Tödliches Erbe der Revolution
Wie viele Waffen in Libyen seit Ende des Gaddafi-Aufstandes noch im Umlauf sind, ist unklar. Obwohl die Regierung versucht hat, Waffen aus dem Verkehr zu ziehen, ist die Gefahr, die von ihnen ausgeht, nicht gebannt. Die Bevölkerung fühlt sich vor allem durch Munitionsreste und Blindgänger bedroht.
Wie jeden Morgen erklärt Ian Ford, Waffen und Munitions-Spezialist von Handicap International, bei einer Lagebesprechung, die Verhaltensregeln auf dem rund 43 Hektar großen Munitionsdepot. Abdul Latif, Chef der örtlichen Bergungsmannschaft übersetzt ins Arabische:
"Wenn wir auf dem Gelände sind, bewegt euch nur innerhalb der weiß markierten Wege. Es liegen noch immer gefährliche Munitionsreste herum, die jederzeit explodieren können. Sollte es eine Explosion geben, bleibt wo ihr seid, wir holen euch dann da raus. Und vor allem: nichts aufheben, alles liegen lassen, das ist zu eurer eigenen Sicherheit."
Auf dem Militärgelände, am Rand des Flughafens von Misrata, hatte Libyens Ex-Machthaber oberirdisch über 40 Munitionsbunker anlegen lassen. In ihnen lagerten über Jahrzehnte alle Arten von Bomben, Granaten, Minen und Munition für Waffen. Produziert in China, Russland, Belgien, Frankreich, England und Italien.
Gekauft vom ehemaligen libyschen Regime, geliefert von international operierenden Waffenhändlern. Um während der Revolutionstage zu verhindern, dass Gaddafis Truppen sich hier mit Nachschub versorgen konnten, bombardierten NATO-Jets Mitte 2011 dieses Munitionsdepot mit bunkerbrechenden Waffen, erklärt Ian Ford:
"Einige der Bunker gerieten so in Brand, rund zwei Wochen lang hörte die Bevölkerung rund um das Militärgelände die Explosionen der Munition. Die dicken Stahltore der Bunker wurden durch die immense Wucht der Detonationen im Inneren aus ihren Verankerungen gerissen. Einige Bunker sind allerdings kaum beschädigt. Die Munition im Innern ist noch immer intakt. Das macht es für uns schwierig, weil wir beim Bergen keine Maschinen einsetzen können."
Ein weiteres Problem ist die auf dem Gelände um die Bunker herum verstreute liegende Munition. Als die einzelnen Waffendepots damals nach dem NATO-Bombardement in die Luft flogen wurden Minen, Granaten und andere scharfe Geschosse weit auf dem Areal verstreut.
Sie liegen ungeschützt im Freien, sind der Sonne ausgesetzt. Jederzeit, so, der 43-jährige Ex-Soldat der britischen Streitkräfte, kann diese Munition explodieren. Über eine rund zwei Meter breite Sandpiste geht’s per Gelände wagen Richtung Bunkeranlagen. Rechts und links der Fahrbahn liegen weiß und rot markierte Steine:
"Das ist eine international gültige Kennzeichnung, erzählt Ian Ford. Alles was hinter der roten Markierung sich befindet ist gefährlich. Dort haben wird die Munition noch nicht geräumt. Der Weg, auf dem wir fahren, zwischen den weißen Markierungen ist sauber, da haben wir Meter für Meter alles abgesucht und was wir finden konnten weggeschafft. Hier können wir uns jetzt ohne Probleme bewegen."
Nach fünf Minuten Fahrt, vorbei an umherliegenden Granatsprengköpfen und anderem gefährlichen Kriegsschrott erreichen wir den ersten Bunker und steigen aus. Zu Fuß geht’s zu einer 12 Meter breiten und 20 Meter lange leeren Halle. Der Boden im Inneren ist übersät mit Resten ausgebrannter Patronenhülsen. Ehemals Munition für Kalaschnikow Maschinengewehre. Dort wo zwei NATO-Bomben eingeschlagen sind klafft ein riesiges Loch. Die gut ein Meter starke Bunkerdecke wölbt sich nach innen, wird nur durch eingearbeitete Stahlarmierungen noch zusammengehalten.
