Tipps für den Kunstsommer

Biennale, documenta , Skulptur Projekt – die großen Ausstellungen des Sommers sind eröffnet. Doch manche Kenner verlieren den Überblick, was gute Kunst ausmacht. Für diese Kunstliebhaber hat der Journalist Jörg Heiser "Plötzlich diese Übersicht" geschrieben.
"Plötzlich diese Übersicht!" Jörg Heiser verspricht seinen Lesern sehr viel – da heißt es klipp und klar im Vorwort, ohne dass ein Hintertürchen offen bliebe: "Ich werde bestimmen, welche Strömungen, Künstler und Werke die zeitgenössische Kunst weiterbringen, welche es vielleicht gerade nicht tun, und ich werde es begründen."

Klingt sehr selbstbewusst, anmaßend geradezu – und mancher Kunstliebhaber dürfte an dieser Stelle zusammenzucken. Entscheidend ist aber, ob den großen Worten Taten folgen – und das ist zum großen Glück aller Leser dieses Buches der Fall. Allerdings nur, wenn man "Übersicht" nicht als festes Bild, gesehen aus der Vogelperspektive, sondern als Methode der Betrachtung, als offenes Zwischenergebnis fröhlicher Feldforschung begreift.

Wie Jörg Heiser sein Versprechen einlöst, kann man sehr schön am Titel des Buches zeigen: "Plötzlich diese Übersicht" - das ist schon das erste von unglaublich vielen brillanten, äußerst unterhaltsamen Sprachspielen, die wir in diesem Buch geboten bekommen – nicht, damit der Autor wie ein Pfau vor uns paradieren und sein Sprachtalent zur Schau stellen kann, sondern damit uns die Augen auf- und übergehen angesichts von Kunstwerken, die wir vielleicht schon vorher einmal gesehen haben, die wir möglicherweise sogar sehr gut zu kennen meinen – und die wir hier doch neu entdecken. Einfach, weil wir vorher nicht genau genug hingeschaut haben.

Weil wir uns von dicken Katalogen, sterilen Ausstellungsräumen oder autoritärer Vermittlungspädagogik haben einschüchtern lassen. Weil wir die Nähe der Werke eines Jonathan Meese, Daniel Richter oder Martin Kippenberger zu unserer eigenen Erfahrungswelt schlicht unterschätzt haben.

"Plötzlich diese Übersicht" – das ist nämlich auch der Titel einer Arbeit des Schweizer Künstlerduos Peter Fischli und David Weiss, die uns Heiser in seinem Buch vorstellt: Die beiden memorieren in einer Serie von Tonfigürchen lustige Ereignisse, die eine eigenwillige, ganz sicher subjektive Gewichtung der Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellen: Da sehen wir "Herr und Frau Einstein kurz nach der Zeugung ihres genialen Sohnes Albert" im gemeinsamen Ehebett liegen oder "Mick Jagger und Brian Jones befriedigt auf dem Heimweg, nachdem sie I can´t get no satisfaction komponiert haben". Man kann einfach drüber lachen – ist sicher auch im Sinne der Künstler - aber man kann die Serie auch als Versuch lesen, die Welt einmal anders zu ordnen – und zwar auf der Suche "nach den seltenen, entscheidenden, schönen, kurzen Momenten, in denen sie wirklich weitergekommen ist" (Heiser) - der überraschte Ausruf "Plötzlich diese Übersicht" bekommt dann tatsächlich etwas äußerst Befreiendes. Dieses Ordnungsprinzip übernimmt Jörg Heiser für seine Sichtung der zeitgenössischen Kunst und schenkt seinen Lesern so genau diese seltenen, entscheidenden und schönen Momente, in denen sie wirklich weiterkommen – nämlich in ihrem Verständnis von zeitgenössischer Kunst.

