Tod und Auferstehung in der postmodernen Welt

Von Kirsten Dietrich · 27.10.2007
An diesem Samstag erscheint der letzte Band der Harry Potter-Serie in der deutschen Übersetzung. Gerade von den jüngeren Fans wird er sehnsüchtig erwartet, die die umfangreichen Abenteuer des jungen Zauberlehrlings noch nicht im englischen Original lesen können. Auch die Theologie nimmt sich des Zauberlehrlings an.
Ein besonderes Kind besiegelt als Kind den - wenn auch nur vorübergehenden - Untergang des Bösen. Es wächst heran mit dem durch eine uralte Prophezeiung besiegelten Auftrag, das Böse oder genauer: den Bösen endgültig zu besiegen. Auf dem Weg dazu helfen die Liebe einer quasi heiligen Mutter, verschiedene scheinbar allmächtige Vaterfiguren und die Bereitschaft, das eigene Leben für die Freunde zu opfern. Die Geschichte von Harry Potter auf ihren religiösen Sinngehalt hin zu lesen, liegt nahe. Denn durch die sieben Bände der Erzählung von der magischen Erziehung des jungen Harry zieht sich eine weitere, viel umfassendere Erzählung: die vom Ringen um den rechten Umgang mit dem Tod. Sie bringt Harry bis an die Schwelle des Todes selber – die ironischerweise in einem abgelegenen Raum im Zaubereiministerium verwaltet wird.

Zitat "Order of the Phoenix”:
"”This room was larger than the last, dimly lit and rectangular, and the centre of it was sunken, forming a great stone pit some twenty feet deep. (...) There was a raised stone dais in the centre of the pit, on which stood a stone archway that looked so ancient, cracked and crumbling that Harry was amazed the thig was still standing. Unsupported by any surrounding wall, the archway was hung with a tattered black curtain or veil which, despite the complete stillness of the cold surrounding air, was fluttering very slightly as though it had just been touched. "Who’s there?” said Harry, jumping down on to the bench below. There was no answering voice. (...) Still the veil swayed gently, as though somebody had just passed through it.”"

Hinter dem Schleier – die Toten, die verlockend wispern. Nur wenig später wird Harrys geliebter Pate Sirius, einer seiner Ersatzväter, durch diesen Schleier fallen, im Kampf mit einer Anhängerin der Bösen, die sich selber sinnigerweise Deatheaters, Todesser, nennen. Harry versucht verzweifelt, Kontakt zur Welt hinter dem Schleier und damit zum verlorenen Paten aufzunehmen: Davon, sich selber durch den Schleier zu stürzen, haben seine Freunde Harry gerade noch abhalten können. Harry konsultiert magische Spiegel, durch die die Besitzer über große Entfernungen miteinander sprechen können.

Er befragt die Hausgeister in der Zauberschule Hogwarts über diese Form des Lebens nach dem Tod – die mit der Anfrage schon gerechnet hatten. Jedesmal, wenn ein Schüler jemand Geliebten verliere, komme diese Frage, seufzt der Fast-Kopflose-Nick, einer der Hausgeister. Im fünften Band der Serie, "Der Orden des Phoenix", markiert der Tod einen Wendepunkt in Harrys Geschichte: von nun an versteht er den Kampf gegen das todbringende Böse als seinen persönlichen Auftrag. Vorher war er geborgen in einer anderen Vorstellung vom Tod: der Tod als einfacher Schritt in eine neue, aber nicht grundlegend andere Welt. Schuldirektor Dumbledore, die andere prägende Vaterfigur, vermittelt Harry dieses Verständnis gleich im ersten Band der Serie. In diesem wird der titelgebende Stein der Weisen zerstört, der nicht nur seinen Besitzer und dessen Frau über Jahrhunderte vor dem Tod bewahren konnte. Für Dumbledore kein Grund zur Trauer.

