Tiergestützte Therapie

Von Stephanie Kowalewski · 17.08.2013
In Altenheimen spenden Hunde Trost und motivieren die Bewohner, sich mehr zu bewegen. Tiere in der Therapie von Menschen einzusetzen, ist offenbar sehr erfolgreich und nimmt stetig zu. Doch die Wissenschaft hinkt der Praxis hinterher.
Heimbewohner Rückert: "Guck mal hier Mäuschen, Lucy."

Freudig läuft Lucy auf Wolfgang Rückert zu, der auf der Terrasse des Cornelius-de-Greiff-Stifts in Krefeld die Morgensonne genießt.

Heimbewohner Rückert:"Guck mal hier Schatz. Oh, feines Leckerchen, ne. Oh, guck mal da. Jetzt gibt sie auch Pfötchen hier, gell. Lucy, Schatz, ja."

Die Mischlingshündin mit dem dunklen wuscheligen Fell reicht ihm bis ans Knie. Doch Angst scheint hier im Seniorenheim niemand vor ihr zu haben. Überall wird Lucy fröhlich begrüßt und ausgiebig gekrault. Lucy ist der Therapiebegleithund von Ramona Klar, die den Sozialen Dienst im Seniorenstift leitet.

Klar:"Wenn ich im Dienst bin, ist Lucy auch im Dienst."

Seit sechs Jahren setzt die Diplom Sozialpädagogin ihren dafür ausgebildeten Hund nun schon erfolgreich bei der Therapie der Senioren ein. Tiere wie Lucy können dabei Erstaunliches bewirken, sagt Andrea Beetz, die an den Universitäten Rostock und Wien die besondere Beziehung zwischen Mensch und Tier in der Theapie erforscht:

"Bei den Senioren geht es oftmals um eine Abwechslung im Alltag, eine Bereicherung und auch eine Stimmungsaufhellung. Es lenkt auch von Schmerzen ab oder schafft auch mehr Ruhe bei Menschen mit einer Demenzerkrankung."

Für Ramona Klar ist Lucy obendrein oft eine Art Türöffner:

"Sie macht im Grunde die Begegnung mit den Menschen einfacher."

Beetz: "Nach den ersten paar Minuten kennenlernen, haben sie schon den Entspannungseffekt. Das Tier wirkt hier schon, weil sie dann auch mehr und schneller Vertrauen zu ihren menschlichen Therapeuten aufbauen. Und dann können sie auch schneller zu den Knackpunkten in der Therapie kommen."

Seit mehr als 20 Jahren tierpädagogische Maßnahmen
Oder überhaupt erst einmal einen Zugang bekommen, sagt Hans Scholten, der das Jugendhilfezentrum Raphaelshaus in Dormagen leitet. Hier werden rund 250 Kinder und Jugendliche stationär und teilstationär betreut, die in schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen sind. Um ihnen besser helfen zu können, setzt die Einrichtung seit mehr als 20 Jahren auf tierpädagogische Maßnahmen wie therapeutisches Reiten oder Wandern mit Lamas. Zu der Einrichtung gehören zwölf Pferde, zwei Kamele, eine Lamaherde, Esel, Maultiere und Hunde. Sie alle sind unverzichtbarer Teil der pädagogischen Arbeit, sagt Hans Scholten:

"Ich kann mir Jugendhilfe nicht mehr ohne Tiere vorstellen. Tiere sind mehr als ein Werkzeug. Tiere sind mehr als eine Methode. Tiere sind Mitarbeiter, Kollegen auf vier Beinen, Vermittler, um das Vertrauen zu Menschen wiederherzustellen. Und es ist ein zusätzliches Instrumentarium, mit dem man verletzte Kinderseelen wieder heilen kann."

Eine ganz wichtige Komponente im Umgang mit Tieren für jung und alt ist der Körperkontakt, sagt die Wissenschaftlerin Andrea Beetz:

"Wenn wir zum Beispiel in der Lehrer-Schüler-Beziehung gucken, oder auch zwischen Therapeut und Klient findet ja kaum Körperkontakt statt. Das ist aber was, was wir Menschen mögen und wollen. Und mit dem Hund geht das ganz einfach."