"Hier fanden wir auf der ganzen Fläche ausgebrannte Munitionsreste. Rund ein Meter hoch. Alles in Brand gesetzt durch die NATO-Bomben. Dieser Bunker hatte ein riesiges Stahltor, 70 Zentimeter dick. Wir haben es rund 200 Meter von hier entfernt gefunden, die Explosionen im Inneren haben es aus der Verankerung gerissen. Um zu sich zu sein, dass nicht doch noch irgendwo scharfe Waffen lagern haben wir per Hand, einzeln diesen Munitionsschrott raus transportiert,"
Alleine aus diesem Munitionsdepot 64 Tonnen Metall, die jetzt neben dem zerstörten Bunker lagern. Nur für diese Aufräumarbeiten haben Ian Ford und seine Mitarbeiter mehrere Monate gebraucht. Es ist nur ein Bunker, von insgesamt 43, die Gaddafi bei Misrata ehemals hat anlegen lassen. Wir wussten nicht, dass hier so viel Munition gelagert wurde, erzählt Abdul Latif, Chef des lokalen Bergungsteams von Handicap International:
"Niemand, aber auch wirklich kein Einwohner von Misrata hatte Kenntnis davon, dass hier am Rande der Luftwaffenbasis so viele Waffen untergebracht waren. In Misrata gibt’s einen Hafen, wir haben viele Geschäftsleute, andere sind in Transportunternehmen tätig. Wir haben erst realisiert was hier gelagert worden sein muss, als dieses Munitionsdepot in die Luft geflogen ist. Es war in der Tat eine riesige Ü
berraschung, als die Explosionen mehr als drei Tage angedauert haben."
Erst 2 der 43 Bunker haben die Sprengstoff- und Waffenexperten von Handicap International ausgeräumt. Es ist eine zeitraubende und gefährliche Arbeit, die von europäischen Staaten, darunter auch Deutschland, finanziert wird. Und sie wird noch sehr lange dauern, so Ian Ford:
"Pro Tag schaffen wir es, eine Tonne Munition und Waffen aus den Bunkern zu holen. Das ist schnell zusammen, wenn wir 5200 Kilo Bomben finden. Wenn wir so um die 10 Tonnen zusammen haben, dann bringen wir das Zeug in die Wüste und vernichten alles mit einer riesigen Explosion, damit niemand diese Waffen und Munition mehr einsetzen kann. Ich denke, wir werden hier noch die kommenden fünf Jahre damit beschäftigt sein."
Die Waffenspezialisten sind allerdings nicht nur damit beschäftigt, Gaddafis ehemaliges Waffendepot in Misrata zu leeren. Ihre dortige Arbeit wird immer wieder unterbrochen, wenn es darum geht, Blindgänger unschädlich zu machen. Munition, die während der Revolte gegen Gaddafi im Großraum Misrata von den Konfliktparteien damals verschossen wurde, aber nicht explodiert ist. Und so eine Gefahr für die Bevölkerung darstellt. In solch einem Fall rückt Ian Ford mit seinem ganzen Team aus.
Brutale Kämpfe in Dafnya
Abdulatif, der nicht nur die lokalen Mitarbeiter von Handicap International koordiniert, testet die Funkverbindung. Mit insgesamt vier Fahrzeugen ist die Bergungsmannschaft unterwegs. Diesmal geht es nach Dafnya, einem kleinen Vorort von Misrata. Hier, so Ian Ford, waren die Gefechte damals besonders intensiv:
"In Dafnya gab es heftige Kämpfe zwischen Gaddafis Truppen und den Revolutionären. Speziell in dieser Region haben wir nach wie vor sehr, sehr viel zu tun. Von zehn Berichten über gefundene Blindgänger rund um Misrata sind mindestens sechs aus der Gegend um Dafnya. Viele Raketen wurden hier von beiden Seiten abgefeuert. Wenn wir uns hier beispielsweise die Pfosten der Straßenlampen ansehen, die sind übersät mit Einschusslöchern. Das zeigt, wie verbissen hier gekämpft wurde …"
Nach knapp einer viertel Stunde Fahrt, vorbei an durchlöcherten Straßenlaternen und Hinweisschildern biegt Abdulatif links ab, es geht von der Hauptstraße runter auf einen Feldweg. Ian Ford hat ständig sein GPS-Gerät im Blick. Es zeigt ihm an, wie weit es noch bis zum Fundort des Blindgängers ist. Was ihn dort erwarte kennt er nur von Fotos:
"Ich habe mir die Bilder und Informationen über den Blindgänger angesehen. Soweit ich das Beurteilen kann, könnte es eine Panzerfaustgranate sei, die irgendwo abgefeuert wurde und dann auf einem Feld gelandet ist…noch zweihundert Meter, dann dürften wir da sein, da, über den Hügel noch und dann an dem schwarzen Bewässerungsrohr vorbei, erklärt Ian Ford seinem Fahrer."
