Ties Rabe sieht Nationalen Bildungsrat skeptisch

Ties Rabe im Gespräch mit Ulrike Timm · 20.06.2012
Schulpolitik gehört zu den umstrittensten Themen in Deutschland: Hauptschule, Abitur, Ganztagsschule - die Konzepte der Bundesländer dazu sind unterschiedlich. Er halte aber wenig davon, einen Nationalen Bildungsrat einzurichten, sagte Hamburgs Kultusminister Ties Rabe (SPD).
Ulrike Timm: Ziehen Sie um innerhalb Deutschlands - von Flensburg nach München oder von Leipzig nach Remscheid, das Finanzamt findet Sie ganz schnell, Wohnung und Arbeit, das mag anstrengend sein, ist aber machbar -, das größte Problem für viele Familien, das ist die Schule. Schulform, Lernniveau, Zugang, alles verschieden, zweigliedrig, dreigliedrig, Ganztagsschule da oder auch nicht, und nicht zuletzt sehr unterschiedliche Herangehensweisen an die Ausbildung von Kindern ziehen sich wie ein buntes Mosaik durch Deutschland. Insofern gibt es auf der jährlichen Kultusministerkonferenz in Berlin viele Baustellen, die man zudem nur bedingt beackern kann, da Kultur- und Schulpolitik im Wesentlichen Ländersache sind. Ties Rabe ist Bildungssenator in Hamburg, er war viele Jahre als Lehrer tätig und ist derzeit Vorsitzender der Kultusministerkonferenz, die heute und morgen tagt. Schönen guten Tag, Herr Rabe!

Ties Rabe: Schönen guten Tag!

Timm: Dann schauen wir mal auf eine der Baustellen, das Zentralabitur. 2017 soll es eine bundesweite Abiturprüfung geben, viele Bundesländer prüfen jetzt schon zentral, besonders in den Hauptfächern, in Mathe und Deutsch. Haben sich denn die Hoffnungen erfüllt, die man in solche ersten zentralen Prüfungen setzt?

Rabe: Es ist zumindest deutlich geworden, dass das gut funktioniert. Wir haben in fast allen Bundesländern zentrale Prüfungen in Deutsch, Mathe und Englisch im Abitur, aber häufig auch schon beim ersten und mittleren Bildungsabschluss. Wir haben darüber hinaus in 12 von 16 Bundesländern weitere zentrale Prüfungen im Abitur über die Fächer Deutsch, Mathe und Englisch beziehungsweise die erste Fremdsprache hinaus. Das ist offensichtlich ein probates Mittel, um einen bestimmten Standard einzubinden und diesen Standard auch gerecht und fair abprüfen zu können, denn wir wissen natürlich, dass von Lerngruppe zu Lerngruppe die Zensurengebung und das Niveau sehr unterschiedlich ist, und deswegen ist es schon wichtig, hier zentrale Vorgaben zu machen.

Timm: 2017 ist ja auch deshalb ein geplanter bundesweiter Spätstart, eben weil die Voraussetzungen in Hamburg, in Bremen, in Berlin, Bayern oder in Baden-Württemberg eben so grundverschieden sind. Heißt zentral denn wirklich vergleichbar?

Rabe: Das heißt es sehr wohl. Ich will allerdings darauf hinweisen, es wird häufig von der Öffentlichkeit auf mehr Eile gedrängt. Ich mache gerade in Hamburg den Versuch und habe gesagt, ich möchte ein Zentralabitur, das ja sowieso perspektivisch kommt, jetzt zügig einführen, und zwar so, dass in zwei Jahren das Zentralabitur in vielen Fächern geprüft wird.

Und ich kann Ihnen sagen, was hier in Hamburg los ist angesichts dieser einfachen Schrittigkeit, das spottet jeder Beschreibung. Und vor diesem Hintergrund müssen auch alle, die jetzt sagen, das muss alles viel schneller und viel robuster gehen, daran denken, dass es sich dabei auch um Schülerinnen und Schüler, um Lehrer handelt, um Traditionen in der Schule, es ist nicht der Trotz der Kultusminister, der die eine oder andere Veränderung erschwert, sondern es ist auch ein gewisses Beharrungsvermögen bei vielen Beteiligten zu erkennen, und insofern ist es keineswegs die Langsamkeit der Kultusministerkonferenz. Das, was wir da jetzt vorhaben, ist ambitioniert. Wir haben gesagt, innerhalb von nur zwei Jahren sollen Wissenschaftler Prüfungsaufgaben für das Zentralabitur entwickeln, und zwar viele, zig verschiedene Prüfungsaufgaben, die aber alle ein ganz klar definiertes Niveau haben sollen.