Zitat Harry Potter und der Stein der Weisen:
"Für jemanden, der so jung ist wie du, klingt es gewiss unglaublich, doch für Nicolas und Perenelle ist es im Grunde nur, wie wenn sie nach einem sehr, sehr langen Tag zu Bett gingen. Schließlich ist der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer. Weißt du, eigentlich war der Stein gar nichts so Wundervolles. Geld und Leben, so viel du dir wünschst! Die beiden Dinge, welche die meisten Menschen allem anderen vorziehen würden - das Problem ist, die Menschen haben den Hang, genau das zu wählen, was am Schlechtesten für sie ist."

Der Tod als Fortführung des Lebens mit anderen Mitteln – für den Soziologen Hubert Knoblauch zeigen sich die Harry Potter-Romane hier ganz auf der Höhe der Zeit.

Knoblauch: "De westlichen Reinkarnationsvorstellungen gehören dazu, die meinen, wir selber bestehen weiter. Diese Kontinuität, die immens starker Glaube an Individuum ist, kommt hier sicher mit rein. Hat mit Motiv zu tun, was mit modernen Todesvorstellungen finden, dass Tod Grenze ist, aber nicht Grenze Subjekt."

Ein Paradies mit der Zusage von Nähe zu Gott erwartet diese Vorstellung vom Tod nicht mehr, so Knoblauch. Harry Potter hat mehrere Begegnungen mit eigentlich schon Toten: er trifft seine toten Eltern, tote Freunde und schließlich in einem Raum jenseits des Lebens auf seinen Gegner, den finsteren Lord Voldemort. All diese Orte sind - leer. Bis auf die geliebten oder ungeliebten Toten natürlich. Soziologe Hubert Knoblauch entdeckt hier den Rückgriff auf klassische Ahnenvorstellungen.

Knoblauch: "Archaische Religionen sind im Wesentlichen Ahnenreligionen, gehen davon aus, dass mit verstorbenen, weisen Geistern kommunizieren können, ist spiritistisches Motiv, das in der englischen Literatur erfunden wurde, aber auch eine Modernisierung des Jenseitsglaubens darstellt. Spiritismus ist die Antwort der Moderne auf verlorenen christlichen Jenseitsglauben."

An dieser Stelle widerspricht eine Deutung, die sich aus christlichem Hintergrund speist. Wilhelm Gräb, evangelischer Theologe an der Humboldt-Universität in Berlin, beschäftigt sich mit religiösen Gehalten der Gegenwartskultur.

Gräb: "Der böse Lord Voldemort in Harry Potter ist ja gerade dadurch bestraft, das ist sein Unheil, dass er nicht sterben kann. Dass immer nur hart an der Grenze des Todes, aber grad nicht diesen Durchgang vollzieht, durch Tod in neues Leben. Das liegt daran, dass Erfahrung der Liebe fehlt. Die Liebe ist stärker als der Tod, lässt uns Kontakt auch mit denjenigen aufrechterhalten, die vor uns gestorben."

Im Jenseits wartet kein Gott - für Gräb ist das keine weithin geteilte Vorstellung, sondern die persönliche Tragödie des Bösen.

Gräb: "Weil der Böse ahnt, dass, wenn er sterben sollte, wirklich ganz tot ist. Keiner wird sich seiner erinnern. Erst recht kein Gott, der sich ewig seiner erinnert. Das ist Kerngedanke des christlichen Auferstehungsglaubens: Dass wir einen Gott glauben, der aus Tod hinaus in neues Leben ruft, Neuerweckung aus Tod in Leben, so dass einzige Kontinuität über Tod hinaus nicht durch uns und unsere Individualität und Drang, ewig leben zu wollen, gestiftet wird, sondern durch Gott."

Die Auferstehung allerdings hat in den Harry Potter Romanen einen schlechten Ruf. So selbstverständlich und weitverbreitet der Kontakt mit den Toten ist: Zurückkommen sollten sie besser nicht. Tod ist auch in der magischen Welt des Harry Potter eine Einbahnstraße - auch wenn die Kommunikation auf dem Weg so weit reicht, dass Harry sich im letzten Band der Serie vom Tod als dem Ort redet, von dem aus man wirklich nicht mehr zurückrufen kann. Zum Abschluss der Serie entwickelt die Autorin Joanne K. Rowling denn auch zum ersten Mal eine als solche ausformulierte Mythologie - indem sie ein Märchen über den Tod schreibt.

