Thüringer Urwald

Vom Truppenübungsplatz zum Nationalpark

Baumkronenpfad im Thüringer Wald von oben fotografiert
Baumkronenpfad im Thüringer Wald © Johannes Nichelmann
Von Johannes Nichelmann · 29.10.2017
Deutschlands größter zusammenhängender Laubwald befindet sich in Thüringen - der Nationalpark Hainich soll wieder zum Urwald werden. Seltene Tier- und Pflanzenarten haben sich schon angesiedelt - auch der seltene Luchs soll wieder durch den Wald streifen.
Am Parkplatz Fuchsfarm treffe ich mich mit Manfred Großmann, dem Chef des Thüringer Nationalparks Hainich. Er ist mit seinem Elektroauto gekommen und anders als ich hat er an festes Schuhwerk gedacht, trägt eine wetterfeste Jacke, eine kreisrunde Brille und eine Schirmmütze. Wir wollen wandern gehen, stehen vor einer großen Schautafel, auf der Wanderwege und Waldgrenzen markiert sind.
Manfred Großmann: "Was ich jetzt mit Ihnen vorhabe, also das wäre mein Vorschlag, dass wir den Wanderweg Hünenteich laufen, weil man da einfach vieles sieht, was so den Nationalpark auszeichnet. Das sind so rund fünf Kilometer und das wir dazwischen immer wieder auch anhalten oder Sie fragen und dann, ich weiß nicht, in zwei Stunden oder je nachdem wie lange es dauert, wieder hier sind."
Autor: Das klingt sehr gut!
Manfred Großmann: "Ja? Hier sehen Sie nochmal die Außengrenze. Und Sie sehen auch nochmal diesen großen Kontrast, den Sie ja gerade auch miterlebt haben, wenn man aus Bad Langensalza kommt, wir passieren dieses große, relativ intensiv genutzte, ackerbaulich genutzte Land und sind jetzt am Rande der größten nutzungsfreien Laubwaldfläche in ganz Deutschland. Das sind hier fünftausend Hektar Laubwald am Stück."
Am Waldrand. Die ersten Schritte führen uns über eine asphaltierte Straße, einem Relikt aus vergangenen Zeiten. Es regnet. Auf unserer Wanderung werden wir keiner Menschenseele begegnen. Der Pfad ist abgesteckt. Das Piktogramm einer Kröte auf kleinen Holztäfelchen wird uns alle paar Meter den Weg weisen.
Manfred Großmann: "Wir möchten ja immer irgendwo was ändern, in bestimmte Richtungen lenken, einen Zustand konservieren oder einen Zustand erreichen. Das ist hier ganz anders. Natur, Natur sein lassen heißt, die Natur bestimmt was abgeht, wir beobachten und betrachten das nur. Wir machen beobachtende Forschung, das ist unsere Aufgabe mit und wir schauen inwieweit das Gebiet auch dem Menschen für Erholung und Umweltbildung zugänglich gemacht werden kann. Was man mit einer entsprechenden Wanderinfrastruktur bewerkstelligt."
Es ist Oktober. Die Farben: grün, rot, gelb, braun. Indian Summer in Thüringen. Der Wind pustet durch die Baumkronen. Mächtige, bis zu 30 Meter hohe Bäume, die sich wie Weizenhalme im Sturm wiegen. Blätter überziehen den matschigen Waldboden. Ansammlungen von tausenden jungen, zarten Ahornen, Buchen oder Ulmen - die versuchen den Sprung vom Pflänzchen zum Baum zu schaffen. Die Zugvögel sind längst abgezogen. Die übrigen bauen weitestgehend stumm ihre Winterquartiere. Der Wald macht sich fertig für den Winterschlaf.
Manfred Großmann: "Wir könnten jetzt in westlicher Richtung weiterlaufen, zehn Kilometer und würden ausschließlich durch solch einen Wald laufen. Ohne jegliche Bewirtschaftung. Mit dicken alten Bäumen, mit viel Totholz, sie würden keine Siedlungen passieren, keine Straßen, die dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind, also haben schon so einen Hauch von Wildnis, obwohl wir mitten in Deutschland sind, umgeben von intensiv genutzten Flächen und einer Besiedlung."
Autor: Warum heißt das ganze Hainich? Woher kommt dieser Name?
Manfred Großmann: "Ja, da gibt es so verschiedene Interpretationen. Hain ist eigentlich ein angelegter Wald, Sie kennen das ja auch, ein hainartiger Bestand, also ein lichter Bestand, vom Menschen angelegt und da gehen die Interpretationen dahin, dass das so der Ursprung war."

"Höchste Auszeichnung, die ein Gebiet bekommen kann"