Einige Beispiele nur von vielen Beschreibungen, die das Buch zu einem Lesegenuss und zu einer Schule des Sehens machen: Zu den kleinformatigen, von komplexen, sich durchdringenden geometrischen Formen bestimmten Gemälden der Turner-Prize-Gewinnerin Tomma Abts liefert Jörg Heiser nicht nur eine verblüffend zutreffende Beschreibung – "ein ins Flache gedrückter, polygonaler Körper", der aussieht als hätte "eine kosmische Dampfwalze wild kreisende Planetenkonstellationen säuberlich geplättet" – er liefert auch eine Geschichte des Malvorgangs, die uns Tomma Abts an einem Tisch sitzend zeigt, vor einer horizontal liegenden Leinwand, Formen freilegend, Entscheidungen treffend, auf neue Konstellationen spontan reagierend, den Moment erwartend, an dem das Werk ein Eigenleben gewinnt – ein Malvorgang, der erst durch diese Beschreibung erkennbar wird als mutiges, neugieriges Vorantasten in unbekannte Welten – Tomma Abts als geduldige Geburtshelferin kosmischer Wesen.

Ein wichtiges Gemälde wie Sigmar Polkes Großformat "Die drei Lügen der Malerei" erklärt Heiser sehr nachvollziehbar und anschaulich – und entdeckt dabei gleich noch eine vierte Lüge! Die penetranten Markisen-Querstreifen des Malers Daniel Buren diffamiert er erstmal als "Kunst-Äquivalent der Adidas-Streifen", um dann doch das "wirklich Erstaunliche, das Revolutionäre" an ihnen herauszuarbeiten. Den Markterfolg selbst schwächster Nachfolger der "Neuen Leipziger Schule" erklärt er ganz schlicht damit, dass solche Bilder "gekauft werden wie schlecht sitzende Kleidung von jemandem, dem es unangenehm ist, nach zweistündiger Anprobe ohne Kauf aus dem Laden zu gehen". Und die schwarzen Ausstellungshöhlen der Videokunst, die sogenannten "Black Boxes", schmäht er schon mal als "Druckausgleichskammer vorm Gang aufs Holodeck von Raumschiff Enterprise".

Der Kulturjournalist und begeisterte Essayist klingt durch solche sprachlichen Volten klar und mit dem Mut zur plakativen Formulierung durch: Jörg Heiser, Jahrgang 1968, ist Chefredakteur der wichtigen britischen Kunstzeitschrift "frieze" – hierzulande kann man erhellende Ausstellungskritiken von ihm in der "Süddeutschen Zeitung" lesen.

Seine Sprachbilder machen Spaß, sie eröffnen neue Zugänge zu den einzelnen Werken - sie tragen das Buch aber nicht allein. Das könnten sie angesichts des ehrgeizigen Anspruchs des Autors auch gar nicht. Um die Frage zu beantworten, welche Werke die zeitgenössische Kunst wirklich weiterbringen und welche nicht, entwickelt Heiser darüber hinausgehende Kriterien. Ein Beispiel nur: Indem er Werke zwischen den Polen Pathos und Lächerlichkeit verortet, zeigt er, wie wichtig das Abgleiten ins Peinliche für Werke zeitgenössischer Kunst ist, um falsche Autoritäten und Dogmen zu unterlaufen, Stolperstein im Alltag zu bleiben. Allzu pathetische Werke wie die Videoinstallationen Bill Violas oder einzelne Gemälde-Zyklen von Gerhard Richter kommen da nicht gut weg. Eben so wenig Werke, die sich zu hermetisch in ihren privaten Kosmos zurückziehen, ohne den Dialog mit der Außenwelt zu suchen.
In jedem Fall gilt: "Die interessante Kunst der Gegenwart lässt jene dumm aussehen, die der Versuchung nicht widerstehen können, sie normativ festzuschreiben"(Heiser).

Am Ende der Lektüre dieses Buches sehen jedenfalls weder Autor noch Leser dumm aus - und man weiß genau, wen man gern auf die "Grand Tour" dieses Kunstsommers, auf die Reise nach Venedig, Kassel und Münster mitnehmen würde.

Rezensiert von Alexandra Mangel

Jörg Heiser:
Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht
,
Claassen Verlag, 368 Seiten, 22 Euro.