Den Fund des Blindgängers hat ein Bauer gemeldet, die Informationen, wo sich genau die Stelle befindet, an die Experten von Handicap International weiter gegeben. Bevor allerdings die Sprengstoffspezialisten losfahren, um den Blindgänger unschädlich zu machen, geht ein Erkundungsteam raus. Es werden weitere Informationen gesammelt, Fotos von der Fundstelle gemacht und das nicht explodierte Geschoss markiert. Dann sind die Waffenexperten an der Reihe:
"Hier jetzt noch 160 Meter, ich denke wir stellen den Wagen ab und dann schauen wir uns das Teil mal näher an …"
Wir steigen aus. Zu Fuß geht’s zu einer riesigen Pfütze. Der Blindgänger, tatsächlich die Granate einer Panzerfaust, ist kaum zu erkennen, er liegt im Wasser, am Rand eines Ackers. An entschärfen und abtransportieren des knapp 20 Zentimeter langen Geschosses ist nicht zu denken, es wäre zu gefährlich. Ian Ford entscheidet sich die Granate vor Ort zu sprengen. Rund um den Blindgänger herum werden Sandsäcke platziert.
Danach schöpft der 43-jährige Brite aus dem so entstandenen Trichter mit einer Schüssel das Wasser ab, bis die Granate frei liegt. Vorsichtig befestigt er dann Semtex, Plastiksprengstoff, an dem Geschoss. In der Zwischenzeit haben die Anderen von Ian Fords Team sich aufgemacht, die Umgebung abzusichern. Eine Straße, die in unmittelbarer Nähe des Fundortes der Granate vorbei führt, muss gesperrt werden. Per Funk bekommen sie Anweisungen:
"Abdulatif, ihr könnt die Straße sperren, wenn ihr soweit seid, meldet euch…ja machen wir, da ist noch ein Wagen unterwegs …"
Währenddessen steckt der 43-jährige britische Ex-Soldat noch eine Zündpatrone in den Plastiksprengstoff und befestigt daran einen Zünddraht. In rund 100 Metern Entfernung testet Ian Ford dann den Zündmechanismus:
"Hier wenn die grüne Lampe leuchtet, das bedeutet, alles ist in Ordnung, siehst Du, sie brennt. Dann wird noch Spannung aufgebaut, über diesen Knopf hier löse ich die Explosion aus und jage das Geschoss in die Luft."
Dann ist es soweit, per Funk kommt die Meldung - die Straße ist frei und abgesperrt:
"Alles klar, fertig für die Sprengung … Alle bleiben auf ihrer Position, ich schau mir das mal an."
Am Ort wo der Blindgänger lag ist jetzt ein Krater im Boden, von der Panzerfaustgranate ist nichts mehr übrig, es kann keine Gefahr mehr von ihr ausgehen. Wäre der Blindgänger normal hochgegangen, niemand im Umkreis von mehreren Metern hätte die Explosion überlebt. Auch der Bauer, der die Granate auf seinem Grundstück entdeckt hatte, schaut sich den Ort der Sprengung an:
"Ich habe neulich beim Pflügen schon mal so einen Blindgänger gefunden und die Experten hier angerufen, die das Teil dann mitgenommen haben. Na klar sorge ich mich um meine Kinder, wenn Sie so eine Granate finden und damit spielen würden, keine Frage, auch für andere Kinder ist das gefährlich, erzählt der 29-Jährige."