Der erste Nationalpark der Welt, der Yellowstone Nationalpark in den USA, erstreckt sich über knapp 9.000 Quadratkilometer und ist damit einhundert Mal größer als der Nationalpark Hainich, der sich im südlichen Teil des Muschelkalkhöhenzuges Hainich befindet. Trotz der Größenunterschiede gibt es eine besondere Verbindung zwischen beiden Nationalparken. Sie gehören zum UNESCO Welterbe. Im Jahr 2011 gelang Manfred Großmann und seinem Team der Eintrag auf die Liste.
Manfred Großmann: "Da muss man vielleicht dazu sagen, dass der Nationalpark ja nicht komplett Welterbe ist, sondern es ging um die Buchenwälder und der Nationalpark ist gerade mal zu 71 Prozent derzeit bewaldet und die Buchenwälder machen weniger als die Hälfte aus und was wir als Welterbefläche gemeldet haben und was dann auch 2011 akzeptiert worden ist, das sind die wertvollsten Teilbereiche. Hier geht es dann los. Das sind ungefähr eineinhalb tausend Hektar, die nicht erst seit 20 Jahren aus der Nutzung sind, sondern größtenteils seit 50 Jahren und auf dem Weg hin zum Urwald schon einen kleinen Entwicklungsvorsprung gegenüber den anderen Flächen haben."
Autor: Als Sie die Meldung bekommen haben, dass Sie es tatsächlich werden, Weltnaturerbe, erinnern Sie sich an den Moment? Wie war das für Sie?
Leiter Manfred Großmann
Leiter Manfred Großmann© Johannes Nichelmann
Manfred Großmann: "Da erinnere ich mich sehr gut, weil ich mit dabei war. Die Sitzung war in Paris, das hat sich über mehrere Tage hin erstreckt. Als ich angekommen bin, am Donnerstag den 23. Juni, da war die Tagesordnung um 24 Stunden schon im Verzug und unser Thema, also Einschreibung der Deutschen Buchenwälder als Ergänzung einer vorhandenen Welterbestätte in den Karpaten der Slowakei und der Ukraine ist dann erst am Freitag auf die Tagesordnung gekommen und am Freitag hat sich die Diskussion so lange hingezogen, dass kurz vor der Entscheidung die Vorsitzende gesagt hat, okay, jetzt 20 Uhr, Feierabend für heute, sodass die Diskussion erst am nächsten Tag, es war Samstag der 25. Juni, wieder aufgenommen werden konnte. Da hat es dann nur wenige Minuten gedauert und genau um 10 Uhr 30 ist dann das Hämmerchen der Vorsitzenden gefallen mit den Worten 'It is adopted' und wir waren Welterbe."
Autor: Und die Freude war groß...
Manfred Großmann: "Das ist unbeschreiblich, weil es gibt einfach nichts, was das toppen kann. Das ist die höchste Auszeichnung, die ein Gebiet bekommen kann. Wir spielen ja sozusagen in einer Liga mit den bekanntesten Naturgebieten, die es auf diesem Globus gibt, wie Serengeti, Galapagos, Great Barrier Reef, Yellowstone und so weiter. Das hätten wir uns vor 15 Jahren, vor 20 Jahren, gar nicht gedacht."
Autor: Aber trotzdem ist der Hainich ja in Deutschland selbst jetzt keine große Berühmtheit. Wer in Thüringen ist, kennt das wahrscheinlich. Aber jetzt nach Berlin, Hamburg oder München geschaut, wird es wahrscheinlich schon schwieriger Leute zu finden, die das kennen.
Manfred Großmann: "Genau, vor 20 Jahren war ja der Hainich selbst in Thüringen mehr oder weniger unbekannt. Ist das ein Fluss oder ist das ein Berg oder was ist das überhaupt? Das lag sicherlich daran, dass er über Jahrzehnte im Schatten der innerdeutschen Grenze lag und im Südteil, auf der Fläche des jetzigen Nationalparks, war es eine militärische Liegenschaft, konnte nicht betreten werden und das ganze hat sich ja erst seit Anfang der 90’er Jahre geändert, nachdem das Militär erklärt hat, wir brauchen diese Flächen nicht oder die Diskussion losging. Aber es gab gerade in den Anfangsjahren mal einen Artikel vom "Bund Naturschutz" mit der Frage, wer ist denn der bekannteste Nationalpark Deutschlands? Ist nicht so ganz einfach zu beantworten. Einfacher ist: wer ist der unbekannteste Nationalpark in Deutschland. War damals die Antwort ganz klar der Hainich. Ich denke, dass sich das schon geändert hat, aber es gibt immer noch großes Potenzial nach oben."
Ganz nach oben geht es für die Besucher vor allem auf dem Baumkronenpfad. Ein Rundgang von knapp 240 Metern. Gehalten von Stahlträgern, in einer Höhe von zehn bis 24 Metern. Ganz nah an den Wipfeln der vielen verschiedenen Laubbäume. Insgesamt wachsen hier 50 Baumarten. Die Vogelperspektive ermöglicht ein 41 Meter hoher Aussichtsturm.
Gerd Frixel: "Ja, dann möchte ich Sie erst einmal recht herzlich begrüßen hier im Nationalpark Hainich auf unsrem Baukronenpfad. Kurz nochmal eine Information, Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, durch den Regen, es kann ein bisschen rutschig sein, also..."
Der Ranger Gerd Frixel
Der Ranger Gerd Frixel© Johannes Nichelmann
Gerd Frixel ist Mitarbeiter im Nationalpark und führt an diesem Samstagvormittag eine Besuchergruppe herum. Er spielt mit einer Hand an dem Ring in seinem linken Ohr, mit der anderen stützt er sich auf einen orangefarbenen Regenschirm. Gerd Frixel trägt die dunkelgrüne Ranger-Jacke mit dem Abzeichen der Nationalparkwacht und zeigt uns die seltene und besonders wertvolle Elsbeere. Das Holz dieses Baumes ist das mit Abstand teuerste aus deutschen Wäldern. Die Exemplare im Nationalpark sind natürlich unverkäuflich. Die Elsbeere hier am Baumkronenpfad muss ohnehin noch ein bisschen wachsen. Ihre weinroten Herbstblätter reichen kaum über die Balustrade.
Gerd Frixel: "Ja, kommen wir mal zu dem, worum es eigentlich geht. Baumkronen der unterschiedlichsten Baumarten. Wir testen immer ganz gerne mal so den Kenntnisstand im Bezug auf die Baumarten, also unsere heimischen Baumarten, die hier stehen. Wollen wir es bei Ihnen auch mal testen oder lassen wir es lieber sein?"
Schweigen im Walde. Das einzige was man hört, ist das Rauschen des Windes. Ich denke mal, der Großteil der Blätter ist noch dran. Dann müsste es eigentlich relativ einfach sein, die verschiedenen Baumarten, die man hier direkt am Pfad haben zu bestimmen.
Besucher: "Ist das eine Buche?"
Gerd Frixel: "Haben Sie sehr gut erkannt! Rotbuche. Hier wird es schon etwas schwieriger, denke ich. Gucken Sie sich mal die Rinde an. Das hier, gucken Sie mal genau hin, Blattform. Müsste man eigentlich erkennen. Da muss ich dann mit den Worten meines Kollegen antworten, der würde dann meistens darauf antworten, wenn jemand in so einer Runde sagt, es wäre eine Eiche, dann kommt dann immer als Antwort, wenn das eine Eiche wäre, das wäre ein bisschen "eichenartig". (lachen) Ist keine Eiche. Ist ein Ahorn! Ist aber nicht so geläufig. Die meisten kennen Bergspitzahorn, also das mit den großen Blättern. Das hier ist ein Feldahorn. Feldahorn, wenn er frei steht, also nicht wie hier im Bestand, da ist hier dieser Konkurrenzdruck da, nach oben zum Licht zu wachsen, Feldahorn nimmt dann in der Krone eher auch so eine strauchige, buschige Form an. Aber hier, wie gesagt, durch den Konkurrenzdruck nach oben zu wachsen ist das doch schon ein beachtliches Bäumchen, was hier steht. Und dann haben wir hier noch zweimal, dieser große stattliche Baum? Genau! Linde.
Wir haben sogar das Glück heute, dass mal ein bisschen Wind geht. Schauen Sie sich das mal an. Das ist wirklich interessant das zu beobachten. Das sind mitunter mehrere Meter, was so eine Krone im Wind hin und her schwingt. Gut, gehen wir mal weiter zur nächsten Plattform.
Besucher I: "Sehr außergewöhnliche Erfahrung, weil man die Perspektive wirklich nicht kennt. Was ich interessant fand, auch die richtig großen Bäume, die Bewegung, die bemerkt man von unten natürlich nicht und hier oben passiert richtig was. Fand ich sehr spannend. Es ist irre! Alle diese Herbstfarben, die man ansonsten von irgendwelchen Gemälden aus dem Museum kennt, gibt es hier in echt. Also von sämtlichen Gelb-, Orange-, Braun- und Grüntönen findet man hier auf zwei Quadratmetern alles, was man sich vorstellen kann."
Besucher II: "Und gerade als Sie dazu gekommen sind, wollten wir eigentlich ein kleines Video drehen, weil dieser Baum hier direkt vor uns in seinen vielfachen rotbräunlichen Schattierungen, der sich langsam im Wind bewegt, ist einfach fast meditativ. Wenn man so einen kleinen 20 Sekunden langen Clip dreht, denkt man sich wow. Ist doch genial, schauen Sie sich an, wie der sich wunderbar sanft im Wind bewegt. Der ganze Baum und jetzt kommt ein Windstoß und einzelnen Blätter fangen an sich zu bewegen. Ist toll."
Besucherin: "Mit was haben Sie das hier aufgebaut? Die großen Ständer und alles. Damit die Natur nicht zu Schaden kommt."
Gerd Frixel: "Sag ich gleich mal was dazu! Hier kam die Frage, wie ist das gebaut worden? Also diese Teile, ich nenne sie immer so Brückenteile, die sind vorgefertigt worden, zwischen 12-14 Meter lang. Die sind per LKW hier angeliefert worden. Also unten im Eingangsbereich und hier standen zwei so große Baukräne, einer in etwa in der Höhe dazwischen und einer ziemlich weit vorne und mit diesen Kränen hat man praktisch diese Teile dann hier vor Ort dann installiert. Hier hinten in diesem Bereich, also in diesen 300 Metern ist nicht ein einziger Baum gefällt worden. Also man hat den Pfad so durch die Kronen verlegt, dass man hier keine Bäume fällen musste, weil das war ja eigentlich ursprünglich das Ziel, Ihnen, den Besuchern Baumkronen aus unmittelbarer Nähe zu bieten. Sicher ist es hier und da mal passiert, dass mal ein Ast abgebrochen ist. Das ließ sich aber gar nicht vermeiden. Aber zumindest hier hinten nicht ein einziger Baum gefällt."