Weil es fast ein natürlicher Refelx ist, einen Hund zu streicheln oder die lange Mähne eines Pferdes zu berühren. Tiere können also das Bedürfnis nach körperlicher Nähe befriedigen oder auch erst ermöglichen, beschreibt Hans Scholten die therapeutische Wirkung der Tiere auf die oft emotional gestörten Kinder.

Scholten: "Es gibt Jugendliche oder Kinder, die das erste mal Zärtlichkeit für sich oder andere zugelassen haben, in der Verbindung mit einem Tier oder einem Pferd. Mit dem Pferd kann man schmusen, ohne dass das uncool wirkt. Ein Tier hat auch immer unverdächtige Zärtlichkeit, die es verschenkt, im Gegensatz zu der verdächtigen Zärtlichkeit, die das ein oder andere Kind in der Vergangenheit erlebt hat."

Auch der 14-jährigen Dustin, der im Raphaelshaus lebt, genießt die wöchentlichen Reitstunden unter therapeutischer Anleitung. Sie tun ihm einfach gut, sagt er, besonders, wenn es mal wieder in der Gruppe nicht so rund gelaufen ist.

Dustin: "Also hier vergisst man, was in der Gruppe war, weil man kann ja nicht so aufbrausend sein, weil man ruhig mit den Tieren umgehen muss, weil die sich auch sonst erschrecken oder Angst haben, wenn man hier laut ist. Hier denkt man halt noch einmal über die Sachen nach, die vorher waren und dann, ja dann geht man einfach entspannt und mit guter Laune hier wieder raus. Ja, ich bin dann einfach glücklich und ich finds immer schön."

Diese Wirkung der Tiere - auch auf sehr aggressive oder hyperaktive Kinder - erlebt Marie-Theres Scholten, die als Reitpädagogin im Raphaelshaus arbeitet, täglich. Sie erklärt es damit:

"Dass die Tiere die Kinder so nehmen wie sie sind, vollkommen vorurteilsfrei. Es ist ganz egal, wie ein Kind aussieht, was ein Kind erlebt hat, wie intelligent oder wie dumm ein Kind ist, wie gepflegt oder ungepflegt. Also die Tiere sind freundlich und sofern sie gut behandelt werden, lieben sie die Kinder. Und das merken die Kinder und ich glaube da sind die total dankbar für."

Tiere können für Menschen eine große Stütze sein
Auch Menschen mit geringem Selbstbewußtsein profitieren erheblich von der tiergestützten Pädagogik, ergänzt der Heimleiter:

"Sie müssen sich vorstellen, wenn so ein kleiner Knirps auf so einem großen Kamel sitzt und wenn man dann noch 800 Kilo lebende Masse so bewegt, dass sie dort hin geht, wo man selbst möchte, hat man ein Lebensgefühl, dass man vorher in einer meist verbogenen Lebensbiographie nicht hatte."

Um solch ein Lebensgefühl zu erzeugen müsste ein Pädagoge lange arbeiten, meint er, wenn es denn überhaupt gelänge. Tiere können für Menschen jeden Alters in schwierigen Lebenslagen eine große Stütze sein. Sie geben emotionalen Halt, fördern die Kontaktfähigkeit und vermitteln dem Menschen das Gefühl, wichtig zu sein.

Sich kümmern und Verantwortung übernehmen - dass ist es auch, was den geistig behinderten Schülern der Paul Moor Förderschule in Mönchengladbach gut tut, sagt die stellvertretende Schulleiterin Marion Middendrob:

"Und das ist eine Rolle, die gerade unsere Schüler häufig ja nicht einnehmen. Häufig erleben sie sich ja selbst als jemand, für den gesorgt wird, für den Verantwortug übernommen wird. Also da auch so ein Perspektivwechsel wirklich deutlich erleben."