Dann stellt sich allerdings heraus, dass er die gesprengte Panzerfaustgranate ursprünglich auf einem seiner Felder gefunden, einfach aufgehoben und dann Richtung Pfütze geworfen hat, wo sie glücklicherweise nicht explodiert ist. Für den Missionschef von Handicap International in Misrata, Paul Mc Coullough ist dieses lebensgefährliche Verhalten nicht neu:
Vermutlich Tausende Blindgänger im Großraum Misrata
"Wenn die Leute ihre Felder bestellen und etwas finden, dann bewegen sie den Blindgänger meist an den Rand und machen danach weiter. Das beunruhigt uns sehr, zumal wir immer wieder in Fernseh- und Radiospots, in Zeitungen und auf Plakaten darauf hinweisen, hemau das nicht zu tun. Unglücklicherweise machen sieht, was sie meinen machen zu müssen, damit ihr Leben weiter geht."
Wie viele Blindgänger im Großraum Misrata noch auf Feldern, Wiesen und entlang von Wegen verstreut herumliegen, weiß niemand so genau. Es dürften Tausende sein. Diese gefährlichen Überreste der Revolte gegen Gaddafi zu bergen und unschädlich zu machen wird wohl noch Jahre dauern. Ob man sie restlos beseitigen können wird ist fraglich.
Das bedeutet allerdings in den kommenden Jahren höchste Lebensgefahr, vor allem für Kinder. Sie können nicht unterscheiden zwischen ungefährlichem Kriegsschrott und scharfer Munition. So erging es dem elfjährigen Ibrahim. Der kleine Junge steht am Stadtrand von Misrata im Hof seines Vaters und zeigt die Stelle, wo im Mai 2011 eine Granate, abgeschossen von Gaddafis Truppen, eingeschlagen ist. Direkt im Hühnerstall. Er hat damals draußen gespielt, erzählt Ibrahims Vater:
"Wir waren zuhause, haben draußen das Granatfeuer gehört. Wann mein Sohn hier in den Hof gekommen ist weiß ich nicht mehr. Wir haben dann was laut explodieren hören. Plötzlich kommt er ins Haus, er blutete fürchterlich und schrie nach seiner Mutter."
Ibrahim stand offenbar nur zwei Meter von der explodierenden Granate entfernt. Er wird lebensgefährlich verletzt, kommt mit schwersten Splitter- und Brandwunden ins Krankenhaus.
Durch die Explosion hat der Elfjährige einen Teil seines Fußes verloren. In der Hand hält der kleine Junge ein Plastikdöschen, darin einige Granatsplitter, die ihm die Ärzte damals bei mehreren Operationen entfernt haben.
Noch viel mehr dieser kleinen Metallteile stecken nach wie vor in seinem Körper. Ibrahim ist traumatisiert, das Erlebte von damals hat sich in seine Seele gebrannt.
Er redet nicht viel, mit Fremden schon gar nicht. Um zu vermeiden, dass noch mehr Kinder durch solche Granaten verletzt werden, setzt Handicap international, neben der Bergung der Blindgänger, in Misrata auf Aufklärung. Das Programm nennt sich Risk-Education.
9 Uhr, Unterrichtsbeginn in einer Grundschule. 9- bis 13-jährige Jungs sitzen oder stehen dicht gedrängt im Chemiesaal. Khaled von Handicap International hat seinen Laptop aufgeklappt und präsentiert per Videobeamer alle Arten von Waffen, die von den Truppen Gaddafis, aber auch den Revolutionsmilizen während der mehrmonatigen Belagerung Misratas im Gefecht verwendet wurden:
In einer Multimedia Show zeigt Khaled den Schülern auch Munition, die von den Kriegsparteien verschossen wurde. Seine Warnung an die Schüler: nichts aufheben, nichts anfassen, auch wenn ihr neugierig seid und wissen wollt, was für ein Gegenstand das ist, sagt er. Im Frage-Antwort-Spiel will Kahled von den Jungs wissen: ist das hier gefährlich oder nicht gefährlich?
Gefährlich rufen die Schüler im Chor:
Nach rund 45 Minuten ist der Unterricht vorbei, die Schüler erzählen, was sie gelernt haben:
"Ich habe heute gelernt, von solchen Waffen die Finger weg zu lassen. Ich werde das meinen Geschwistern und Eltern weiter sagen. Wenn ich was finde, dann rufen wir die Leute von Handicap International an.