Ein Wald, wie ihn Goethe kannte

Autor: Hat sich hier schon mal jemand verlaufen und Sie mussten den dann nachts retten oder so?
Manfred Großmann: "Also wir hören gelegentlich mal, dass Leute mal mit der Beschilderung Schwierigkeiten hatten und die an anderer Stelle rausgekommen sind. Wir mussten noch niemanden retten und das Gebiet ist dann ja nicht so groß und hat keine unendliche Wildnis. Spätestens nach zehn Kilometern, wenn Sie immer geradeaus laufen, kommen Sie an einer Stelle auch wieder raus. Es gab noch keine ernsthaften Probleme."
Ich verlasse mich bei unserer Wanderung ganz auf die Ortskenntnisse des Nationalparkleiters Manfred Großmann. Der 56-Jährige Franke kam in den Hainich, als es 1998 mit der Gründung des Nationalparks losging - als aus dem ehemaligen Militärgelände ein Urwald werden sollte.
Autor: Ist das hier ein Wald, wie ihn Goethe, der hat ja hier in der Gegend gewirkt, gesehen haben könnte. So vom Zustand her?
Manfred Großmann: "Ja, grundsätzlich ja. Wobei man sagen muss, vor rund 200 Jahren, als Goethe gelebt hat, die Wälder viel intensiver genutzt waren als heute. Die waren flächendeckend genutzt. Die waren regelrecht ausgeplündert. Dicke Bäume waren da schon Mangelware. Warum? Weil damals, zumindest Anfang des 19. Jahrhunderts noch, Holz der wichtigste Brennstoff überhaupt war. Der wichtigste Baustoff und viele Wälder, ja, einen Zustand hatten, den man nur als devastiert, verwüstet, bezeichnen kann."
Autor: Was ist eigentlich ein Urwald, also wie definiert sich das? Wann ist ein Urwald ein Urwald? Das klingt ja eigentlich so, dass der seit der Steinzeit so wächst, wie er wächst, in meinen Ohren.
Manfred Großmann: "Genau. Also Urwald gibt es verschiedenste Definitionen. Aber eine relativ klare und einfache Definition ist ein Wald, der noch nie forstlich genutzt worden ist oder sonst vom Menschen verändert wurde. Und das ist etwas, was es in Deutschland schon mindestens seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr gibt."
Da waren schon im Mittelalter großflächig die Wälder verändert worden und die letzten Urwaldreste irgendwo in der Peripherie, in den Alpen oder im Bayerischen Wald sind im 19. Jahrhundert auch verändert worden. Was wir heute in Deutschland wieder haben und das ist eine relativ neue Entwicklung im Naturschutz, sind Wälder, die man der forstlichen Nutzung entzogen hat. Die sich langsam wieder in Richtung Urwald, Naturwald, ungestörte Waldflächen entwickeln können. Wobei wir da von Entwicklungszeiträumen von vielen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten ausgehen müssen.

