Kommentar

Rechte Propaganda auf TikTok: Höchste Zeit zu handeln

04:39 Minuten
Illustration: Eine Frau wird von hasserfüllten Online-Kommentaren erstochen.
Hass und rechte Propaganda auf Tiktok und anderswo: Noch wird viel zu wenig dagegen getan, meint der Publizist Mathias Greffrath. © Imago / Ikon Images / Pablo Blasberg
Ein Kommentar von Mathias Greffrath · 28.02.2024
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Von einer Plattform für Spaßvideos hat sich TikTok zum Tummelplatz für rechte und verschwörungstheoretische Propaganda entwickelt. Die Tatenlosigkeit des freien Europa gegen diese Entwicklung nennt der Publizist Mathias Greffrath Selbstzerstörung.
Eine Stunde auf TikTok - und das Gehirn vibriert von der chaotischen Mischung aus harmlosem Blödsinn, Kindersex und ekelerregender Brutalität. Und zunehmend eben rechter Radikalität. Der Algorithmus sorgt dafür, dass besonders krasse Videos die höchsten Klickzahlen erzielen. Das ist das Geschäftsmodell. Und das ist nicht politisch neutral. Deshalb geht es um mehr als Jugendschutz.

Menschenverachtende und faschistoide Videos

Zunehmend werden 14- bis 24-jährige Jungbürger, die Hauptnutzer von TikTok, mit antidemokratischen, menschenverachtenden bis faschistoiden Videos überschwemmt, von demagogischen Ausfällen der AfD-Chefin Alice Weidel wie von den dumpfen Sprüchen ihrer Follower. Die AfD ist rund zwanzigmal so präsent auf der Plattform wie jede der anderen Parteien. Und sie hat jede Menge nur knapp maskierte Fußtruppen.
In der letzten Woche hat TikTok einen Account  gecancelt, der Clips aus einem Podcast verbreitet, mit dem Hoss und Hopf, zwei rhetorisch begabte und geschäftstüchtig zielstrebige Wirrköpfe, seit einem Jahr eine wirre, aber gerichtete Mischung anrühren: Ratschläge zu Lebensführung und finanziellem Erfolg für pubertierende Jungmänner, dazu aggressive Männlichkeit, Weltverschwörungsphantasien über die globale Wirtschaftslite und die Systemmedien, die eine weltweite Agenda zur Abschaffung der männlichen Tugenden verfolgen.
Angst vor – Zitat – „aus dem Zoo entlaufenen“ Migranten auf nächtlichen Straßen, dazu die Bewunderung für Nationen, die ihren – Zitat – “menschlichen Müll“ noch entsorgen und uns dekadente Deutsche früher oder später wegpusten werden. Mit Winzbeträgen honorieren die beiden staatsverachtenden und steuerfeindlichen Finanzdienstleister die Weiterverbreitung ihres Ideologiegebräus durch ihre Fans auf Instagram, Twitter, TikTok – weswegen es überhaupt nichts bringt, wenn TikTok einen Fanaccount sperrt, weil ständig neue nachwachsen.

Maßgeschneidert für verunsicherte Menschen

Ziemlich eklig das Ganze, maßgeschneidert für verunsicherte junge Menschen. Da soll offenbar eine radikale Jugendbewegung herbeigezogen werden. Parallelen bieten sich an: Die Mischung von Orientierung suchenden Jugendlichen, rechtsradikalen Demagogen, unsicheren Zukunftsaussichten und einem neuen, rasanten Medium – die hat es vor 100 Jahren schon einmal gegeben.
„Öffentlichkeit ist das Gefäß der Demokratie“, sagte Alexander Kluge einmal, „wer sie zerstört, ist ein Geschichtsverbrecher“. Die Zerstörung ist weit fortgeschritten. Ihr Urknall war 1986, lange vor TikTok, als das duale System abgeschafft wurde, denn ursprünglich hieß das ja: Die Printmedien sind privat, die wirkungsstarken elektronischen Massenmedien öffentlich-rechtlich.

Druck auf die nichtkommerziellen Medien

Seitdem hat der Druck auf die nichtkommerziellen Medien nicht nachgelassen. Politiker, die opportunistisch gegen „Zwangsgebühren“ polemisieren, Großverleger, die die ARD als nordkoreanischen Staatsfunk denunzieren, sie haben sich gleichermaßen schuldig gemacht. Die Privatisierung der Medien sei gefährlicher als Atomkraft, sagte Helmut Schmidt damals. Heute beginnen wir den Fallout zu spüren.
Und für den Aufstieg der Klickmedien sind auch Bildungsbürger, Intellektuelle und aufgeklärte Eltern mitverantwortlich, die sich aus Ekel, Massenverachtung und intellektuellem Dünkel diese Abgründe ebenso wenig wie die "Bild"-Zeitung angesehen haben. Aber heute ist es nicht mehr nur fahrlässig, wenn die CDU in ihren „Medienpapieren“ populistisch gegen die sogenannte "Zwangsgebühren" agitiert, statt den nicht kommerziellen Medien Raum zur Entwicklung zu sichern, am besten durch das Grundgesetz.

Europa zerstört sich selbst

Die EU will TikTok beobachten, und sie kann Bußgelder verhängen, auch hohe. TikTok hat viel Geld und clevere Anwälte, und Hass und Lügen gehen viral. An Verbote denkt im freien Europa bislang niemand, jedenfalls nicht öffentlich, nicht einmal an einen TÜV für die Algorithmen oder die Anwendung des Presserechts auf die Lügenblasen. Ich nenne das: Selbstzerstörung.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für „Die Zeit“, die „taz“ und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen unter anderem: „Montaigne – Leben in Zwischenzeiten“ und das Theaterstück „Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?“

Der Schriftsteller Mathias Greffrath
© picture-alliance / imago / Horst Galuschka
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