Das Zeug ist gefährlich, das nehme ich heute mit. Ich habe in der Wohnung von meinem Bruder eine Panzerfaustgranate gefunden, wir haben eine Miliz angerufen, die hat dann die Granate abgeholt.
Ich wusste schon einiges von dem, was er uns erzählt hat. Wenn ich mal eine Granate oder so finde, dann werde ich sofort meinen Eltern verständige und die werden dann diese Organisation anrufen."
"Wenn wir auf dem Gelände sind, bewegt euch nur innerhalb der weiß markierten Wege. Es liegen noch immer gefährliche Munitionsreste herum, die jederzeit explodieren können. Sollte es eine Explosion geben, bleibt wo ihr seid, wir holen euch dann da raus. Und vor allem: nichts aufheben, alles liegen lassen, das ist zu eurer eigenen Sicherheit."
Auf dem Militärgelände, am Rand des Flughafens von Misrata, hatte Libyens Ex-Machthaber oberirdisch über 40 Munitionsbunker anlegen lassen. In ihnen lagerten über Jahrzehnte alle Arten von Bomben, Granaten, Minen und Munition für Waffen. Produziert in China, Russland, Belgien, Frankreich, England und Italien.
Gekauft vom ehemaligen libyschen Regime, geliefert von international operierenden Waffenhändlern. Um während der Revolutionstage zu verhindern, dass Gaddafis Truppen sich hier mit Nachschub versorgen konnten, bombardierten NATO-Jets Mitte 2011 dieses Munitionsdepot mit bunkerbrechenden Waffen, erklärt Ian Ford:
"Einige der Bunker gerieten so in Brand, rund zwei Wochen lang hörte die Bevölkerung rund um das Militärgelände die Explosionen der Munition. Die dicken Stahltore der Bunker wurden durch die immense Wucht der Detonationen im Inneren aus ihren Verankerungen gerissen. Einige Bunker sind allerdings kaum beschädigt. Die Munition im Innern ist noch immer intakt. Das macht es für uns schwierig, weil wir beim Bergen keine Maschinen einsetzen können."
Ein weiteres Problem ist die auf dem Gelände um die Bunker herum verstreute liegende Munition. Als die einzelnen Waffendepots damals nach dem NATO-Bombardement in die Luft flogen wurden Minen, Granaten und andere scharfe Geschosse weit auf dem Areal verstreut.
Sie liegen ungeschützt im Freien, sind der Sonne ausgesetzt. Jederzeit, so, der 43-jährige Ex-Soldat der britischen Streitkräfte, kann diese Munition explodieren. Über eine rund zwei Meter breite Sandpiste geht’s per Gelände wagen Richtung Bunkeranlagen. Rechts und links der Fahrbahn liegen weiß und rot markierte Steine:
"Das ist eine international gültige Kennzeichnung, erzählt Ian Ford. Alles was hinter der roten Markierung sich befindet ist gefährlich. Dort haben wird die Munition noch nicht geräumt. Der Weg, auf dem wir fahren, zwischen den weißen Markierungen ist sauber, da haben wir Meter für Meter alles abgesucht und was wir finden konnten weggeschafft. Hier können wir uns jetzt ohne Probleme bewegen."
Nach fünf Minuten Fahrt, vorbei an umherliegenden Granatsprengköpfen und anderem gefährlichen Kriegsschrott erreichen wir den ersten Bunker und steigen aus. Zu Fuß geht’s zu einer 12 Meter breiten und 20 Meter lange leeren Halle. Der Boden im Inneren ist übersät mit Resten ausgebrannter Patronenhülsen. Ehemals Munition für Kalaschnikow Maschinengewehre. Dort wo zwei NATO-Bomben eingeschlagen sind klafft ein riesiges Loch. Die gut ein Meter starke Bunkerdecke wölbt sich nach innen, wird nur durch eingearbeitete Stahlarmierungen noch zusammengehalten.