Wissenschaftlich gesehen, kein richtiger Urwald

Rein naturwissenschaftlich handelt es sich beim Nationalpark Hainich bisher nicht um einen Urwald. Doch der Marketingbegriff klingt für mich als stressgeplagtem Großstädter trotzdem gut. Nach Abenteuer, nach Wildnis und nach einer Reise in die Vergangenheit. In Deutschland gibt es insgesamt 16 Nationalparke. Gemessen an der Gesamtfläche der Bundesrepublik gerade mal 0,6 Prozent. Geschützte Buchenwälder wie den Hainich finden Besucherinnen und Besucher beispielsweise auch in Jasmund und an der Müritz in Mecklenburg-Vorpommern oder im Nationalpark Schorfheide-Chorin in Brandenburg. Die Bundesregierung hat vor ziemlich genau zehn Jahren beschlossen, dass sich die Natur bis zum Jahr 2020 auf insgesamt zwei Prozent ungestört ausleben und entwickeln können soll. Man muss kein Prophet sein um zu wissen, dass dieses Ziel nicht erreicht werden wird. Für den studierten Landespfleger Manfred Großmann ist es dennoch ein Fortschritt, dass überhaupt solche Ziele formuliert worden sind.
Manfred Großmann: "Vor 30 Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass es überhaupt diese Zielstellung Wildnis in Deutschland gibt."
Die Gedanken an die Politik gehen bei unserem Spaziergang schnell verloren. Wir passieren den Hünenteich. Malerisch liegt das kleine Gewässer mitten im Wald. Es wurde von Menschenhand angelegt - vermutlich schon um das Jahr 1200. Das stehende Gewässer gehörte wohl zu der Siedlung Gräverode. Heute nutzen vor allem verschiedene Froscharten und Molche den Teich.
Manfred Großmann: "Hier kann man, mit etwas Glück, auch im Frühling den Schwarzstorch antreffen. Hier gibt’s fünf Amphibienarten. Im Mai ist hier alles gelb mit der Wasserschwertlilie. Sie haben hier den Teichschachtelhalm. Große Röhrichtbestände. Unterwasserpflanzen, die Wasserspitzmaus kommt hier vor. Also hier ist schon ein interessantes Tierleben zu finden."
Die Wanderwege werden hin und wieder durch umgestürzte Bäume unterbrochen. Mächtige Buchen, die nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten keinen Halt mehr fanden. Von Moos überdeckt, vom Zunderschwamm oder anderen Pilzen befallen. 500 verschiedene Käferarten leben in dem Totholz. Ein Friedhof der hölzernen Giganten, die hier zu Erde werden.
Autor: Waren Sie dabei, als so ein mächtiges Holz hier umgekippt ist?
Manfred Großmann: "Ja, schon. Das ist schon, da kommt schon einiges zusammen. Da möchte man nicht darunter liegen. Das baut sich so ganz langsam auf, so über ein, zwei Sekunden. Man hört so ein Krachen und dann so einen richtigen dumpfen Schlag, wenn dann der Stamm unten am Boden liegt. Das ganze spielt sich ja in ein, zwei Sekunden ab."
Der Baum hier, die Buche, die ist im Winter 1999/ 2000 umgestürzt. D.h. die haben wir im Jahr 2000 erstmals aufgenommen. Das war hier ein Baum mit einer Länge von 25 Metern. So eine mittelstarke Buche. Hier war ein großer Wurzelteller und hier der Stamm, und dann haben wir alles von der Stelle aus, hier ist auch eine Markierung, hier drüben, jedes Jahr fotografiert. Dann kann man jetzt so schön zeigen, was hat sich in mittlerweile 17 Jahren getan. In den ersten Jahren hat man fast nichts gesehen am Stamm, d.h. das war nach wie vor ein fester Stamm.
Dann kamen so die ersten Moose, dann hat sich die Rinde gelöst, relativ schnell zersetzt hat sich die Krone, diese feinen Teile. Also alles, was dünner ist als fünf Zentimeter. Erst jetzt nach zehn Jahren hat auf einmal der Stamm auch an Festigkeit verloren. Da ist dann der Pilz mit reingekommen. Da haben wir jetzt diese schwammförmige Struktur, wenn ich das dann greife und zusammenpresse, dann kommt nur das Wasser raus. Das Mittelteil. Ja, jetzt wird es langsam auch... weich.
Autor: Sie hauen da mit der Handkante gerade rauf, ich drück mal einfach. Das ist ja wirklich, das ist ja einfach nur noch Matsch.
Manfred Großmann: "Das wird einfach Erde! Die Nährstoffe werden freigesetzt. Es wird wieder in die Bestandteile zerlegt. Hier sehen Sie die Pilze und der Feinanteil oben, also die Krone, die ist praktisch schon komplett verschwunden. Und die Buche ist eine Art, die gilt als sich schnell zersetzend und trotzdem dauert das hier, würde ich mal sagen, 30 Jahre, bis sie komplett verschwunden ist."
Manfred Großmann: "Flugzeug! Das sind halt die Grenzen."
Autor: Stört Sie das? Dass hier...
Manfred Großmann: "Ja, natürlich stört mich das. Weil es das Naturerlebnis natürlich auch beeinträchtigt. Aber da merkt man eben, wir sind nicht im luftleeren Raum, wir sind nicht in einer Naturlandschaft, sondern wir sind in einem Wald, der sich langsam wieder vom Wirtschaftswald Richtung Urwald entwickeln soll, eingebettet in eine intensiv genutzte und besiedelte Landschaft."