In der Förderschule kümmern sich einzelne Klassen abwechselnd für einen gewissen Zeitraum um die Hühner, die Ponnys, die auch beim therapeutischen Reiten eingesetzt werden, die Kaninchen und das Hängebauchschwein.

Middendorp: "Die Schüler fühlen sich ernst und wichtig genommen. Das ist eine ganz konkrete, eine ganz sinnvolle Tätigkeit."

Und auch bei den schwerstbehinderten Schülern hilft der Einsatz der Tiere in der Therapie. Pepe zum Beispiel ist 14 Jahre alt, kann nicht sprechen und sitzt wegen eines starken Spasmus im Rollstuhl. Janosch hilft dem Jungen, seine Verkrampfungen zu lösen.

Der Deutsch-Kurzhaar-Rüde ist der Therapiebegleithund von Sonderschullehrerin Sybille Ohlenforst. Sie sagt dem Hund, er soll sich ruhig und flach auf die Seite legen, hebt dann Pepe aus dem Rollstuhl und legt ihn so nah an den großen Hund, dass seine Beine auf Janoschs Bauch liegen.

Ohlenforst: "Die Beine liegen anfangs ziemlich verkrampft über dem Hund. Durch die Wärme und die Atmung von dem Hund entspannt sich Pepe um so mehr. Wenn er zehn, fünfzehn Minuten auf dem Janosch liegt, sieht man dass die Beine sich absenken und die irgendwann einfach wirklich platt auf dem Hund liegen. Und das kann er sonst eigentlich nicht."

Bessere Atmosphäre im Klassenzimmer
Obendrein freut sich Pepe einfach auch, wenn der große völlig ruhige Hund in seiner Nähe ist. Sybille Ohlenforst setzt Janosch aber nicht nur in der Einzeltherapie ein, sondern sie nimmt den Hund auch mit ins Klassenzimmer - mit erstaunlicher Wirkung.

Ohlenforst: "Es ist viel ruhiger. Die Kinder möchten natürlich nicht, dass der Hund leidet, weil ich hab ja auch erklärt, das der Hund alles viel stärker und lauter hört. Das verstehen die Kinder so gut, dass haben die so verinnerlicht, dass sie sich einfach auch wirklich bemühen, für den Hund jetzt auch leise zu seinm weil dem Hund solls immer gut gehen in der Klasse. Also er erfüllt schon wichtige Rollen hier in der Klasse."

Letztlich führt der Hund zu einer besseren Atmosphäre im Klassenzimmer und konzentrierterem Lernen - übrigens auch bei nicht behinderten Schülern. So gibt es zunehmend mehr Schulen, in denen regelmäßig ein Hund im Klassenzimmer anwesend ist - und die Erfahrungen sind gut. Damit Tiere ihre positive und mitunter sogar heilsame Wirkung auf den Menschen entfalten können, müssen Therapeut und Tier jedoch zwingend eine entsprechende Ausbildung erhalten, betont die Wissenschaftlerin Andrea Beetz:

"Wir vom Berufsverband finden, dass der Mensch eine ordentliche Ausbildung haben muss, auch in der Theorie. Was kann ich alles bewirken mit dem Tier, worauf sollte ich achten. Und man muss vor allem auch ganz viel Wissen über das Tier haben. Und man muss in seinem eigentlichen Beruf schon etwas etabliert sein, damit man sagen kann, ich hab jetzt noch 20 Prozent Aufmerksamkeit übrig oder noch mehr um dann auch auf mein Tier zu achten, dass es dem wirklich gut geht."

Eine Überlastung der Therapiebegleittiere muss in jedem Fall verhindert werden, da sie sonst die Freude am Kontakt mit den Menschen verlieren oder sogar aggressiv reagieren könnten. Deshalb achtet die Sozialpädagogin Ramona Klar sehr genau darauf, wann ihre Hündin beim Einsatz im Krefelder Seniorenstift eine Pause braucht, denn:

"Das wichtigste, was ein Hund haben muss, ist einfach diese Liebe zu den Menschen, Geduld und sie muss auch Unruhe ertragen können. Sie darf in keinem Fall aggressiv den Menschen gegenüber sein."