"Hier fanden wir auf der ganzen Fläche ausgebrannte Munitionsreste. Rund ein Meter hoch. Alles in Brand gesetzt durch die NATO-Bomben. Dieser Bunker hatte ein riesiges Stahltor, 70 Zentimeter dick. Wir haben es rund 200 Meter von hier entfernt gefunden, die Explosionen im Inneren haben es aus der Verankerung gerissen. Um zu sich zu sein, dass nicht doch noch irgendwo scharfe Waffen lagern haben wir per Hand, einzeln diesen Munitionsschrott raus transportiert,"
Alleine aus diesem Munitionsdepot 64 Tonnen Metall, die jetzt neben dem zerstörten Bunker lagern. Nur für diese Aufräumarbeiten haben Ian Ford und seine Mitarbeiter mehrere Monate gebraucht. Es ist nur ein Bunker, von insgesamt 43, die Gaddafi bei Misrata ehemals hat anlegen lassen. Wir wussten nicht, dass hier so viel Munition gelagert wurde, erzählt Abdul Latif, Chef des lokalen Bergungsteams von Handicap International:
"Niemand, aber auch wirklich kein Einwohner von Misrata hatte Kenntnis davon, dass hier am Rande der Luftwaffenbasis so viele Waffen untergebracht waren. In Misrata gibt’s einen Hafen, wir haben viele Geschäftsleute, andere sind in Transportunternehmen tätig. Wir haben erst realisiert was hier gelagert worden sein muss, als dieses Munitionsdepot in die Luft geflogen ist. Es war in der Tat eine riesige Ü
berraschung, als die Explosionen mehr als drei Tage angedauert haben."
Erst 2 der 43 Bunker haben die Sprengstoff- und Waffenexperten von Handicap International ausgeräumt. Es ist eine zeitraubende und gefährliche Arbeit, die von europäischen Staaten, darunter auch Deutschland, finanziert wird. Und sie wird noch sehr lange dauern, so Ian Ford:
"Pro Tag schaffen wir es, eine Tonne Munition und Waffen aus den Bunkern zu holen. Das ist schnell zusammen, wenn wir 5200 Kilo Bomben finden. Wenn wir so um die 10 Tonnen zusammen haben, dann bringen wir das Zeug in die Wüste und vernichten alles mit einer riesigen Explosion, damit niemand diese Waffen und Munition mehr einsetzen kann. Ich denke, wir werden hier noch die kommenden fünf Jahre damit beschäftigt sein."
Die Waffenspezialisten sind allerdings nicht nur damit beschäftigt, Gaddafis ehemaliges Waffendepot in Misrata zu leeren. Ihre dortige Arbeit wird immer wieder unterbrochen, wenn es darum geht, Blindgänger unschädlich zu machen. Munition, die während der Revolte gegen Gaddafi im Großraum Misrata von den Konfliktparteien damals verschossen wurde, aber nicht explodiert ist. Und so eine Gefahr für die Bevölkerung darstellt. In solch einem Fall rückt Ian Ford mit seinem ganzen Team aus.
Brutale Kämpfe in Dafnya
Abdulatif, der nicht nur die lokalen Mitarbeiter von Handicap International koordiniert, testet die Funkverbindung. Mit insgesamt vier Fahrzeugen ist die Bergungsmannschaft unterwegs. Diesmal geht es nach Dafnya, einem kleinen Vorort von Misrata. Hier, so Ian Ford, waren die Gefechte damals besonders intensiv:
"In Dafnya gab es heftige Kämpfe zwischen Gaddafis Truppen und den Revolutionären. Speziell in dieser Region haben wir nach wie vor sehr, sehr viel zu tun. Von zehn Berichten über gefundene Blindgänger rund um Misrata sind mindestens sechs aus der Gegend um Dafnya. Viele Raketen wurden hier von beiden Seiten abgefeuert. Wenn wir uns hier beispielsweise die Pfosten der Straßenlampen ansehen, die sind übersät mit Einschusslöchern. Das zeigt, wie verbissen hier gekämpft wurde …"
Nach knapp einer viertel Stunde Fahrt, vorbei an durchlöcherten Straßenlaternen und Hinweisschildern biegt Abdulatif links ab, es geht von der Hauptstraße runter auf einen Feldweg. Ian Ford hat ständig sein GPS-Gerät im Blick. Es zeigt ihm an, wie weit es noch bis zum Fundort des Blindgängers ist. Was ihn dort erwarte kennt er nur von Fotos:
"Ich habe mir die Bilder und Informationen über den Blindgänger angesehen. Soweit ich das Beurteilen kann, könnte es eine Panzerfaustgranate sei, die irgendwo abgefeuert wurde und dann auf einem Feld gelandet ist…noch zweihundert Meter, dann dürften wir da sein, da, über den Hügel noch und dann an dem schwarzen Bewässerungsrohr vorbei, erklärt Ian Ford seinem Fahrer."