Wildschweine, Waschbären oder Wildkatzen

Rund um den Nationalpark befinden sich noch Privat- und Genossenschaftswälder, die wirtschaftlich genutzt werden. Als nach dem Ende der DDR einige Waldbesitzer ihre Ländereien zurück erhielten und Pläne zur Errichtung des Schutzgebietes aufkamen brachen keine Jubelschreie aus. Die Furcht ging um, dass die Flächen wieder abgegeben werden müssten. Doch nur der südliche Teil, der eh in öffentlicher Hand lag, wird sich selbst überlassen. Weitestgehend zumindest. Die Wildschweine, Waschbären oder Wildkatzen machen nämlich keinen Unterschied zwischen den Besitzverhältnissen.
Manfred Großmann: "Hier haben wir übrigens Spuren von Wildschweinen."
Autor: Ah, hier ist so ein bisschen Sand aufgewühlt am Wegesrand.
Und so wird, des sozialen Friedens willen, auch im Nationalpark gejagt.
Manfred Großmann: "Thema Jagd ist immer auch so ein Punkt, was nicht so ganz einfach ist. Also da gibt es sicherlich Punkte, wo man heftig auch streiten muss, aber Wildregulierung ist natürlich so ein spannendes Thema auch in einem Nationalpark und man merkt, man kommt ganz schnell an die Grenzen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Für uns ist das Thema Wild kein Thema, für den Nationalpark an und für sich. Ob hier die Wildschweine wühlen oder nicht oder was hier Rehe oder Hirsche verbeißen. Das ist dann nun mal so."
Aber wir leben ja nicht im luftleeren Raum, d.h. wir haben angrenzend Privatwälder, die sich dann über einen starken Verbiss nicht freuen, wir haben angrenzend Ackerflächen, wo dann die Landnutzer auch nicht erfreut sind, wenn Wildschweine Flächen umpflügen und deshalb muss man schon auch Kompromisse eingehen, um Schäden im Umfeld mit zu minimieren und auch weiterhin eine hohe Akzeptanz zu haben.
Autor: Ist es manchmal schwierig... man will auf der einen Seite die Umwelt neu beleben, will die Umwelt schützen und muss sich sie aber eben mit ganz menschlichen Dingen, wie Arbeitsplätzen, Wirtschaftskraft usw. in Verbindung bringen. Widerspricht sich das nicht manchmal?
Manfred Großmann: "In gewisser Weise schon, aber ich glaube, dass es hier im Hainich gut gelöst ist, weil auch alle Akteure im Tourismus und in den Gemeinden akzeptieren, dass es nicht sein kann, dass durch den Tourismus das Gut, was wir schützen wollen, hier beeinträchtigt wird. Und das steht ja auch im Gesetz drin. Erholung und Umweltbildung möglich, soweit es der Schutzzweck im Übrigen erlaubt. D.h. der oberste Schutzzweck ist die ungestörte Entwicklung."
Dass es hier eine schützenswerte Wildnis gibt ist paradoxerweise dem Militär zu verdanken. Früher rollten hier Panzer, heute sind es Reisebusse.
Roland Bärenklau und sein Border Collie Peggy haben die Schafherde im Griff. Wir treffen uns auf der Wiese neben dem Parkplatz Kindel. Der liegt im Süden des hufeisenförmigen Nationalparks Hainich. Direkt an der Bundesstraße, nahe eines Flugplatzes. Von hier sind es noch gut vier Kilometer bis zum Waldrand. Vier Kilometer saftig-grüne Wiesen. Hier grasen die Schafe von Roland Bärenklau.
Der Schäfer Roland Bärenklau
Der Schäfer Roland Bärenklau© Johannes Nichelmann
Autor: Ihr Job ist die Landschaftspflege - wovon ich einige ausgewachsene Herdenmitglieder durch meine Anwesenheit allerdings gerade abhalte.
Roland Bärenklau: "Die gucken auf die hellen Schuhe, die denken, das ist Salz. Salzlecksteine."
Autor: Oha! Ich hab weiße Turnschuhe an. Oh Gott, die Schafe haben es auf meine weißen Schuhe abgesehen. Also man darf niemals mit weißen Schuhen...
Roland Bärenklaus Gesicht ist wettergegerbt. Er trägt mehrere Strickjacken übereinander, dazu eine Weste. Es ist ein kalter, nasser Tag. Kein ideales Wetter für die Schafe. Aber er ist froh, dass sie noch hier sind. Lange Zeit war es ungewiss, wie der Nationalpark das Leben des Schäfers beeinflussen würde.
Autor: Als dann die Pläne kamen, das hier zum Nationalpark zu machen, was haben Sie damals gedacht?
Roland Bärenklau: "Ja, ich habe erst mal an meine Existenz gedacht! Ich hab gedacht, was kommt jetzt auf mich zu? Ja. Da durften wir erst, hatte ich über hundert Hektar bekommen und immer wieder wurde es weniger und dachte ich, meine Fresse, ich bin ganz ehrlich. Ich habe nichts anderes gelernt. Ich kann nichts anderes. Nach der Wende, erst war ich in der LPG Stockhausen als Schäfer tätig und die Wende kam und dann stehst du erst mal vor einem Problem. Was willst Du machen? Die haben die Schafe sofort abgeschafft, das war ja das erste. Die wurden damals verplempert für fünf Euro das Stück! Sind die in die alten Bundesländer gegangen. Die Händler, die lachen heute noch über so einen Unsinn, was da betrieben worden ist.
Da bin ich kurz entschlossen in die alten Bundesländer und habe für fünfzig Euro oder für fünfzig Mark die Schafe wieder zurückgekauft. Ich habe Kredit aufgenommen, ich musste von der ehemaligen LPG damals den Stall kaufen. Grund und Boden, also ich hatte 160.000, um nicht drum herum zu reden, Kredit. Das war schon eine harte Nuss. Man wusste ja nicht was kommt. Also ich war schon skeptisch.
Und ich hoffe, dass das, ich gebe ja jetzt meinen Betrieb ab, ab ersten Januar, dass das wenigstens so bleibt, dass man diese Flächen weiter behalten darf. Denn sonst ist die Existenz weg."
Autor: Wen haben Sie denn gefunden, der den Betrieb übernimmt?
Roland Bärenklau: "Unser Sohn übernimmt den Betrieb. Schwiegertochter und der Sohn, die wollen da weitermachen. Ich sag gut, bin ich ganz stolz drauf, dass das..."
Autor: Ja, glaub ich!
Roland Bärenklau: "Dass wäre ganz schlimm, wenn die Schafe wegkämen."

