Tod aus Angst vor der Abschiebung

Der türkische Asylbewerber Cemal Kemal Altun nahm sich das Leben weil er Angst hatte, von der Bundesrepublik an die damals in der Türkei herrschende Militärjunta ausgeliefert zu werden. Sein Fall hatte Aufsehen erregt, wie kaum ein anderes Asylbewerberverfahren. Prominente wie Wolf Biermann und Petra Kelly hatten sich für sein Bleiberecht eingesetzt.
Aus Wolf Biermanns "Asyl für den Türken":
Er stürzte sich raus aus dem Fenster
im Verwaltungsgericht zu Berlin
so hat er sich selber gerettet
geselbstmordet haben sie ihn


In seiner Ballade "Asyl für den Türken" beschreibt Wolf Biermann, was am 30. August 1983 geschah. Für neun Uhr morgens war die Verhandlung angesetzt, in der überprüft werden sollte, ob Cemal Kemal Altun zu Recht politisches Asyl in der Bundesrepublik erhalten hatte. Weil es sehr heiß war, öffnete der Saalwachtmeister die Fenster im 6. Stock des Berliner Verwaltungsgerichtes. Die Beteiligten hatten gerade ihre Plätze eingenommen, erinnert sich der Anwalt Altuns, Wolfgang Wieland, heute Sprecher für innere Sicherheit bei den Grünen im Bundestag.

"Das Gericht war noch nicht da, Cemal Altun saß zwischen mir und dem Dolmetscher und dann sprang er auf. Als ich mich dann umdrehte, war er schon in einer einzigen Bewegung auf die Fensterbank gesprungen und dann, ohne noch einmal zu zögern, ins Freie."

Lieber wollte der 23-Jährige sterben, als an die Türkei ausgeliefert zu werden. Dort herrschte eine Militärregierung, in deren Gefängnissen nachweislich gefoltert wurde. Cemal Kemal Altun war zwar in Deutschland als politisch Verfolgter anerkannt worden. Doch die türkische Militärjunta warf ihm vor, an einem Attentat beteiligt gewesen zu sein, und beantragte seine Auslieferung. Daraufhin war Altun in Berlin in Auslieferungshaft genommen worden. Denn eine Asylberechtigung schützt nicht vor einer Auslieferung, wenn der Verdacht auf eine Straftat besteht. So trat eine selbst für Juristen schwer nachvollziehbare Situation ein: Altun war zwei voneinander unabhängigen Verfahren ausgesetzt. Während vom Berliner Verwaltungsgericht noch geprüft wurde, ob seine Anerkennung als Asylbewerber zu Recht erfolgt war, hatte das Berliner Kammergericht schon über seine Auslieferung verhandelt. Der zuständige Richter am Berliner Verwaltungsgericht, Karsten-Michael Ortloff, konnte ihm also nicht zusichern, dass er bleiben durfte.

"Als die Klage zu uns kam, war er schon etwa ein Jahr in Haft gewesen, also es war eine sehr kritische Situation, und nach unseren Erkenntnissen stand auch eine Auslieferung bevor, das Kammergericht hatte grünes Licht gegeben und gesagt, der darf ausgeliefert werden."

Die Bundesregierung hatte allerdings gezögert, die Auslieferung zu vollziehen, da es massive Proteste aus dem In- und Ausland gab. Künstler wie Wolf Biermann und die Grünen-Politikerin Petra Kelly hatten sich für die Freilassung Altuns eingesetzt. Auch die internationale Presse verfolgte den Fall. Außenminister Genscher befürchtete einen Imageschaden für die Bundesrepublik. Innenminister Zimmermann allerdings wollte Altun so schnell wie möglich ausliefern, um die gute polizeiliche Zusammenarbeit mit der Türkei nicht zu gefährden. Die türkische Regierung hatte zwar zugesagt, im Falle seiner Auslieferung würde Cemal Kemal Altun nicht gefoltert. Menschenrechtsorganisationen zweifelten jedoch daran. Wolfgang Wieland:

"Die, die so taten, als könnte man mit der Türkei normal verkehren, das sind die Schuldigen an seinem Tod. Er war kein verzweifelter junger Mensch, der nicht mehr leben wollte, sondern im Gegenteil, seine letzten Worte in der Asylanhörung, da sagte er "ich will leben", das wurde so auch protokolliert, aber man hat es ihm nicht gewährt."

Nach seinem Selbstmord wies die Bundesregierung jede Verantwortung von sich. Am selben Abend trafen sich mehr als 10 000 Demonstranten zu einem Trauermarsch für Cemal Kemal Altun auf dem Kürfürstendamm. Als zehn Jahre später, 1993, die Asylgesetzgebung novelliert wurde, hoffte Richter Karsten-Michael Ortloff vergeblich, dass aus Altuns tragischem Freitod wenigstens jetzt gesetzgeberische Konsequenzen gezogen würden, damit nie wieder ein Asylsuchender zwischen zwei Verfahren zerrieben werden würde.

"Meiner Meinung nach wäre die Lehre aus dem Selbstmord Altuns gewesen, dass man die Doppelzuständigkeit für die Überprüfung von Asylgründen aufhebt, dass man sagt, wenn ein Verwaltungsgericht eine Anerkennung ausgesprochen hat, dass dann diese Anerkennung verhindert, dass der Mann ausgeliefert wird, aber die richtige Einsicht hat sich leider nicht durchgesetzt bei den Politikern."