Den Fund des Blindgängers hat ein Bauer gemeldet, die Informationen, wo sich genau die Stelle befindet, an die Experten von Handicap International weiter gegeben. Bevor allerdings die Sprengstoffspezialisten losfahren, um den Blindgänger unschädlich zu machen, geht ein Erkundungsteam raus. Es werden weitere Informationen gesammelt, Fotos von der Fundstelle gemacht und das nicht explodierte Geschoss markiert. Dann sind die Waffenexperten an der Reihe:
"Hier jetzt noch 160 Meter, ich denke wir stellen den Wagen ab und dann schauen wir uns das Teil mal näher an …"
Wir steigen aus. Zu Fuß geht’s zu einer riesigen Pfütze. Der Blindgänger, tatsächlich die Granate einer Panzerfaust, ist kaum zu erkennen, er liegt im Wasser, am Rand eines Ackers. An entschärfen und abtransportieren des knapp 20 Zentimeter langen Geschosses ist nicht zu denken, es wäre zu gefährlich. Ian Ford entscheidet sich die Granate vor Ort zu sprengen. Rund um den Blindgänger herum werden Sandsäcke platziert.
Danach schöpft der 43-jährige Brite aus dem so entstandenen Trichter mit einer Schüssel das Wasser ab, bis die Granate frei liegt. Vorsichtig befestigt er dann Semtex, Plastiksprengstoff, an dem Geschoss. In der Zwischenzeit haben die Anderen von Ian Fords Team sich aufgemacht, die Umgebung abzusichern. Eine Straße, die in unmittelbarer Nähe des Fundortes der Granate vorbei führt, muss gesperrt werden. Per Funk bekommen sie Anweisungen:
"Abdulatif, ihr könnt die Straße sperren, wenn ihr soweit seid, meldet euch…ja machen wir, da ist noch ein Wagen unterwegs …"
Währenddessen steckt der 43-jährige britische Ex-Soldat noch eine Zündpatrone in den Plastiksprengstoff und befestigt daran einen Zünddraht. In rund 100 Metern Entfernung testet Ian Ford dann den Zündmechanismus:
"Hier wenn die grüne Lampe leuchtet, das bedeutet, alles ist in Ordnung, siehst Du, sie brennt. Dann wird noch Spannung aufgebaut, über diesen Knopf hier löse ich die Explosion aus und jage das Geschoss in die Luft."
Dann ist es soweit, per Funk kommt die Meldung - die Straße ist frei und abgesperrt:
"Alles klar, fertig für die Sprengung … Alle bleiben auf ihrer Position, ich schau mir das mal an."
Am Ort wo der Blindgänger lag ist jetzt ein Krater im Boden, von der Panzerfaustgranate ist nichts mehr übrig, es kann keine Gefahr mehr von ihr ausgehen. Wäre der Blindgänger normal hochgegangen, niemand im Umkreis von mehreren Metern hätte die Explosion überlebt. Auch der Bauer, der die Granate auf seinem Grundstück entdeckt hatte, schaut sich den Ort der Sprengung an:
"Ich habe neulich beim Pflügen schon mal so einen Blindgänger gefunden und die Experten hier angerufen, die das Teil dann mitgenommen haben. Na klar sorge ich mich um meine Kinder, wenn Sie so eine Granate finden und damit spielen würden, keine Frage, auch für andere Kinder ist das gefährlich, erzählt der 29-Jährige."
Dann stellt sich allerdings heraus, dass er die gesprengte Panzerfaustgranate ursprünglich auf einem seiner Felder gefunden, einfach aufgehoben und dann Richtung Pfütze geworfen hat, wo sie glücklicherweise nicht explodiert ist. Für den Missionschef von Handicap International in Misrata, Paul Mc Coullough ist dieses lebensgefährliche Verhalten nicht neu:
Vermutlich Tausende Blindgänger im Großraum Misrata
"Wenn die Leute ihre Felder bestellen und etwas finden, dann bewegen sie den Blindgänger meist an den Rand und machen danach weiter. Das beunruhigt uns sehr, zumal wir immer wieder in Fernseh- und Radiospots, in Zeitungen und auf Plakaten darauf hinweisen, hemau das nicht zu tun. Unglücklicherweise machen sieht, was sie meinen machen zu müssen, damit ihr Leben weiter geht."
