Tierische und menschliche Irrwege

Wir haben den Wal!

04:52 Minuten
Die Schwanzflosse des in der Londoner Themse verirrten Minkwals schaut aus dem Wasser.
Der Wal in der Londoner Themse ist zu lange in die falsche Richtung geschwommen - bis es kein Zurück mehr gab. Werden wir rechtzeitig die Richtung ändern? © picture alliance / PA Wire / Yui Mok
Von Wolfram Eilenberger · 16.05.2021
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Ein junger Wal, verirrt in einer Londoner Schleuse – dieses Bild ging letzte Woche um die Welt. Ein Sinnbild für den Brexit-Irrweg? Eher steht das Schicksal des Wals für die Sackgasse unserer fossilen Lebensweise, meint Wolfram Eilenberger.
Wie es überhaupt zu dieser Verirrung kommen konnte? - Wohl niemals werden wir es ganz verstehen. Vermutlich handelte es sich, wie in derart tragischen Fällen die Regel, um eine toxische Mischung aus Hunger und Gier, Langeweile und Abenteuerlust, Vereinsamung und Partnersuche. Jedenfalls begab es sich in der vergangenen Woche, dass ein Wal aus den kalten Weiten des Nordatlantiks über die Nordsee seinen Weg in die Themse nahm, ja, diese gar gen London weiter hinauf schwamm!
Parlament und Tower Bridge hatte der Meeresriese bereits passiert, als seine Reise in einer Schleuse des wohlhabenden Londoner Südwestens ein vorläufiges Ende fand. Es ging nicht weiter. Es ging nicht zurück. Und verweilen konnte er auch nicht. Ein Britischer Wal am Ende seines selbst gewählten Eigensinns. Die Aufmerksamkeit war, natürlich, sogleich eine globale. Und mit ihr die handyclipbefeurte Neugier, wie und ob der Kreatur nun noch zu helfen sein würde. Was tun?

Der verirrte Wal als Brexit-Allegorie?

Zumindest für den allegorisch geschulten Beobachter gab es darauf nur eine Antwort, nämlich: einen philosophischen Kommentar schreiben! Schließlich ist der Wal, biblisch auch Leviathan benannt, seit den Zeiten von Thomas Hobbes das Sinntier staatlicher Macht und Gewalt. Und taugte die Ausweglosigkeit, in welche sich das mächtige Wesen manövriert hatte, nicht als perfektes Sinnbild für den derzeit höchst kritischen Zustand des einstmals Vereinigten Königreichs?
Wie nicht vorhandene Walschuppen fällt es von den Augen: Dieser real existierende Zwergwal, das ist das einstige Britische Weltreich! Sein wahnwitziger Irrweg zurück die Themse hinauf, das ist der Brexit! Und sein missliches Schleusendasein ausweglosen Sich-Windens, das sind dessen wahre politische Folgen! Von wegen "Take back control!", ruft der überzeugte EU-Kontinental-Europäer in uns da besserwissend aus. Und tut damit etwas offenbar Dummes, da allzu Selbstgerechtes.

Unbezähmbare Natur

Zumal im gegebenen Falle eine andere Deutung mindestens ebenso nahe läge. Schließlich war der Wal, bevor Hobbes sich seiner politisch annahm, Jahrtausende lang vor allem Sinntier für die erhabenen Willkürkräfte der Natur. War er das religiös aufgeladene Wappentier des Urwüchsigen, Urgewaltigen und Unbezähmbaren schlechthin! Noch in Herman Melvilles "Moby Dick", jenem allegorischen Epos über die selbstzerstörerischen Triebkräfte des modernen Raubtierkapitalismus, scheint etwas von dieser diabolischen Übermacht hindurch.
Folgte man dieser Fährte, verkörperte das Schicksal des sich windenden Minkwals von London daher eine durchaus universelle Botschaft: Im ewig umstürmten Verhältnis von Naturkraft und Menschenmacht gibt es ihn tatsächlich, jenen "point of no return", ab dem selbst bei bestem Willen nichts mehr zu machen ist. Man muss einfach nur lange und eigensinnig genug in die falsche Richtung schwimmen.
Der Autor und Philosoph Wolfram Eilenberger
Der Philosoph und Autor Wolfram Eilenberger.© Ostkreuz / Annette Hauschild
Konkreter: Die Befreiung aus der Schleuse gelang unter Aufbietung höchster technischer Hebekunst zwar noch, doch musste der Wal von Richmond, so tief versehrt, entkräftet und weiterhin unbelehrbar wie er war, bereits am folgenden Tage eingeschläfert werden. Er war einfach zu weit gegangen. Befand sich, für uns, bereits jenseits des Rettbaren.
In dieser Deutung des Geschehens wären also nicht die eigensinnigen Inselbriten des Brexits "der Wal", sondern in Wahrheit wir Menschen der Moderne. Wir Menschen des fossilen Kapitalismus und damit eines Zeitalters, das durchaus nicht zufällig mit der Zeit der Walfangindustrie einsetzte. Verbunden mit der Frage, was wohl zu hoffen wäre in einer Situation, in der wir alle – womöglich gerade noch –, auf der hohen See des Daseins die Wahl zur selbst bestimmten Richtungsänderung haben.

Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist, Schriftsteller und ehemaliger Chefredakteur des "Philosophie Magazins". Nach seinem Bestseller "Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie. 1919-1929", erschien 2020 von ihm "Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten. 1933-43".

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