Tödliche Jugendgangs

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
Der spanisch-französische Dokumentarfilm „La vida loca“, der nun in den deutschen Kinos anläuft, erzählt vom Teufelskreis der Bandenkriminalität in El Salvador nach dem Ende des Bürgerkrieges. Regisseur Christian Póveda lebte mit jugendlichen Bandenmitgliedern, bis er im vergangenen Jahr ermordet wurde.
Der Tod kommt schnell und unerwartet: die Schüsse, dann das Opfer im Leichenschauhaus und dann die Schreie und die von Schmerz und Trauer verzerrten Gesichter am offenen Sarg. Die Protagonisten tragen die Namen skurriler Comic- und Horrorfilmfiguren und leben in urbanen stammes- oder sektenähnlichen Gemeinschaften mit ihren ganz eigenen Riten und Ritualen, mit eintätowierten Zeichen und Symbolen.

Die großen Banden, die Mara Salvatrucha und die Mara 18, einst von Immigranten aus El Salvador in Los Angeles ins Leben gerufen, haben sich längst in Zentralamerika verbreitet, besonders in dem vom jahrelangen Bürgerkrieg zerrissenen El Salvador. Sie beherrschen die Armenviertel der Hauptstadt. In einem Land mit 5,8 Millionen Einwohnern, von den Bandenmitgliedern sitzen Polizeiangaben zufolge 7500 im Gefängnis, 7500 befinden sich auf freiem Fuß mit der Alternative Tod oder Gefängnis.

Der französisch-spanische Fernsehjournalist Christian Póveda kannte das Land bereits seit Jahren. 1955 als Sohn von Exilspaniern geboren, berichtete er bereits während des Bürgerkrieges zwischen der marxistischen Guerilla und den Regierungstruppen aus der Region.

Christian Póveda: „El Salvador ist das gewalttätigste Land in Lateinamerika, hier werden jeden Tag zehn oder elf Menschen ermordet. Ein Land, das zwölf Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat, unglücklicherweise ist man hier an den Tod gewöhnt, steht ihm fast gleichgültig gegenüber, spielt mit dem Tod.“

„La vida loca” bedeutet auf Spanisch „Das verrückte Leben” und ist eines der populären Lieder, deren Rhythmen das Leben der Jugendlichen in den verelendeten Vorstädten von El Salvadors Hauptstadt begleiten. Verrückt ist an diesem Leben, an den blutigen Kämpfen rivalisierender Banden und der Polizei allerdings nur die monotone Sicherheit, mit der es in den gewaltsamen Tod oder in langjährige Gefängnisstrafen führt.

Christian Póveda lebte und filmte fast zwei Jahre mit den Mitgliedern der Mara 18. Er suchte sich zunächst das Einverständnis der Chefs der Banden. Dann machte er sich auf die Suche nach den zentralen Figuren seines Films. Besonders schwierig war es, Protagonisten zu finden, die bis zum Ende dabeibleiben würden.

Christian Póveda: „Zum einen kann ihnen die ganze Arbeit mit der Kamera einfach langweilig werden, dann die Gefahr, dass sie einfach verhaftet oder getötet werden. Am Anfang hatte ich etwa zehn Protagonisten, einige verschwanden sehr schnell, einer starb in den ersten Tagen, im Film ist er am Anfang in der Szene in der Bäckerei zu sehen, ich hatte gar keine Zeit, mit ihm eine Beziehung aufzubauen, wir hatten kaum angefangen zu filmen.“

„La vida loca“ ist kein didaktischer Film. Die wichtigsten Angaben zur Situation in El Salvador werden am Anfang des Films über Zwischentitel vermittelt, danach erzählt der Film von innen her die parallelen und sich überschneidenden Geschichten seiner Protagonisten: etwa die von Janet mit dem Bandennamen „Wizzard”, die während der ganzen Zeit um eine Augenoperation kämpft.

Sie stirbt durch mehrere Schüsse, nachdem sie für einen kurzen Moment geradezu glücklich wirkte. Andere wie „La chuqui” enden im Gefängnis, wieder andere schließen sich evangelikalen Sekten an, wie Erick, der sich in der Besserungsanstalt taufen lässt. Die Kamera ist immer dabei, lässt sich aber nicht für die reine Selbstinszenierung der Bandenmitglieder missbrauchen:

Christian Póveda: „Die Protagonisten vergessen natürlich niemals, dass sie gefilmt werden, aber mit der Zeit hörten sie auch auf, sich vor der Kamera immer in Szene zu setzen, wir haben uns Zeit genommen, das war das Wichtigste. Wenn man sich diese Zeit nicht nimmt, dann kommt etwas ganz anderes bei heraus. Diese Fernsehreportagen, die so in zwei Tagen gemacht werden, die zeigen dann eben auch nur die Show, die die Gang vor ihnen abzieht, das hat aber nichts mit der Wirklichkeit zu tun, die ich zeigen wollte ...“

„La vida loca“ zeigt in beeindruckender Nähe zu seinen Protagonisten den Hass und die Verzweiflung von Menschen, die in ihrem Leben nie eine Chance hatten. Der Film zeigt aber auch den Zusammenbruch der Zivilgesellschaft angesichts der Gewalt und der schreienden sozialen Ungerechtigkeit, zeigt hilflose Richter und auf Rache sinnende Polizisten. Er begleitet sieben Bandenmitglieder, am beeindruckendsten sind dabei die jungen Frauen.

Christian Póveda: „Es ist ein absolut machistisches Land, und das spiegelt sich auch in der Bandenkultur wider. Gerade deswegen müssen die Frauen so viel kämpfen. Der Film zeigt, wie sie den Partner wechseln, Kinder von unterschiedlichen Männern haben. Aber am Ende stehen sie immer allein und müssen auch die Kinder alleine aufziehen. Sie kämpfen für ihr Leben, für das ihrer Kinder, und das hat sie zu starken Charakteren werden lassen.“

Die Bandengewalt in den lateinamerikanischen Elendsvierteln, im Spielfilm oft romantisiert, wird hier in seiner ganzen Härte von innen heraus reflektiert. Diese Unmittelbarkeit macht diesen Film um so vieles beeindruckender als jede Fiktion. Der Tod ist in „La vida loca“ immer präsent, schnell und unerbittlich.

Christian Póveda: „In Europa schließen wir die Särge, hier haben sie Fenster. Der Tod wird inszeniert, eine ‚mise en scene‘, wie die Franzosen sagen. Als wir anfingen unser gefilmtes Material zu sichten und zusammenzufügen, sagte ich zu meinem Cutter: ‚Sieh mal, der Hauptdarsteller des Films ist der Tod. Der Film beginnt mit dem Tod und endet mit dem Tod‘.“

Der Tod hat auch Christian Póveda eingeholt. Er wurde am 2. September 2009 mit vier Kopfschüssen in einem der ärmeren Stadtviertel von San Salvador ermordet. Er recherchierte für den zweiten Teil seines Filmes. Bis heute sind die Umstände ungeklärt.