat eine traurige Geschichte für unsere Gemeinde. Vielleicht haben sie davon gehört. 1986 fand hier der erste Anschlag statt. Damals gab es hier keine riesigen Tore wie heute.
Es gab nur einen Wachmann am Eingang, er öffnete die Tür sobald jemand klopfte. Dann kamen Terroristen und schossen in der Synagoge umher, 22 Gemeindemitglieder starben. Danach haben sie diese Türen angebracht."
Die Türen erfüllten ihren Zweck und verhinderten 1992 eine weitere Katastrophe. Doch beim letzten großen Anschlag auf die jüdischen Türken, am 15. November 2003, halfen auch keine Stahltüren: Mutmaßliche Al-Qaida-Sympathisanten ließen vor der Neve Shalom Synagoge eine Autobombe explodieren, mehr als 20 Menschen starben.
"Danach wurde viel diskutiert, ob die Synagoge hier bleiben sollte oder nicht. Aber wir haben gesagt: Nein! Wir werden die Synagoge wieder aufbauen. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden erhöht und eine weitere Tür hinzugefügt …
Aber trotzdem ist da keine generelle Angst in der Gemeinde, es hat danach keine Migration oder Ähnliches gegeben. Das wäre es ja, was die Terroristen wollen. Wenn man die Synagogen schließen würde, dann wäre da auch kein Terrorrisiko mehr. Aber das ist, als ob man alle Autos aus Istanbul wegschafft, um keinen Stau mehr zu haben."
Mois führt die Gruppe langsam weiter zur nächsten Station seiner Tour, der Italienischen Synagoge.
Während die Teilnehmer eine kleine Marmortreppe hinaufsteigen, bleibt Lina noch einen Moment draußen stehen, schaut auf die gotische Fassade der Synagoge. Im Hintergrund glänzt eine Kirchturmspitze, von irgendwo ruft ein Muezzin.
Eine seltene Kombination in der zu 99 Prozent muslimischen Türkei. Nein, betont auch Lina, eigentlich hat Antisemitismus keine große Tradition hier. Und trotzdem:
"In letzter Zeit bemerken wir einen ansteigenden Antisemitismus in Verbindung mit dem Nahostkonflikt. Jedes Mal, wenn dort im Nahen Ostens etwas passiert, bemerken wir hier direkt eine Veränderung in den Medien, in der Fernsehberichterstattung. Also ich denke, da besteht eine Wechselbeziehung mit der politischen Situation.
Und das ist das größte Problem für uns. Denn die Politiker hier haben solche Vorurteile über Jahre weiter belebt. Und jetzt ist es sehr schwierig für uns, dieses Bild wieder zu ändern. Das muss Teil der Erziehung im ganzen Land werden. Es ist eine Aufgabe, die wir nicht allein bewältigen können."
Dann betritt auch Lina über weiche türkische Teppiche die Italienische Synagoge. Gläserne Kronleuchter lassen den Innenraum hell erstrahlen. Die Teilnehmer fotografieren Menora und Thoraschrein, versammeln sich dann gespannt um Mois. Der nutzt die Geborgenheit der Synagoge, um von den Gemeinsamkeiten von Judentum und Islam zu erzählen: Essensregeln, Fastenzeiten, Geschlechtertrennung beim Gebet …
"Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich etwas vergesse oder falsch sage … Im Islam wird fünfmal am Tag gebetet, wir Juden beten drei Mal am Tag. Man muss dabei nicht mit anderen gemeinsam beten. Wie im Islam, wo ja auch nur das Freitagsgebet in der Moschee mit anderen sein muss. Der Freitag der Muslime ist wie der Sabbat für uns oder der Sonntag für die Christen …"
Mehr als eine Stunde beantworten Mois und Lina Fragen, erklären, zeigen. In einer Stunde soll die Tour zu Ende sein. Eigentlich zu kurz, findet der 30-jährige Chemiker Süleyman. Trotzdem ist er froh, überhaupt gekommen zu sein:
"Wenigstens habe ich jetzt überhaupt irgendein Bild im Kopf. Ich hatte vorher überhaupt keine Ahnung vom Judentum oder der Kultur der Juden in der Türkei. Ich habe nie einen Juden getroffen. Jetzt konnte ich wenigstens schon eine ganze Menge über unsere gemeinsame Geschichte und Kultur lernen."
Durch verwinkelte Gassen geht es weiter zum Jüdischen Museum von Istanbul, das in der 350 Jahre alten Zulfaris Synagoge untergebracht ist. Drinnen bleibt Mois vor einer Glasvitrine stehen und wartet, bis sich alle wieder um ihn versammelt haben. Hier im Museum endet die Tour, doch bevor sich die Teilnehmer über die drei Stockwerke zu Geschichte und Kultur der türkischen Juden verteilen, möchte er ihnen noch eins mit auf den Weg geben:
"Meine Bitte an Sie, nachdem wir uns heute ein wenig kennen gelernt haben: Erzählen Sie Ihren Freunden von uns, laden Sie sie zu unserer Tour ein und überzeugen Sie sie davon, dass direkte Dialoge und Kommunikation besser sind als nur Toleranz. Das ist das neue Ziel unserer Gemeinde: einander kennen zu lernen und sich zu verstehen. Danke!"
Jahrelang hat die jüdische Gemeinde der Türkei auf Toleranz gesetzt, sich passiv und unauffällig verhalten. Doch die neue Strategie ist eine andere: Mois, Lina und viele andere Gemeindemitglieder wollen nun aktiv auf ihre muslimischen Nachbarn zugehen, sich vorstellen, einander besser kennen lernen.
Das Bildungssystem der Türkei ändern, um auch einfachere Menschen wie Simitverkäufer Ali zu erreichen, können sie nicht. Dennoch: Die Touren sind ein Anfang, meint Mois und lächelt zuversichtlich.
"Wenn wir nur einen kleinen Unterschied machen können, dann ist das besser als gar nichts zu tun. Wenn seit heute knapp 20 Türken mehr einen Juden in ihrem Leben gesehen haben, dann ist das doch schon etwas für uns, etwa nicht?"