Wie viele Blindgänger im Großraum Misrata noch auf Feldern, Wiesen und entlang von Wegen verstreut herumliegen, weiß niemand so genau. Es dürften Tausende sein. Diese gefährlichen Überreste der Revolte gegen Gaddafi zu bergen und unschädlich zu machen wird wohl noch Jahre dauern. Ob man sie restlos beseitigen können wird ist fraglich.
Das bedeutet allerdings in den kommenden Jahren höchste Lebensgefahr, vor allem für Kinder. Sie können nicht unterscheiden zwischen ungefährlichem Kriegsschrott und scharfer Munition. So erging es dem elfjährigen Ibrahim. Der kleine Junge steht am Stadtrand von Misrata im Hof seines Vaters und zeigt die Stelle, wo im Mai 2011 eine Granate, abgeschossen von Gaddafis Truppen, eingeschlagen ist. Direkt im Hühnerstall. Er hat damals draußen gespielt, erzählt Ibrahims Vater:
"Wir waren zuhause, haben draußen das Granatfeuer gehört. Wann mein Sohn hier in den Hof gekommen ist weiß ich nicht mehr. Wir haben dann was laut explodieren hören. Plötzlich kommt er ins Haus, er blutete fürchterlich und schrie nach seiner Mutter."
Ibrahim stand offenbar nur zwei Meter von der explodierenden Granate entfernt. Er wird lebensgefährlich verletzt, kommt mit schwersten Splitter- und Brandwunden ins Krankenhaus.
Durch die Explosion hat der Elfjährige einen Teil seines Fußes verloren. In der Hand hält der kleine Junge ein Plastikdöschen, darin einige Granatsplitter, die ihm die Ärzte damals bei mehreren Operationen entfernt haben.
Noch viel mehr dieser kleinen Metallteile stecken nach wie vor in seinem Körper. Ibrahim ist traumatisiert, das Erlebte von damals hat sich in seine Seele gebrannt.
Er redet nicht viel, mit Fremden schon gar nicht. Um zu vermeiden, dass noch mehr Kinder durch solche Granaten verletzt werden, setzt Handicap international, neben der Bergung der Blindgänger, in Misrata auf Aufklärung. Das Programm nennt sich Risk-Education.
9 Uhr, Unterrichtsbeginn in einer Grundschule. 9- bis 13-jährige Jungs sitzen oder stehen dicht gedrängt im Chemiesaal. Khaled von Handicap International hat seinen Laptop aufgeklappt und präsentiert per Videobeamer alle Arten von Waffen, die von den Truppen Gaddafis, aber auch den Revolutionsmilizen während der mehrmonatigen Belagerung Misratas im Gefecht verwendet wurden:
In einer Multimedia Show zeigt Khaled den Schülern auch Munition, die von den Kriegsparteien verschossen wurde. Seine Warnung an die Schüler: nichts aufheben, nichts anfassen, auch wenn ihr neugierig seid und wissen wollt, was für ein Gegenstand das ist, sagt er. Im Frage-Antwort-Spiel will Kahled von den Jungs wissen: ist das hier gefährlich oder nicht gefährlich?
Gefährlich rufen die Schüler im Chor:
Nach rund 45 Minuten ist der Unterricht vorbei, die Schüler erzählen, was sie gelernt haben:
"Ich habe heute gelernt, von solchen Waffen die Finger weg zu lassen. Ich werde das meinen Geschwistern und Eltern weiter sagen. Wenn ich was finde, dann rufen wir die Leute von Handicap International an.
Das Zeug ist gefährlich, das nehme ich heute mit. Ich habe in der Wohnung von meinem Bruder eine Panzerfaustgranate gefunden, wir haben eine Miliz angerufen, die hat dann die Granate abgeholt.
Ich wusste schon einiges von dem, was er uns erzählt hat. Wenn ich mal eine Granate oder so finde, dann werde ich sofort meinen Eltern verständige und die werden dann diese Organisation anrufen."