Als die Nationale Volksarmee im Hainich übte

Die Skepsis sei inzwischen gewichen, die Zusammenarbeit mit dem Nationalpark eng – erzählt Roland Bärenklau. Er hat die letzten vierzig Jahre hier als Schäfer erlebt und berichtet von der Zeit, als die Westgruppe der sowjetischen Armee und die Nationale Volksarmee der DDR im Hainich übten. Als im Jahr 1992 die sowjetischen Truppen abzogen wurde das Gelände sich selbst überlassen. Bis zum Jahr 2013 barg man insgesamt knapp 86.000 Kilogramm Kampfmittel.
Roland Bärenklau: "Wo die hier oben mit den Panzern gefahren sind, da hab ich auch hier so gestanden. Da sind die hier an mir vorbei gezischt, da... hier sieht man ja die Spuren. Das sind immer die Panzerwege."
Autor: Hier sieht man so eine kleine Rille im Gras noch.
Roland Bärenklau: "Dort ist der nächste, der Hubbel, immer so 40 Meter auseinander und da sind die vom Flugplatz, hier hinten ist der Flugplatz, da sind die gestartet und hier hinten und dann haben sie nach dort, nach den Norden geschossen."
Auch Helge Graßhoff ist hier aufgewachsen. Der 56-Jährige hat fast sein ganzes Leben im Hainich verbracht. Nur einmal hat er überlegt wegzuziehen, für seine Frau. Am Ende haben sie sich doch für den Hainich entschieden. Und es nie bereut.
Der Ranger Helge Graßhoff
Der Ranger Helge Graßhoff© Johannes Nichelmann
Autor: Wie hat man das gespürt, dass hier die Armee ist?
Helge Graßhoff: "Ja, das war erst einmal durch die, wenn sie geschossen haben, durch die Lärmbelästigung. Und das man da halt nicht in den Wald konnte. Das waren ja hier zwei große Schießplätze. Hier in dem Bereich, wo wir uns jetzt befinden, hat damals die NVA geschossen. War halt typisch, wenn es hieß von 9 bis 16 Uhr ist schießen, dann war von 9 bis 16 Uhr schießen. Die haben geschossen, wann sie wollten und haben auch geschossen mit den Sachen, die sie wollten. Heißt, es gab keine Übungsmunition. Die haben halt alles mögliche ausprobiert."
Autor: Das heißt, es hat ordentlich gewummst bei Ihnen im Ort.
Helge Graßhoff: "Ja, man sagte immer, hier muss man, wenn man baut, alles eine Nummer größer nehmen. Egal, einen größeren Nagel, eine größere Schraube, dass das halt hält, die Sache, die man vorhat zu bauen."
Autor: Es gab echt Erschütterungen richtig?
Helge Graßhoff: "Ja, natürlich. Wenn sie mit einem Panzer geschossen haben, dass war natürlich schon eine Geräuschkulisse ja und auch die Erschütterungen. Das hatte man gespürt."
Autor: Das waren ja aufregende Stunden dann von 9 bis 16 Uhr bei Ihnen.
Helge Graßhoff: "Ja, das war ja die eine Seite. Aber dann 18 Uhr oder 20 Uhr haben sie das Nachtschießen angefangen."
Autor: Ach so. Natürlich.
Helge Graßhoff: "Das ging dann wieder bis 6 Uhr."
Helge Graßhoff, ein kräftiger Typ mit grauem Vollbart, war damals Waldarbeiter - schlug Schneisen in den Wald, bekämpfte Schädlinge und entfernte Totholz. Er gehörte zu den wenigen Zivilisten, die Zugang zu der militärischen Sperrzone hatten. Nach der Wende, als die Pläne für den Nationalpark bekannt wurden, hatten viele Bürgerinnen und Bürger Angst. Würden sie wieder aus ihrem Hainich ausgesperrt werden? Und wie sollte es für die Forstarbeiter weitergehen? Helge Graßhoff wurde, wie viele seiner Waldarbeiter-Kollegen, Ranger. Mitarbeiter der Nationalparkwacht. Übrigens arbeiten hier bis heute nur Männer in dieser Funktion.

Nationalparkt hat 200 Arbeitsplätze geschaffen

Helge Graßhoff unterstützt Forschungsprojekte, achtet darauf, dass nichts Ungesetzliches geschieht und führt Besucherinnen und Besucher herum. Laut einer Studie aus dem Jahr 2007 wurden durch die Errichtung des Nationalparks 200 Vollzeitarbeitsplätze geschaffen, vor allem im Tourismus.
Autor: Wie war das für Sie? Der Wechsel von der einen Seite auf die andere Seite quasi. Vorher haben Sie die Bäume abgeschlagen, jetzt passen Sie auf, dass nichts passiert.
Helge Graßhoff: "Das war nicht ganz einfach, da war Umdenken nötig. Denn von der Holznutzung dann die Bäume stehen lassen und dann beobachten, wie sie sich entwickeln, wie sie wachsen, wie sie zusammenbrechen, was dann passiert. Das war dann schon interessant. Passiert mir aber heute immer noch, dass wenn man durch den Wald geht, dass ich mal gucke, wie könnte er fallen, was könnte man daraus machen?"
Autor: Ja.
Helge Graßhoff: "Das steckt immer noch drinnen, wenn man das jahrelang gemacht hat."
Autor: Bleiben wir hier mal ganz kurz stehen. Ich sehe hier viel grün. Eine Schneise, die sich hier durch... junge Bäume, die hier wachsen. Was sehen Sie?
Helge Graßhoff: "Ich kenne die Schneise noch, die haben wir aufgeschlagen, das war ein Weg, man sieht das noch, wie der hier rausgeht. Den wir selber immer noch forstlich genutzt haben, um Holz zu bergen, an die Straßen zu bekommen, dass das abgefahren werden konnte. Mittlerweile, wie Sie sagen, jede Menge Grün. Bäume wachsen nach, wo Licht an den Boden kommt. Gell. Man weiß nicht in wie vielen Jahren, fünfzig, hundert Jahren, da sieht man das nicht mehr, die Schneise."
Ob bis dahin auch die anderen Spuren der menschlichen Waldnutzung verschwunden sind? Bei meiner Wanderung mit dem Nationalparkleiter Manfred Großmann, präsentiert der mir die letzten Zeugen der militärischen Nutzung.
Manfred Großmann: "Wenn man jetzt hier die Buche anschaut, von der Seite, wo wir herkommen, hat sie ganz normale Rinde. Schön glatt und jetzt gehen wir mal um den Baum herum. So und jetzt gucken Sie mal, wie hier die Buche in einer Höhe von zehn, fünfzehn Metern so viele kleine Wunden aufweist, also Rindenverletzungen. Da ist Splitter vom Beschuss rein und das ist halt langsam wieder verwachsen. Warum von der Seite? Weil halt von der Seite der Beschuss gekommen ist."
Autor: Ach spannend, das ist so richtig ein vernarbter Baum!
Manfred Großmann: "Genau. Jetzt zeig ich Ihnen dann noch einen Baum..."
Autor: Jetzt Querfeldein...
Manfred Großmann: "Hier steckt noch dann die Spitze einer Panzerfaust, eines Projektils, was vom Übungsplatz her kommt."
Autor: Ein Reh? Wo?
Manfred Großmann: "Ja, ist gerade über den Stamm hinten weg."