Drei Brüder, so heißt es, hatten dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Grummelnd gestand der Tod jedem von ihnen ein Geschenk zu, die titelgebenden Heiligtümer des Todes. Der erste Bruder wünschte sich einen unbezwingbaren Zauberstab - und wurde prompt von einem Neider im Schlaf getötet. Der zweite Bruder wollte einen Stein, mit dem er eine geliebte Frau vom Tod zurückbringen konnte. Die Frau war aber so unglücklich in der Welt der Lebenden, dass der Bruder lieber den Freitod wählte, um in der Welt der Toten mit ihr zu leben. Nur der dritte, jüngste Bruder wählte klug: Er erbat sich einen Mantel, der unsichtbar macht. Nicht einmal der Tod konnte ihn finden. So lebte der Bruder glücklich und erfüllt, bis er den Mantel an seinen Sohn weitergab und dem Tod aus freien Stücken entgegentrat, als Partner auf Augenhöhe.

Der Mantel übrigens befindet sich nach Jahrhunderten nun im Besitz von Harry Potter. Ob er von ihm Gebrauch macht, um dem Tod ebenso souverän entgegenzutreten, erzählt die Autorin nicht mehr. Auf jeden Fall ist klar: Harry wird nicht über Leichen gehen, um sich ans Leben zu klammern, so wie der böse Lord Voldemort. Dass er in seinem Jenseits aber Personen über seine engste Familie und Freunde hinaus erwartet, darauf gibt es in der Lektüre der Romane auch keinen Hinweis. Und doch lässt sich von Harry Potter etwas über die spirituelle Verfasstheit der Gegenwart lernen.

Knoblauch: "Man könnte meinen, dass nicht Umgang mit Tod allgemein, aber prononcierte Individualisierung, die auch in Todesvorstellung zum Ausdruck kommt, eben die enorm starken Ansprüche auf Individualisierung, die wir auf Kinder in unserer Zeit beobachten, zum Ausdruck kommt. Harry Potter ist ja auch ein starkes Kind. Individuum. Kindindividuum."

Interessanter als ein ausgearbeitetes religiöses System ist die Art und Weise, wie über die entscheidenden Sinnfragen so geredet wird, dass eine ungeheure Zahl einzelner Leser sich angesprochen fühlt. Der Umgang mit dem Tod war abgewandert in Randbereiche, mit Romanen wie denen über Harry Potter sucht und findet er neue Empfänger.

Hubert Knoblauch, Soziologe an der Technischen Universität Berlin: "Sie haben diese kleinen magisch-animistischen Elemente gerade für Kinder in der auch religiösen Kinderkultur sehr ausgeprägt, auch in der nicht angepassten magischen Märchenkultur haben Sie diese Motive immer wieder drin, also man muss sich fragen, ob das so neu ist, und vermutlich dürfte die Ausweitung dieser eher zur Kinderkultur gehörenden Elemente auf eine Allgemeinkultur, die keineswegs bei den Jugendlichen stehenbleibt, sondern die viele Erwachsene heute prägt, ein bezeichnendes Merkmal dieser Zeit sein, die Ausweitung dieser Vorstellung, nicht die Inhalte, sondern wer sich dieser Inhalte annimmt."

Der Kinderglaube wird Allgemeingut. Für den Theologen Wilhelm Gräb verliert er dabei aber nicht den Bezug zu seinen Wurzeln.

Gräb: "Selbst wenn der Anschluss an die biblische Überlieferung und theoligische Tradition so stark nicht mehr erkennbar ist und auch andere Motive und Tradition aufgegriffen werden, ist für mich als Theoloige das eigentlich Interessante, dass die Themen, mit denen uns seit je her befassen, einfach die Menschheitsthemen sind, die Menschen immer noch betreffen."