Und dazu soll es entsprechende Bewertungsmuster geben, damit jeder Lehrer, der nach diesen Prüfungsaufgaben das Abitur schreiben lässt, auch eine Art - ich sage mal - Beipackzettel hat, nach dem dann die Zensur relativ klar erteilt werden muss. Das ist eine gewaltige Aufgabe, so etwas sicherzustellen, zwei Jahre Zeit, damit die Wissenschaftler das machen, ist in Ordnung, und dann müssen noch einmal mehr als zwei Jahre vergehen, weil die Schüler dann in die Oberstufe kommen, und die müssen natürlich in der Oberstufe schon nach diesem Niveau unterrichtet werden, sodass die Oberstufendauer von zwei Jahren noch mal oben drauf kommt. Das ist der Grund. Eigentlich ist es relativ zügig.

Timm: Ich möchte gar nicht so sehr auf das Tempo hinaus als viel mehr auf die Begriffe zentral und vergleichbar.

Rabe: Ja?

Timm: Ich meine, die Niveauunterschiede, da kann die Kultusministerkonferenz nicht unbedingt dafür. Aber die sind einfach da, in Bayern sind leistungsstärkere Abiturienten als in Berlin, und ich gebe Ihnen ein Beispiel aus Nordrhein-Westfalen, da ist also innerhalb eines Bundeslandes ein zentrales Mathe-Abitur noch mal wiederholt worden, weil schon 50 Prozent der Schüler von bestimmten Schulen an den Aufgaben schlicht scheiterten, die anderen sie schafften. Also zentral und vergleichbar sind doch eigentlich noch ziemlich verschiedene Dinge.

Rabe: Nein, in dem Moment, wo es sich um eine zentrale Aufgabe handelt, ist sie für alle gleich. Wir setzen hier auf Wissenschaftler, die sehr klar Aufgaben erfinden mit einem sehr klaren und vergleichbaren Schwierigkeitsniveau, und das wird sicherlich die Vergleichbarkeit deutlich erhöhen.

Timm: Aber im Moment hieß es doch wohl schlicht, Bayern reüssiert und Berlin stürzt ab.

Rabe: Das macht man immer so schnell, wenn man irgendwie wenig Sendezeit hat und was verkürzen muss, aber so einfach ist das gerade beim Abitur mit Sicherheit nicht. Wenn wir uns mal genau angucken, wie die Abiturzahlen sind, dann stellen wir zwar fest, dass gewisse große Flächenländer relativ wenig Abiturienten haben, aber auch innerhalb solcher Länder gibt es extreme Unterschiede. Mir wurde berichtet, dass beispielsweise die Abiturientenquote in München höher sei als die von Hamburg. Und das zeigt, dass es sich hier wohl eher um ein Stadt-Land-Gefälle handelt, und nicht zwingend nur um Bundesländer. Deswegen sollte man schon abwarten, welche Tendenzen sich dabei wirklich herausstellen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" - wir sprechen mit Ties Rabe, dem Hamburger Bildungssenator und derzeitigem Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz, die sich heute und morgen in Berlin über die Schulpolitik austauscht. Herr Rabe, wenn es in Schulen an etwas nicht fehlt, dann sind das Bildungsreformen: G8, G9 und ein bisschen wieder zurück, die Ausgestaltung von Ganztagsschulen, die Ausgestaltung eines Schulsystems überhaupt. Die Hamburger haben vor einem Jahr per Volksentscheid das angestrebte Modell einer sechsjährigen Primarschule schlicht gekippt - verstehen Sie eigentlich Eltern, Schüler, Lehrer, die ob der puren Reformmenge einfach müde sind und sagen, lasst uns doch bloß mit noch mehr Versuchen und Reform in Ruhe, ist eh alles bloß Ideologie - können Sie die verstehen?