Der Wald wird mehr von Tieren als von Menschen beeinflusst

Der Nationalpark Hainich in Thüringen wird zwar von Menschenhand wenig beeinflusst, dafür umso mehr aber von den vielen Tierarten, die hier leben. Nationalparkleiter Manfred Großmann und ich haben jetzt am späten Nachmittag nur das Reh vorbeihuschen sehen. Mir fällt die Ruhe auf, die über allem liegt. Kaum ein Vogel ist zu hören.
Manfred Großmann: "Wir sind jetzt im Oktober. Die Zeit des Vogelgesangs ist früher, um das Revier zu markieren und die Balzgesänge hört man dann. Das ist einfach im Herbst recht ruhig."
Autor: Aber sie sind da! Sie schauen auf uns herunter...
Manfred Großmann: "So ist es ja. Es sind fast 200 Vogelarten hier im Nationalpark nachgewiesen. Was natürlich besonders charakteristisch ist für den Wald sind die Spechte. Es gibt hier sieben Spechtarten im Nationalpark - also alle sieben - die in Thüringen auch vorkommen. Und die größte Spechtart ist der Schwarzspecht. Der zweitgrößte Specht weltweit und der hat hier einige Brutplätze und man kann seine Höhlen gut erkennen. Ich schau gerade mal rum, wir werden dann noch einen Baum sehen, wo er seine Bruthöhle angelegt hat. Moment..."
Jetzt gucken Sie mal zur Seite. Da einigermaßen kann man es vielleicht erkennen. Da sehen Sie so auf Höhe, so in zehn Meter Höhe, da sehen Sie einige Öffnungen. Da gibt’s mehrere Höhlen. Oben da sieht man es am Besten. Darüber noch, so diese ovale Öffnung! Das ist die Höhle von einem Schwarzspecht.
Autor: Ah... wie im Bilderbuch, ne?
Manfred Großmann: "Absolut! Und man spricht auch von so einem Baum von einem Flötenbaum. D.h. der ist jetzt hier innen hohl, hat der Pilz auch schon Hohlräume geschaffen und das ist dann natürlich einfacher für den Specht dort Höhlen anzulegen. Kann sein, dass da mehrere Höhlen übereinander sind. Deshalb, wie bei so einer Flöte mit den Öffnungen."
Der Specht aber scheint im Moment ausgeflogen zu sein. Wären wir früh am Morgen gekommen, hätten wir vermutlich viele Waldbewohner antreffen können. Tiere, die schon früher hier heimisch waren und solche, die erst später eingewandert sind.
Manfred Großmann: "Wenn wir jetzt hier drüben diese Buche sehen mit dem Schlitz, da haben wir in den Anfangsjahren, jetzt die letzten Jahre nicht mehr, wenn man da im Frühjahr vorbeigekommen ist, da hat immer ein Waschbär rausgeschaut. Der hat dort seine Jungen großgezogen."
Autor: Ich hab auch gelesen, dass Sie Luchse hier irgendwo mal entdeckt haben, die sich hier wieder angesiedelt haben.
Manfred Großmann: "Der Luchs ist eine Art, die von Natur aus auch hier vorkommen würde. Über viele Jahrzehnte in Deutschland komplett verschwunden war und hier im erweiterten Umfeld, sag ich jetzt mal, im Harz vor rund 15 Jahren, Anfang der 2000er Jahre wieder ausgesetzt worden ist. Gab es eine Auswilderungsaktion und wohl vom Harz ausgehend, von der dortigen Population, die sich jetzt mittlerweile auch in freier Wildbahn wieder fortpflanzt, streifen gelegentlich hier Luchse durch den Hainich. Der erste Nachweis gelang 2014. Seitdem immer wieder mal einzelne Tiere. Aber bisher noch kein Fortpflanzungsnachweis."