Lucys natürliche Gabe ist es, nahezu jedem Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, erzählt Heimbewohner Wolfgang Rückert, auch den Verwirrten und Dementen:

"Erstaunlicherweise wenn Tiere in die Nähe kommen, reagieren die auf einmal ganz anders, wie man sie sonst so kennt, gell. Also muss so ein Tier eine faszinierende Wirkung haben, dass die auf den Menschen so Einfluss üben können, sag ich mal, gell."

Auch die hundertjährige demente Dame, die garade recht entrückt in einem Bildband blättert ohne wirklich hinzusehen, wird regelmäßig von Ramona Klar und dem Therapiebegleithund besucht.

"Guten Morgen. / Jawohl, guten Tag. Wer ist denn das! Ja, ja, ja. Guck mal was hier ist."

Für die Sozialpädagogin hat die alte Dame kaum einen Blick, aber Lucy wird freudig begrüßt und mit den alterssteifen Händen emsig gestreichelt.
Klar:"Ich werde ganz oft über die Lucy erkannt. Sie wissen meinen Namen nicht, aber sie wissen, ich bin die mit dem Hund. Das ist schon ein Erfolg, bei Menschen, die eigentlich alles vergessen. Das ist schon ganz wichtig, so was Vertrautes zu sein."

Ramona Klar reicht der Frau ein Mäppchen und fordert sie auf, den Reißverschluss zu öffnen, denn da sind Leckerchen für den Hund drin. Keine leichte Aufgabe.

"Und jetzt so oder so? Hier, hier ziehen."

Ohne den Therapiebegleithund würde die alte Frau sich die Mühe wohl nicht machen, meint die Wissenschaftlerin Andrea Beetz. Sie macht es für Lucy.
Beetz: "Von der ersten Minute an, wirkt hier diese Motivation, ich will das Tier streicheln, ich will mit dem Hund was machen."

Geduldig müht sich die Hundertjährige mit ihren steifen Fingern an die Nascherei für den Hund zu kommen, der freudig vor ihr sitzt und hin und wieder seine Schnautze auf ihre Beine legt. Nach etlichen Minuten hat sie es geschafft.

"Haste gesehen? Ja, mit dem kann man spielen. Du bist ja ein ganz Lieber."

Die zuvor fast apathisch wirkende Seniorin ist voll bei der Sache. Sie lacht, sucht den Kontakt zu der Pädagogin, während sie liebevoll den Hund füttert. So ist das eigentlich immer, sagt Ramona Klar, bei fast allen Bewohnern. Die Wissenschaft bestätigen ihre Beobachtungen. Obwohl die Studienlage noch recht dünn ist, gibt es einige gut belegter Effekte, sagt Andrea Beetz, die rund 70 wissenschaftliche Studien ausgewertet hat.

Beetz: "Tiere fördern den Sozialkontakt, auch zwischen den Menschen. Also sie reden mehr, sie lachen auch mehr. Sie verbessern die Stimmung nachweislich, reduzieren Depressionen, fördern aber eben auch positive Stimmung, sie reduzieren Blutdruck, Streßhormonlevel, entspannen gut und besser oft als Menschen. Man vermutet noch Schmerzreduktion, dass sie da einen Effekt haben könnten, und insgesamt wissen wir, dass Menschen, die mit Tieren leben, etwas gesünder sind."

Und glücklicher, fügt der 77-jährige Wolfgang Rückert hinzu, während er Lucy liebevoll den Kopf tätschelt:
"Lucy ist Freundin von der ersten Minute an. Ist doch schön, wenn man so Tieren zusieht, ne. Wenn man so alleine ist. Bist ein gutes Mädchen, Lucy. Das machts mir leicht hier, gell."
Mehr zum Thema