Rabe: Zum Teil ja, zum Teil nicht. Es ist so, dass in der Tat die letzten zehn, 15 Jahre vor dem PISA-Schock im Jahr 2000 die Bildungsreformen weitgehend zum Stillstand gekommen sind. Danach ging es dann mit doppelter, ja dreifacher Geschwindigkeit los, das ist sicherlich ein Reformtempo gewesen, das nicht angemessen war. Umgekehrt möchte ich doch darauf hinweisen, mit welcher Wucht sich die Gesellschaft, die Wirtschaft, Berufe verändern, und dass Schule darauf reagieren muss, steht, glaube ich, außer Frage. Ich war zwölf Jahre meines Lebens Redakteur. Ich begann an einer mechanischen Schreibmaschine und nach zwölf Jahren haben wir Ganzseitenumbruch am Computer mit Digitalfotos gemacht, ganze Berufsstände wie die Setzerei waren nicht mehr vorhanden - so ändert sich die Wirklichkeit. Und darauf muss sich auch Schule ein Stück weit einstellen. Veränderung an sich ist nichts Schlechtes, wenn sie denn die richtige Richtung hat.

Timm: Ihr Berliner SPD-Kollege Zöllner fordert einen nationalen Bildungsrat. Wäre man da in einer besseren Position als mit einer Kultusministerkonferenz?

Rabe: Das glaube ich wenig. Wir müssen einfach uns fragen, was dieser nationale Bildungsrat machen kann und was nicht. Und ich will Ihnen ganz offen sagen, an Ratschlägen mangelt es in der Bildungspolitik nicht. Ich bekomme hier täglich 10, 20 Briefe mit fundamentalen Vorschlägen, was man ändern müsste: ein einheitliches Schulsystem, die Hauptschule abschaffen, Klammer auf, das wird die Südländer freuen, oder die Hauptschule wieder beleben, das wird die Nordländer, die gar keine mehr haben, freuen, das Fach Astronomie einführen, das Fach Sexualkunde ausbauen oder abschaffen - wir werden überflutet mit Ratschlägen. Das eigentlich Spannende ist, wie kommen wir von den Ratschlägen zum Handeln, und vor allem, welche dieser Ratschläge sind eigentlich die, die man aufgreifen muss. Und die Handlungsebene, die macht mir mehr Kopfzerbrechen, und insofern will ich offen sagen, ein weiteres Ratgeber-Gremium kann sicherlich nicht schaden, wird aber nicht unbedingt dazu führen, dass wir einen Schritt weiterkommen beim Handeln.

Timm: Und wann handeln wir mal, Herr Rabe, wann kann man in Deutschland unbesorgt umziehen und bei Schulen begründet auf einen nationalen Standard hoffen?

Rabe: Ich kann Ihnen sagen, dass es in Hamburg gerade einen Volksentscheid gegeben hat. Den Volksentscheid hat es gegeben gegen ein Schulsystem, das so ähnlich ist wie das von Berlin und Brandenburg. Und jetzt sage ich Ihnen ganz offen, wenn wir uns jetzt einigen würden als Kultusminister auf ein einheitliches Schulsystem, wie es auch immer aussehen würde, dann hätten wir in 14 Bundesländern Volksaufstände, denn wir haben nun mal 16 verschiedene Schulsysteme. Ob die immer schön sind, darüber kann man lange streiten, aber dass die beharrlich zum Teil verteidigt werden, und zwar nicht von Kultusministerien alleine, sondern insbesondere von den Menschen, die mit diesen Bildungssystemen groß geworden sind, das muss man berücksichtigen. Und ich sage mal am Beispiel der Hauptschule, es gibt viele Bundesländer ohne Hauptschule, und es gibt viele Bundesländer mit Hauptschule. Wie sollte denn jetzt, damit man später besser umziehen kann, ein einheitliches Schulsystem aussehen? Ich habe ...

Timm: Das ist deutlich geworden, Herr Rabe, ich hatte aber gefragt, wann man auf einen nationalen Standard hoffen kann, nicht auf ein einheitliches Schulsystem.

Rabe: Okay, dann will ich da klar sagen: In Bezug auf die nationalen Standards sind wir deutlich weiter gekommen. Wir haben bereits für den mittleren Bildungsabschluss und den Hauptschulabschluss entsprechende Standards verfasst, die jetzt umgesetzt werden, die auch schon in Prüfungen eingeflossen sind, wir werden in der kommenden Kultusministerkonferenz im Oktober die Standards für das Abitur beschließen und daraus diese Aufgaben entwickeln, sodass man an der Stelle jetzt sicherlich in den nächsten - na, ich will mal sagen - ein, anderthalb Jahren schon erkennen kann, dass die Bundesländer sich sehr zügig aufeinander zubewegen.

Timm: Herr Rabe, ich danke Ihnen! Ties Rabe war das, Hamburger Bildungssenator und derzeit Vorsitzender der Kultusministerkonferenz.

Rabe: Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema