Toleranz in unruhigen Zeiten
Am Anfang war ein verführerisches Wort: "Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen." "Whow", dachte ich vor Jahrzehnten, als ich pubertätsbedingt im Hader mit der restlichen Welt lag. "Das ist die ultimative Antwort auf alle Spießer ringsum, die Zauberformel, mit der man seine Weltverachtung bündelt."
Sie bewahrte mich vor cholerischen Wutausbrüchen, unüberlegten Handgreiflichkeiten, ja vor dem Abgleiten in gefährliche Militanz. Wozu den Spießer ringsum niederkämpfen, wenn man ihn durch Geringschätzigkeit zur Strecke bringen konnte? Dem Seelenhaushalt war Genüge getan, und mit Theodor W. Adorno kämpfen lernen, hieß Siegen lernen. Schließlich trugen alle bewunderten Intellektuellen seinen Namen wie eine Monstranz vor sich her. Heute bin ich selbst ein Spießer, mit Garten und Rasenmäher, nur die Autoreinigung überlasse ich der Waschstraße, statt meinen Samstagnachmittag dafür hinzugeben. Dennoch hat sich das Bonmot aus "Minima Moralia" im Bestand meiner Lebensformeln gehalten. Regelmäßig flackert es auf, gerate ich mit kleinlichen, kleingeistigen oder übelmeinenden Zeitgenossen in Streit, und ich fühle alsbald, wie mich Gelassenheit durchströmt.
Dabei sind diese Worte ihrerseits ein Fanal der Intoleranz, und es hilft wenig, dass Adorno-Interpreten sie seit jeher ins Ironische zu wenden versuchen. Die böse Botschaft von der Erhebung des Einen (Besseren) über die Vielen (Schlechteren) bleibt unzweideutig, gerade das macht ja ihre Kraft aus. Kleinliche, kleingeistige oder übelmeinende Zeitgenossen tolerieren sich leichter, wenn man sie im Gegenzug aus tiefstem Herzen verachtet. Toleranz ist ein Dauerthema unserer Sonntagsprediger. Wohl kein Zufall, denn die moralische Praxis des Alltags kennt wenige Vorgänge, bei denen auf die Tat so schnell eine Belohnung erfolgt. Blickt man hin und wieder über eine kulturelle oder unkultivierte Praktik hinweg, die einen stört, darf man sich sofort zum guten Menschen geadelt fühlen. Kleine Ursache – große Belohnung! Weil sich an den störenden Umständen nichts ändert, wiederholt sich das Spiel freilich, und dabei nutzt sich auch die seelische Belohnung ab. Kleinlaut muss man sich irgendwann eingestehen, dass man nicht weiter zur Hinnahme der Störung bereit ist, und mit gleicher Überzeugung wie zuvor arbeitet man nun an der Veränderung der Welt, sprich: an praktizierter Intoleranz. Das ist auch viel gesellschaftskonformer, denn das Credo moderner Demokratien lautet: Alle Umstände – gerade die störenden! – lassen sich umgestalten, es kommt nur auf die entsprechenden Mehrheiten an. Obwohl Minderheitenschutz Demokratien inhärent ist, steht Toleranz gerade nicht in ihrem Stammbuch, sondern fällt aus dem Rahmen der demokratischen Weltsicht. Darin kommt das Ertragen von Unveränderlichem – das bedeutet Tolerieren wörtlich – nämlich nicht mehr vor. Soll einem diese soziale Praktik, die man früher Demut nannte, lebenslang zur Verfügung stehen, muss man sie von klein auf eingeübt haben. Da sie aber im eklatanten Widerspruch zum allseits gewünschten politischen Aktivbürgertum steht, dem sich die Welt grundsätzlich als beeinflussbar darstellt, ist sie schon Heranwachsenden kaum mehr vermittelbar. Was sollen sie tun? Ihre Rechte jederzeit forsch behaupten, wie es Schule, Eltern, Medien sagen? Oder sich ins Unveränderliche fügen, wie es vor 250 Jahren die Philosophen der Aufklärung zu moralischen Grundmaxime der Toleranz erhoben, freilich unter dem schützenden Baldachin des absoluten Staates?
