Tilman Moser: Medien steigern Sensibilität für Opferdasein

Tilman Moser im Gespräch mit Dieter Kassel |
Dass sich momentan sehr viele Menschen als Missbrauchsopfer outen, hat mit einer Form von Erleichterung zu tun, sagt der Psychotheraupeut Tilman Moser. Wenn man andere Opfer im Fernsehen sehe, die von einem ähnlichen Schicksal erzählten, sei der "Ausstieg aus der Heimlichkeit" leichter.
Dieter Kassel: "Ich bin ein Opfer." Das sollte man in gewissen Kreisen lieber nicht sagen, auf dem Schulhof zum Beispiel. Unter Jugendlichen ist der Begriff Opfer eindeutig besetzt, eindeutig negativ besetzt. In der Gesellschaft insgesamt ist das etwas schwerer auszumachen, weshalb mancher sich nicht traut zuzugeben, dass er zum Opfer geworden ist und weshalb andere gerne Gelegenheiten wahrnehmen, um mit ihrer Opferrolle an die breite Öffentlichkeit zu gehen. Wir erleben das im Moment, zum Beispiel im Zusammenhang mit den sexuellen Missbrauchsfällen. Warum manche sich besser fühlen, wenn sie sich als Opfer zeigen, und warum andere das partout vermeiden wollen, darüber unter anderem wollen wir jetzt reden mit dem Psychotherapeuten Tilman Moser, der deshalb für uns in Freiburg ins Studio gegangen ist. Schönen guten Tag, Herr Dr. Moser!

Tilman Moser: Ja, guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Warum ist es zumindest für einige und offenbar auch nicht wenige Opfer so wichtig, sich als Opfer öffentlich zu erkennen zu geben?

Moser: Da ist einmal der Ausstieg aus der Heimlichkeit, also jemand hat das Schicksal getragen, er war seelisch behindert, er wusste aber auch nicht, wieso er Alpträume hat oder wieso er Kontaktstörungen hat. Und dann ist es eine Erleichterung, aus dem Schambezirk auszusteigen.

Kassel: Wir reden bei den Missbrauchsfällen, die im Moment in der Öffentlichkeit so diskutiert werden bleiben, wir reden ja oft von Fällen, die Jahrzehnte, 20, 30, manchmal 40 Jahre her sind, und die Leute treten jetzt als Opfer in Erscheinung. Besteht da nicht auch die Gefahr, na ja, laienhaft formuliert, alte Wunden wieder aufzureißen?

Moser: Doch, aber die Wunden sind ja da, und dieses Outing ermöglicht auch, dass Hilfe gesucht werden kann. Auf der anderen Seite ist es eine Erleichterung, wenn ein latentes Schuldgefühl sich in Anklage oder Wut verwandeln kann. Und das hört man ja zurzeit oft, dass Menschen mit großer Wut gegenüber der Kirche oder gegenüber den Schulen sich äußern. Und, Gott sei Dank, gibt es die Hilfsangebote – die Kirche überlegt noch, wie viel Finanzen sie dort hinwenden kann. Und es entsteht das Gefühl der Solidarität, also der Ausstieg aus der Heimlichkeit, aus der Schwierigkeit, mit etwas umzugehen, was man vielleicht schon verdrängt hat, aber was trotzdem das Leben verdüstert. Viele haben sich auch arrangiert, und trotzdem spielt es eine Rolle in ihren Beziehungen, in ihrer Ehe, in ihrer Sexualität, in ihrem Grundvertrauen in die Welt.

Kassel: Sie haben über die Solidarität unter Opfern ja vorhin schon kurz gesprochen, da sind wir bei diesem Begriff Opfergruppen, davon wird da jetzt auch gesprochen, unter anderem im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen. Was passiert mit einem individuellen Opfer, wenn er, wenn sie sich plötzlich als Teil so einer Gruppe sieht?