Wenn man plötzlich einen Luchs sieht

Auch der Schäfer Roland Bärenklau hatte schon Bekanntschaft mit dem Luchs.
Autor: Ihre erste Begegnung mit dem Luchs, wie war die?
Roland Bärenklau: "Da war ich überrascht! Die war hinten, hab ich Schafe gehütet, unser Sohn war mit dabei und da spricht der, Mensch, hier ist ein Luchs. Ich hab mich da auch persönlich gefreut. Hab mich da wirklich gefreut. Ein Luchs ist doch was schönes."
Autor: Wie sieht so ein Luchs aus? Wie groß ist der? Wie kann ich mir den vorstellen? Im echten Leben.
Roland Bärenklau: "Ungefähr so wie der..."
Autor: Wie Peggy.
Roland Bärenklau: "Wie Peggy, genau. Wie so ein mittlerer Altdeutscher Schäferhund oder Border Collie so. Diesen Winter war er ja unten bei uns an der Ortschaft. Hab ich sofort hier beim Nationalpark angerufen. Ich sag, hier läuft ein Luchs rum. Und der ist immer noch da. Der Jäger hört ihn immer abends, wenn er auf dem Hochsitz, da bellt der oder was der da macht. Der (Luchs) läuft das ganze Jahre hier unten, den sieht man öfters und da hab ich kein Problem mit den Schafen. Wenn das so bleibt, sind wir ganz zufrieden. Ich meine, der Luchs ist schon eine Bereicherung. Das ist schon in Ordnung."
Autor: Es gibt keine Lebewesen im Wald, die Ihre Schafe reißen könnten?
Roland Bärenklau: "Auf keinen Fall."
Autor: Oh, ein kleines Lämmchen. Wie alt ist das?
Roland Bärenklau: "Vier Tage. Das ist eine kleine Burenziege."
Bereits zu Militärzeiten, erzählt der Schäfer, gab es hier ein besonders scheues und wildes Tier. Die Wildkatze. Sie ist ein bisschen größer als die Hauskatze und hat einen geringelten Schwanz. Ansonsten sehen sie sich sehr ähnlich. Ranger Helge Graßhoff ist in den letzten Jahren zum Experten geworden. Um mehr über die Tiere herauszufinden, hat er gemeinsam mit einem Forscher, Pfähle mit aufgerautem Holz aufgestellt und sie mit Baldrian beträufelt. Ein Lockstoff für die Katzen, die sich an den Pfählen reiben und ihre Fellhaare hinterlassen. So kann die DNA der Tiere bestimmt werden. Jetzt wissen wir: hier leben zwischen 60 und 70 Wildkatzen.
Helge Graßhoff: "Da hab ich angefangen ein paar Foto-Fallen aufzuhängen. Mittlerweile mache ich das seit zehn Jahren. Hab über tausende Bilder von solchen Wildkatzen. Das war natürlich was besonderes damals. Man hatte ja die Katzen, die sie gefangen haben, hatten sie ein bisschen dokumentiert oder wenn man mal Tot-Funde hatten. Aber so richtige Bilder von Katzen gab’s noch nicht.
Muss man mal ein bisschen gucken... So.
Das erste Bild war eigentlich vor Jahren, da hatte ich mal in so einen hohlen Apfelbaum Junge entdeckt. Da waren drei Junge drinne. Hier."
Autor: Ja...
Helge Graßhoff: "Leider waren sie dann am nächsten Tag verschwunden. Wir wollten da noch ein paar gescheite Bilder machen. Aber das waren so die ersten."
Autor: Perfekt getarnt, so wie die Rinde, sehen die aus.
Damit Besucher die Wildkatzen nicht nur auf dem Smartphone des Rangers bestaunen müssen, gibt es im Süden des Parks ein Wildkatzendorf. Vier Tiere leben dort in Gehegen. Marketing für das Erlebnis in der Wildnis.

Deutschland ist von Natur aus ein Waldland

Nationalparkleiter Manfred Großmann und ich wandern seit fast drei Stunden durch den Wald, bleiben vor einer mächtigen Buche stehen. Auf Brusthöhe hat sie einen Durchmesser von gut einem Meter.
Autor: Wie hoch ist der Baum?
Manfred Großmann: "Der hat jetzt vielleicht gut 35 Meter, vielleicht knapp 40 Meter. Das ist schon ganz ordentlich. So die höchsten Bäume, die wir hier im Hainich haben, eine Esche, die hat 47 Meter. Hat man mal gemessen. Recht viel höher werden hier die Bäume nicht, bzw. wir werden einfach mal sehen, was sich dort die nächsten paar hundert Jahre tut."
Unsere Wanderung durch den Hainich nährt sich dem Ende. Immer wieder fallen mir umgestürzte und teils mit Moos bedeckte Grenzsteine auf. Die schwer zu entziffernden Jahreszahlen darauf stammen zum Teil aus dem 16. Jahrhundert. Sie haben damals die Besitzverhältnisse deutlich gemacht.
Manfred Großmann: "Wir kommen jetzt in den Bereich der Hünenburg, einer mittelalterlichen Fliehburg. Das sieht man hier vielleicht noch gar nicht so, aber wir kommen gleich an einen ehemaligen Wallgraben und eine kleine Umrandung. Dahinten stand vielleicht so was kleines, wie ein Turm. Das war wahrscheinlich so was wie ein Zufluchtsort im Wald."
Bald wird es dunkel. Manfred Großmann und ich verlassen die Wildnis. Er fährt zurück in das nahegelegene Bad Langensalza, ich nach Berlin. Hätten wir vor ein paar hundert Jahren gelebt, hätte ich gar nicht den weiten Weg machen müssen, um so ein großes, wildes Waldgebiet zu betreten.
Manfred Großmann: "Deutschland wäre von Natur aus ein reines Waldland, wo es nur ganz, ganz wenige Stellen gäbe, wo der Wald nicht wachsen würde. Das wäre natürlich im unmittelbaren Wattenmeer-Bereich, im Überschwemmungsbereich oder natürlich oberhalb der Waldgrenze oder an Felsstandorten. Aber da reden wir von ein, zwei Prozent der Waldfläche Deutschlands auf diesen Sonderstandorten. Ansonsten wären weit über 90 Prozent der Fläche Deutschlands wäre eben ein Wald und zwar überwiegend ein Laubwald, von der Buche dominiert."
Autor: Dass heißt, Frankfurt am Main wäre weg, Köln wäre weg, Sachsen-Anhalt wäre auch weg?
Manfred Großmann: "Klar! Wir haben uns auf Kosten des Waldes breit gemacht. Ist auch nachvollziehbar, ist auch nicht mehr rückgängig zu machen. Wir brauchen ja auch Lebensraum für Siedlungen und für Äcker und Wiesen. Aber was uns halt gelingen sollte und das ist mit den Nationalparken denke ich ein sehr guter Ansatz, dass es Flächen gibt, wo sich Wald wieder ungestört entwickeln kann."
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