Da liegt die Crux: Wer sich dem absoluten Staat unterzuordnen gewöhnt ist, der kann auch beispielsweise Religionsfrieden halten, indem er sich ins Unveränderliche konkurrierender Glaubenssysteme fügt. Die moderne westliche Welt mit ihren Millionen Ich-Königtümern bar jeder Unterordnungsbereitschaft ist dagegen zur Tolerierung anderer Ich-Königtümer prinzipiell nicht fähig, weder individuell, noch gesellschaftlich. Sie hat kein Regelwerk der Nach-Aufklärung entwickelt, wann Wegschauen erlaubt und wann Eingreifen geboten ist. Deshalb schimmert der Adornosche Negierungstrick vor allem für Intellektuelle, die nichts weniger sein wollen als intolerant, so verführerisch: Missliebige Konkurrenz zum eigenen Ich-Königtum stellt keine Störung dar, weil man dem fremden Ich schlicht die Existenzberechtigung abspricht. Dieses Toleranz-Surrogat verzichtet auf nach außen gerichtete Aggressionen und wirkt insofern konfliktbeschwichtigend, auch wenn es mit dem philosophischen Sachverhalt nichts mehr zu tun hat. Ehrlicherweise sollten wir ihn ganz fallen lassen und den Begriff aus unseren Sonntagsreden streichen. Konzentrieren wir uns stattdessen auf die Frage, wann interessenlose Gleichgültigkeit dem gesellschaftlichen Frieden dient, und wann energische Intoleranz? Eine Faustformel lässt sich von Größe und Stärke der Störung ableiten: Bei punktuellen Streitereien und Missliebigkeiten setzt man klugerweise auf Deeskalation, auch wenn man seine Position naturgemäß für die bessere hält. Bei seriellem Querulantentum oder beim Zusammenstoß mit aggressiven Ideologien bringt Gleichgültigkeit den Untergang. Aber das war schon unter dem klassischen Toleranzbegriff genauso.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Ein neues Buch "Vermögen – Was wir haben, was wir können, was wir sind" erscheint im Juli. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Dabei sind diese Worte ihrerseits ein Fanal der Intoleranz, und es hilft wenig, dass Adorno-Interpreten sie seit jeher ins Ironische zu wenden versuchen. Die böse Botschaft von der Erhebung des Einen (Besseren) über die Vielen (Schlechteren) bleibt unzweideutig, gerade das macht ja ihre Kraft aus. Kleinliche, kleingeistige oder übelmeinende Zeitgenossen tolerieren sich leichter, wenn man sie im Gegenzug aus tiefstem Herzen verachtet. Toleranz ist ein Dauerthema unserer Sonntagsprediger. Wohl kein Zufall, denn die moralische Praxis des Alltags kennt wenige Vorgänge, bei denen auf die Tat so schnell eine Belohnung erfolgt. Blickt man hin und wieder über eine kulturelle oder unkultivierte Praktik hinweg, die einen stört, darf man sich sofort zum guten Menschen geadelt fühlen. Kleine Ursache – große Belohnung! Weil sich an den störenden Umständen nichts ändert, wiederholt sich das Spiel freilich, und dabei nutzt sich auch die seelische Belohnung ab. Kleinlaut muss man sich irgendwann eingestehen, dass man nicht weiter zur Hinnahme der Störung bereit ist, und mit gleicher Überzeugung wie zuvor arbeitet man nun an der Veränderung der Welt, sprich: an praktizierter Intoleranz. Das ist auch viel gesellschaftskonformer, denn das Credo moderner Demokratien lautet: Alle Umstände – gerade die störenden! – lassen sich umgestalten, es kommt nur auf die entsprechenden Mehrheiten an. Obwohl Minderheitenschutz Demokratien inhärent ist, steht Toleranz gerade nicht in ihrem Stammbuch, sondern fällt aus dem Rahmen der demokratischen Weltsicht. Darin kommt das Ertragen von Unveränderlichem – das bedeutet Tolerieren wörtlich – nämlich nicht mehr vor. Soll einem diese soziale Praktik, die man früher Demut nannte, lebenslang zur Verfügung stehen, muss man sie von klein auf eingeübt haben. Da sie aber im eklatanten Widerspruch zum allseits gewünschten politischen Aktivbürgertum steht, dem sich die Welt grundsätzlich als beeinflussbar darstellt, ist sie schon Heranwachsenden kaum mehr vermittelbar. Was sollen sie tun? Ihre Rechte jederzeit forsch behaupten, wie es Schule, Eltern, Medien sagen? Oder sich ins Unveränderliche fügen, wie es vor 250 Jahren die Philosophen der Aufklärung zu moralischen Grundmaxime der Toleranz erhoben, freilich unter dem schützenden Baldachin des absoluten Staates?
Da liegt die Crux: Wer sich dem absoluten Staat unterzuordnen gewöhnt ist, der kann auch beispielsweise Religionsfrieden halten, indem er sich ins Unveränderliche konkurrierender Glaubenssysteme fügt. Die moderne westliche Welt mit ihren Millionen Ich-Königtümern bar jeder Unterordnungsbereitschaft ist dagegen zur Tolerierung anderer Ich-Königtümer prinzipiell nicht fähig, weder individuell, noch gesellschaftlich. Sie hat kein Regelwerk der Nach-Aufklärung entwickelt, wann Wegschauen erlaubt und wann Eingreifen geboten ist. Deshalb schimmert der Adornosche Negierungstrick vor allem für Intellektuelle, die nichts weniger sein wollen als intolerant, so verführerisch: Missliebige Konkurrenz zum eigenen Ich-Königtum stellt keine Störung dar, weil man dem fremden Ich schlicht die Existenzberechtigung abspricht. Dieses Toleranz-Surrogat verzichtet auf nach außen gerichtete Aggressionen und wirkt insofern konfliktbeschwichtigend, auch wenn es mit dem philosophischen Sachverhalt nichts mehr zu tun hat. Ehrlicherweise sollten wir ihn ganz fallen lassen und den Begriff aus unseren Sonntagsreden streichen. Konzentrieren wir uns stattdessen auf die Frage, wann interessenlose Gleichgültigkeit dem gesellschaftlichen Frieden dient, und wann energische Intoleranz? Eine Faustformel lässt sich von Größe und Stärke der Störung ableiten: Bei punktuellen Streitereien und Missliebigkeiten setzt man klugerweise auf Deeskalation, auch wenn man seine Position naturgemäß für die bessere hält. Bei seriellem Querulantentum oder beim Zusammenstoß mit aggressiven Ideologien bringt Gleichgültigkeit den Untergang. Aber das war schon unter dem klassischen Toleranzbegriff genauso.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Ein neues Buch "Vermögen – Was wir haben, was wir können, was wir sind" erscheint im Juli. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.