Tierwelt

Das Fenster zum Lebensraum

Drei Zebras grasen im Tierpark in Cottbus.
Die Forscher untersuchen, wie sich das Fressverhalten der Zebras auf deren Zahnschmelz auswirkt. © picture alliance / dpa / Foto: Bernd Settnik
Von Lutz Reidt · 06.03.2014
In Hamburg haben Zoologen ein Verfahren entwickelt, das die Abnutzung von Tierzähnen analysiert. Mit einem Laser-Scanning-Mikroskop werden 3D-Modelle erstellt, die Rückschlüsse auf die Nahrungswahl und sogar das Klima vergangener Zeiten zulassen.
Schneebedeckt sind die Gipfel des lang gezogenen Gebirgszuges, der - in kräftiges Orange getaucht - von Südost nach Nordwest verläuft. Die Bergflanken wechseln in tieferen Lagen in schillerndes Gelb, die flacheren Ebenen leuchten knallgrün - wie bei einer dreidimensionalen Landkarte:
"Das ist aber nicht eine Landschaft, wie man Sie vielleicht von einem Satelliten aus sehen würde, sondern es ist winziger Ausschnitt aus der Oberfläche eines Gnu-Zahnes."
Und zwar eines Afrikanischen Streifengnus. Was der Zoologe Thomas Kaiser von der Universität Hamburg in seiner linken Hand hält, ist ein 20 mal 20 Zentimeter großes 3D-Modell, das die zerklüftete Zahnoberfläche in deutlicher Vergrößerung zeigt. Auffällig ist ein tiefer, blauer Graben mitten auf dem Zahnschmelz:
"Wenn man hier ein Tal sieht - was hier blau hervorgehoben ist - dann ist das jetzt nicht etwa ein tiefer Meeresgraben, sondern es ist der Kratzer auf dem Zahn eines Gnus, der z.B. entstanden ist, als das Tier auf ein Sandkorn gebissen hat. Und wenn wir jetzt solche Kratzer sehen, dann sagt uns das schon sehr viel aus darüber, wie die Nahrung dieser Tiere möglicherweise zusammengesetzt war."
Zahnoberfläche aus dem 3D-Printer
Thomas Kaiser arbeitet mit einem so genannten konfokalen Laser-Scanning-Mikroskop, das die Zahnoberfläche punktweise abtastet. Im Computer werden dann die Bildinformationen so übereinander gelegt, dass ein dreidimensionales Modell entsteht - zunächst in schmucklosen Graustufen. Damit das Ganze anschaulicher wird, weisen die Forscher verschiedene Farben so zu, wie es bei digitalen Höhenmodellen üblich ist. Ein 3D-Printer druckt dann dieses Relief der Zahnoberfläche in der gewünschten Vergrößerung aus.
Der Zahnschmelz ist das Fenster zum Lebensraum. Wenn die Forscher über eine 3D-Analyse die Fressgewohnheiten von Tieren rekonstruieren, können sie im Idealfall noch nach vielen hunderttausend Jahren herausfinden, welche Pflanzen in welcher Region früher wuchsen. Und das erlaubt Rückschlüsse über das Klima vergangener Zeiten. Um ein umfassendes Bild darüber zu bekommen, müssen möglichst vollständige Pflanzengesellschaften bekannt sein. Deswegen wäre es wichtig zu wissen, was auch andere Tiere fressen.
Gelb und orange leuchtenden Hügel
Die Hamburger Forscher haben diesen Vergleich an heute noch lebenden Tierarten vollzogen. Neben den Streifengnus, die frisches, weiches Gras bevorzugen, streifen auch unzählige Zebras durch die Savannen Afrikas. Die Hamburger Zoologin Ellen Schulz will daher wissen, wie sich deren Fressverhalten auf den Zahnschmelz auswirkt. Sie schaut sich die 3D-Analyse genauer an: Inmitten der gelb und orange leuchtenden Hügel und Berge sind deutlich grüne Täler zu erkennen, an vielen Stellen auch tiefe blaue Furchen und Krater:
"Beim Zebra sieht man ganz klar bei diesen Strukturen auf der Oberfläche wesentlich mehr Täler, wesentlich tiefere Täler als beim Gnu. Die weichere, frischere Nahrung beim Gnu hinterlässt nicht so tiefe, ausgekolkte Täler wie beim Zebra. Das heißt, beim Gnu haben wir wesentlich weniger Materialabnutzung, wesentlich weniger Verschleiß als beim Zebra."
Die von Grün- und Blautönen dominierte Landkarte der verschlissenen Zebrazähne spiegelt das wider, was diese Tiere vorwiegend fressen. Nämlich: trockene Pflanzen.
"Und trockene Vegetation hat ganz andere Eigenschaften: Sie hat einen geringeren Wasseranteil, sie hat auch einen höheren Anteil an Staub, der sich auf der Oberfläche auflagert; und wenn sie den dann mit fressen, dann schaben sie natürlich ihre Zähne in ganz anderer Weise ab als wenn sie eine relativ frische Vegetation fressen. Und da kann man jetzt im selben Lebensraum diese beiden Arten - Gnus und Zebras - sehr gut voneinander unterscheiden; und in unserem System findet man dann auch heraus, wie trocken dieses Gras gewesen ist, was da im Mittel gefressen wurde."
Software aus der Metallindustrie
Das wiederum verrät viel über die Qualität des Lebensraumes, in dem die Tiere leben. Oder: früher mal gelebt haben - wenn es sich um ausgestorbene Spezies handelt. Die 3D-Analysen der Hamburger Zoologen prägen eine relativ junge Disziplin der Ingenieurwissenschaften: die Verschleißforschung. Sie nutzen dabei eine Software, die bereits in der metallverarbeitenden Industrie etabliert ist:
"Das ist eine typische industrielle Analyse, mit der auch Bleche in der Walzindustrie untersucht werden. Sind die Bleche in Ordnung in der Oberfläche? Entspricht es meinen Vorstellungen? Und dann gibt mir die Software eben einen bestimmten Wert aus, der mir sagt: Die Oberfläche ist sehr rau oder nicht sehr rau."
Die Verschleißforschung der Hamburger Zoologen soll bei der 3D-Analyse der Zahnschmelzoberfläche nicht aufhören. Die Forscher wollen mehr wissen über das, was beim Kauen konkret passiert. Obwohl das Zerkleinern der Nahrung für Säugetiere überlebenswichtig ist, weiß niemand genau, welche immensen Kräfte dabei auf den Zahnschmelz einwirken:
Thomas Kaiser:"Es ist also der Verschleiß an der Oberfläche, der dadurch entsteht, dass diese Nahrungspartikel hier mit großer Geschwindigkeit, und auch zum Teil mit großen Kräften über diese Oberfläche flitzen und dabei kleine Kratzer hinterlassen oder sogar aufgrund ihres Aufschlags auf der Oberfläche regelrecht Stücke aus dem Zahnschmelz herausreißen."
Wenn diese Prozesse besser verstanden sind, könnten Werkstoff-Kundler künftig Materialien optimieren, die sie zum Beispiel für den Zahnersatz entwickeln.
Von friedlich äsenden Streifengnus und Steppenzebras in der afrikanischen Savanne zum heimischen Dentallabor an der Straßenecke - die Wege der Forschung scheinen manchmal verschlungener zu sein als sie es tatsächlich sind.