Moser: Das hängt auch mit der Erleichterung zusammen, mit dem Gefühl der Solidarisierung, mit dem Ausstieg aus der Heimlichkeit, mit einer Verringerung des Schuldgefühls, mit einer Verringerung der Scham, also im Ganzen eine Erleichterung. Es erlaubt ein tieferes Nachdenken, es erlaubt Kommunikation, es erlaubt auch natürlich, dass man sich verständigt, wie das zugegangen ist, welche Machtmechanismen dazu geführt haben, dass es beschwiegen wurde, welche Mechanismen zu dem Ausmaß von Scham geführt haben. All das führt dazu, ähnlich vielleicht wie beim Outing von Homosexuellen, lebenslange Heimlichkeit, schließlich die Möglichkeit dadurch, dass prominente Figuren sich geoutet haben, dass es einfach ansprechbar geworden ist.

Kassel: Das heißt, es nützt Opfer A, wenn es sieht, Opfer B, C, D, vielleicht ist einer dieser Buchstaben sogar ein Prominenter, hat das Gleiche erlebt wie ich?

Moser: Ja, in den meisten Fällen denke ich, dass das eine Erleichterung ist.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Psychoanalytiker Tilman Moser über Opfer, aber auch nicht nur über die Menschen, die sich dahinter verbergen, sondern lassen Sie uns ein wenig auch über die Definition und den Wandel dieses Begriffes reden, Herr Moser. Wenn wir mal weggehen von Opfern, bei denen, glaube ich, keiner, der ein bisschen Mitgefühl kennt, dieses Mitgefühl abschalten kann, wenn er das hört, wenn wir über andere Opfer reden, von vielleicht weniger schlimmeren Dingen. Wir hatten, weiß nicht, ob Sie sich erinnern, bevor das dann losging mit den vielen Missbräuchen, war wahrscheinlich der häufigste Opferbegriff das Bankenopfer oder Opfer der Wirtschaftskrise, andere Dinge. Haben wir so ein bisschen eine Inflation des Opferbegriffs auch bei uns? Manche reden ja schon von der Opfergesellschaft?

Moser: Na ja, das hat sich eben auch gehäuft, dass im Bereich der Wirtschaft sich Betrug oder Falschberatung so gehäuft haben, dass es meiner Meinung nach berechtigt ist, den Begriff auch auszudehnen auf schlechte Beratung, oder wie es bei einigen der amerikanischen Großbanken der Fall war, dass ganz bewusst negative Papiere verkauft wurden, obwohl schon klar war, dass sie ihren Wert nicht nur nicht behalten, sondern dass sie total abstürzen. Ob der Begriff Opfergesellschaft berechtigt ist, das kann ich schlecht sagen. Ich denke, der Grad der Bewusstheit ist durch die Medien auch sehr viel größer geworden.

Kassel: Der Grad der Bewusstheit von was?

Moser: Dass es Opfer gibt in den vielfältigsten Bereichen, also zum Beispiel Verkehrsopfer, das hatte ja vor 50 Jahren noch nicht sehr viel Sinn, aber die Zahl hat sich einfach vervielfacht dadurch, dass die Verkehrsdichte enorm gewachsen ist, sodass im Versicherungsgewerbe ganz klar ist, es gibt eben einfach Tausende von Verkehrsopfern.

Kassel: Ist denn dieses Interesse der Medien an Opfern, egal ob wir nun, für den Vergleich kann man das ja wohl sagen, harmlosere Fälle wie Opfer von Fehlberatung nehmen oder auch Opfer von Straftaten –, ist das Interesse der Medien gut oder schlecht für die Opfer?

Moser: Ich finde es im Ganzen gut, es besteht natürlich auch die Gefahr, dass Opferidentitäten sich verfestigen, alsodass jemand seine Identität daher definiert, dass er einmal entweder in früher Kindheit oder im späteren Erwachsenenleben Opfer geworden ist. Wenn man manchmal am Fernsehen sieht, wie Menschen nicht nur sich geschädigt fühlen finanziell, sondern auch durch einen seelischen Betrug, also sie fühlen sich getäuscht und verlieren ihr Grundvertrauen in verschiedene Funktionen, dann kann man verstehen, dass manche über Jahre mit diesem Opfersein nicht fertig werden.

Am deutlichsten hat man es in der Psychotherapie. Dort gibt es regelrechte Opferidentitäten, Menschen, die davon nicht mehr loskommen, und man braucht ziemlich viel Arbeit als Psychotherapeut, dass sich etwas von dem Opfergefühl umkehrt in ein Gefühl von Wut. Und diese Wut wird dann wieder verfügbar als Vitalität, als Fähigkeit, mehr mit dem Leben aktiv umzugehen.

Kassel: Kann das auch für manche Menschen nicht auch eine gewisse Attraktivität haben, sich für lange Zeit als Opfer darzustellen? Es kann ja auch ein Grund sein, ja, sein Leben nicht in die eigene Hand zu nehmen, wenn man sagt, ich bin ja fremdbestimmt, ich kann nichts machen.

Moser: Ich glaube, es gibt da sogar einen christlichen Hintergrund. Im Christentum ist der Begriff des Opfers natürlich durch den Opfertod von Christus extrem wichtig, und manche Menschen in der Identifizierung mit Christus sagen also zum Beispiel, wen Gott liebt, den straft er. Das Opfertum hat etwas zu tun mit der Erbsünde, mit dem Gefühl, man hat sowieso Schuld für seine Sünden. Und dadurch gibt es eine gewisse Attraktivität für das Opfersein. Es wird im Jenseits dann belohnt.

Kassel: Das ist das eine, aber in einem Punkt würde ich fast mal wagen, Ihnen zu widersprechen. Wenn wir mal aus der Bibel und der Kirche weggehen in die Fernsehtalkshow, wir hatten ja vorhin schon kurz das Thema Opfer und Medien. Wenn man sich vorstellt, da sitzt jetzt – nehmen wir die Bankenkrise noch mal – der eine, der sagt, ich bin ein Opfer, ich bin falsch beraten worden, ich wollte nur meine Rente retten und der böse Bankmensch hat mir das kaputtgemacht, und daneben sitzt der andere, der Schuld eingesteht, der sagt, ich war gierig, ich hab die Fehler selber gemacht, und nun bin ich auch pleite. Da ist doch für die meisten von uns das Opfer in diesem Kontext die sympatischere Figur?

Moser: Auf jeden Fall. Das Merkwürdige ist, dass sich die Berater inzwischen auch selbst, obwohl sie Täter sind, als Opfer fühlen, weil sie unter enormem Leistungsdruck vonseiten ihrer Vorgesetzten stehen. Also da sieht man, dass es nicht eindeutig schwarz-weiß ist, sondern dass Täter selber Opfer werden können und umgekehrt Opfer ihr Opfersein verwandeln in Wut und eigene Aggressivität.

Kassel: Kann das auch etwas mit, falls es so etwas überhaupt gibt, das kann man ja immer noch diskutieren, nationaler Mentalität zu tun haben? Es gibt einen französischen Philosophen, Pascal Bruckner heißt der, der hat sinngemäß gesagt, die Deutschen seien Meister im Erfinden immer neuer Opfergruppen, sie wollten gern unbedingt wieder unschuldig sein, und dafür seien sie bereit, einiges zu tun. Ist da vielleicht was dran?

Moser: Das glaube ich schon. Die Gewissenslast nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Holocaust war so enorm, dass es psychisch eine Erleichterung bedeutet, wenn man sich selber zum Beispiel die Flüchtlinge, zehn oder zwölf Millionen Flüchtlinge, wenn man das als Opfersein beklagen kann. Oder die Ausgebombten, das Leben in den Trümmern. Demgegenüber muss man sagen, dass Deutschland auch es ziemlich weit gebracht hat in der Anerkennung des Täterseins. Da bin ich sogar als Deutscher ein bisschen stolz, wenn ich denke an die Türkei, die verleugnet bis heute, dass sie etwa eine Million Armenier in den Tod geführt hat. Also es stimmt beides, dass die Deutschen sich gerne als Opfervolk fühlen, aber dass sie auch sehr viel geleistet haben in der Anerkennung, dass sie ein Tätervolk waren.

Kassel: Opfer sein, Opfer sein wollen vielleicht manchmal auch, und Opfer in der Öffentlichkeit wahrnehmen. Wir haben darüber mit Tilman Moser gesprochen, einer der bekanntesten Psychotherapeuten Deutschlands. Wir werden weiter darüber reden hier im Deutschlandradio Kultur, übermorgen, am Mittwoch, kurz nach elf Uhr reden wir weiter in unserer kleinen Reihe über das Thema Opfer.