Tiefenblick in die Geschichte

Der Zusammenbruch des Kommunismus, Zweifel an der Moderne, die Krise des Islam: In den letzten 20 Jahren hat sich unsere Welt massiv verändert. Mit seinen meinungsfreudigen Aufsätzen will Dan Diner helfen, die Umbrüche der Gegenwart zu verstehen.
In "Zeitenschwelle" verknüpft Dan Diner zehn neuere Reden, Aufsätze und Manuskripte unter anderem über Israel, Amerika, Holocaust und Postkolonialismus zu einem Buch, das naturgemäß keinen roten Faden hat – aber für eine bestimmte Perspektive einsteht. Diner will sich als emphatischer Historiker den "zeitgeistigen Eindrücken in ihrer blendenden Unmittelbarkeit" entziehen, ohne deshalb die Zeitgenossenschaft aufzukündigen. Sein Ideal ist ein "entlang der Konturen des Vergangenen sich orientierender, historisierender Blick auf das Heute."

Schon im ersten Aufsatz, "Moderne erkennen", stellt sich Diner als urteilsfreudiger und sperriger Autor vor. Stets bereit, die europäische Moderne gegen Skepsis und Kritik (von links) zu verteidigen, geht Diner mitten im Lobgesang auf die schottische Aufklärung (A. Smith und andere) selbst zum Angriff über und hält der islamischen Welt ihre chronische Unaufgeklärtheit, Unbelesenheit und theoretische wie technologische Rückständigkeit vor.

Passenderweise handelt der nächste Aufsatz ("Sakrales verstehen") vom Einfluss der Religionen auf Gesellschaftsstrukturen. "Das Dilemma der vorderorientalischen Zivilisation" lag laut Diner darin, dass religiös legitimierte Staatsmacht und Stadtkultur zusammenfielen und sich die Sphären von Herrschaft und Wirtschaft nicht getrennt entwickeln konnten. Zur anschaulichen Beweisführung fehlt Diner allerdings (nicht nur) hier der Raum. Dafür hält der apodiktische Stil den Leser unter Spannung.

In den Aufsätzen zum Krisengebiet Nahost argumentiert Diner besonnen. Er führt die Gründung Israels auf die "weltgeschichtlich kurze Atempause" zwischen Zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg zurück und hebt die "Kontingenz" der Ereignisse hervor. Dass, zumal aus muslimischer Sicht, die religiöse Legitimierung Israels genauso problematisch ist wie die Ableitung seiner Gründung aus dem Holocaust, erklärt Diner kenntnisreich und nüchtern.

Umso verblüffender, dass er als Liebhaber des sonnendurchfluteten Jerusalem einer Lichtmetaphysik verfällt und aus dem leuchtenden Stadtbild ableitet, dass sich Israelis und Araber an dem für beide heiligen Ort niemals versöhnen können: "Das Sakrale indes ist nicht teilbar. Es ist absolut. Eine Zerteilung brächte es um die Attribute seiner Heiligkeit."

Überlegungen zu Auschwitz, zum Antisemitismus und zur Unterscheidung zwischen "Sterben und Sterben" (es geht um eine internierte Jüdin und ihre SS-Wächterin in der Bombennacht von Dresden) steigern die untergründige Konsistenz des Bandes genauso wie die Hommage an den Holocaust-Chronisten Saul Friedländer. Diners Verherrlichung Amerikas als eines Empires der Freiheit, das sich – aus seiner Sicht – erfreulicherweise global ausdehnt, erscheint dagegen unreflektiert, die Auseinandersetzung mit asymmetrischer Kriegsführung und Selbstmord-Terrorismus zerfahren.

Zeitenschwelle langweilt selten, begeistert aber nur in ausgewählten Passagen. Dan Diner steht unbeirrbar, wenn auch keineswegs naiv für die europäische Rationalität, die westlichen Werte, für die Moderne ein. Er tut es mit knorrigem Pathos, das manchmal rührend unmodern wirkt. Ein Buch für Leser, die intellektuelle Reibung schätzen.

Besprochen von Arno Orzessek

Dan Diner: Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte
Pantheon Verlag, München 2010
272 Seiten, 12,95 Euro
Mehr zum Thema