Tindersticks: "Distractions"

Musik über Intimität, Männlichkeit und das Altern

06:32 Minuten
Tindersticks
Gealtert, aber nicht von gestern: Die Tindersticks machen seit 28 Jahren zusammen Musik. © City Slang / Richard Dumas / Suzanne Osborne
Von Dirk Schneider · 18.02.2021
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Als junge Männer waren sie wütend. Ein Gefühl, das sich mit der Zeit legte. Doch die Ereignisse der vergangenen Jahre haben die Wut zurückgebracht und das hört man "Distractions" von den Tindersticks auch an.
Als 1993 das erste Album der Tindersticks erschien, steuerte Britpop auf seinen Höhepunkt zu. Aber die Band aus dem englischen Nottingham lebte in einer anderen Welt. In dreiteiligen Anzügen standen die jungen Männer auf der Bühne und pflegten in ihren Songs eine langsame, düstere Romantik.
Weltflüchtlinge sind Tindersticks aber nicht, politische und soziale Themen sickerten zunehmend in ihre Songs ein. Die Band hat neben sieben Scores für die Filme der französischen Regisseurin Claire Denis auch die Musik zu einer Dauerausstellung über den Ersten Weltkrieg im belgischen Ypern komponiert.
Während andere Bands in der großen Britpop-Party ausgebrannt sind, haben sich die Dandys aus Nottingham zu einer Art musikalischem Kunstprojekt entwickelt. Das bringt durchaus auch im fortgeschrittenen Altern noch große Popsongs zustande, wie jetzt auf ihrem neuen Album "Distractions" zu hören ist.

Das Album widerspricht sich selbst

Der Auftakt zum neuen Tindersticks-Album "Distractions" ist ein elfminütiges, monotones Brett namens "Man alone (can’t stop the fadin)". Ein Stück Musik wie eine schlaflose Nacht, in der die Gedanken kreisen.
Das zugehörige Video zeigt eine Taxifahrt durchs abendliche, verregnete London. Laut Tindersticks-Sänger Stuart A. Staples geht es ums Älterwerden. Doch er möchte seine Stücke nicht auf eine Aussage festlegen:
"Auf dem neuen Album war es mir wichtig, dass ich mit den Songs vage, auch widersprüchliche Ideen angehe. Wenn man etwas schafft, das lebendig ist, das pulsiert – und die Arbeit an 'Distraction' fühlte sich so an, als würden wir einen neuen Ort damit betreten, einen unsicheren Ort – dann ist das Gefühl, das am Ende bleibt, dass man einen Schritt weiter gemacht hat. Egal, worum es in den Songs eigentlich gehen sollte."

Zehn Jahre feilen für den perfekten Coversong

Musik als Erforschung des Selbst, als Reflexion des eigenen Ortes in der Welt, als Lernprozess: Für Staples und seine Band ist das schon länger Programm, auch bei ihren Filmscores für die französische Regisseurin Claire Denis.
Ähnlich wie Denis‘ Filme ist auch das Album "Distractions" eine fordernde Reise vom kalten "Man Alone" über das höchst intim vorgetragene "I Imagine You" hin zu einem extrem abgespeckten Cover von Neil Youngs Bombastsong "A Man Needs A Maid". Der letzte Song könnte eingefleischte Young-Fans, gelinde gesagt, irritieren.
"'A Man Needs A Maid' ist ein Lied über die Angst vor Intimität und vor der Verantwortung, die sie mit sich bringt", sagt Staples. "Dieser Song hat mich die letzten zehn Jahre vielleicht nicht umgetrieben, aber ich wusste die ganze Zeit, da wartet noch etwas auf mich, eine Möglichkeit, diesen Song auf den Punkt zu bringen, aber auf eine direktere, einfachere Art."

Es geht auch darum sich angreifbar zu machen

Staples sagt dies ohne Arroganz. Sein Vorhaben ist ihm auf verblüffende Weise gelungen. Intimität, Männlichkeit, das Altern – Dinge, um die Tindersticks auf "Distractions" kreisen. Das Ziel dabei: Einen Schritt weiterkommen. Auch durch ein Sich-Öffnen, Sich-angreifbar-Machen, wie Staples erklärt:
"Ich glaube, als Mann tendiere ich dazu, die Verbindung abzubrechen und in mich selbst abzutauchen. Sobald das passiert, fühle ich aber auch sofort das Verlangen, da wieder rauszukommen. Jedes Zeigen von Verwundbarkeit hat einen Preis, es hat immer seinen Preis. Aber noch größer ist die Befreiung, die dadurch entsteht, dass man über etwas spricht, dass man feststellt, dass man ähnliche Dinge fühlt wie jemand anders."
Die Mittel, mit denen sich Tindersticks auf "Distractions" öffnen, sind Reduzierung des Sounds und eher fragende als erzählerische Texte. Elektronische Klänge statt Klavier und Streichern.

"Meine Generation kam mir plötzlich so selbstgefällig vor"

Staples‘ sonorer Vibratogesang hält sich extrem zurück. Fixpunkte des Albums waren für Staples das Eröffnungsstück "Man Alone" und das letzte Stück "The Bough Bends". Diese klingt mit seinen Vogelstimmen und der sanften Instrumentierung wie die Erlösung nach der schlaflosen Nacht vom Anfang.
Neben "A Man Needs A Maid" gibt es zwei weitere Coverversionen, darunter "You’ll Have To Scream Louder", ein Polit-Song der britischen Post-Punk-Band Television Personalities aus den 80er-Jahren. Aus dem schrammeligen Gitarrenstück wird hier eine Art Dub-Reggae-Nummer.
"Die Zeit von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, Polizeigewalt, Rassismus, der Falkland-Krieg, fürchterlicher Nationalismus. All das hat mein Leben als junger Mensch geprägt. Der Tod von George Floyd, der Brexit, das hat mich letztes Jahr daran erinnert, wie ich mich als junger Mann gefühlt habe. Wir haben gegen diese Dinge gekämpft. Es gab irgendwann einen Punkt, an dem wir dachten, dass sich etwas geändert hat. Dann dieses Frühjahr 2020 zu erleben, mit einem ähnlichen Nationalismus, einem ähnlich giftigen Rassismus, es hat sich einfach angefühlt, als hätten wir überhaupt nichts erreicht. Meine Generation kam mir plötzlich so selbstgefällig vor."
"Distractions" ist kein Album aus einem Guss. Es ist widersprüchlich in seinen Stimmungen, es zweifelt und schlingert wie das Leben. Umso mehr bietet es damit die Möglichkeit der Identifikation, einzutauchen in die Gedanken- und Gefühlswelten, die hier eröffnet werden.
Es ist Musik von älteren Herren. Das ist hier keine Beleidigung: Musik von älteren Herren, die gelernt haben, zu reflektieren, zu horchen, zu fühlen und den Zweifel, auch an sich selbst, zu kultivieren.
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