Thordis Elva/Tom Stranger: "Ich will dir in die Augen sehen"

Das Unfassbare verarbeiten

Cover Thordis Elva/Tom Stranger: "Ich will dir in die Augen sehen – Eine Frau trifft den Mann, der sie vergewaltigt hat"
Thordis Elva berichtet von der Wiederbegegnung mit ihrem Vergewaltiger. © Knaur Verlag / dpa / Deutschlandradio
Von Susanne Billig · 07.04.2017
Die Isländerin Thordis Elva ist 16, als sie von ihrem Freund, dem Australier Tom, vergewaltigt wird. Jahrelang ist sie traumatisiert, bis sie eines Tages beschließt, ihren Vergewaltiger zu treffen, ihm zu vergeben und so die Opferrolle abzulegen. Das Buch "Ich will dir in die Augen sehen" schildert diese aufwühlende Begegnung.
Ist es möglich, unbeschadet den eigenen Vergewaltiger wieder zu treffen, nicht nur für einen unfreiwilligen kurzen Moment, sondern für eine lange Woche, mit diesem Mann spazieren zu gehen, ihm von den bleibenden Wunden und Narben durch die Gewalttat zu erzählen und seine Lebensgeschichte zu hören, ihn zu verstehen und ihm schließlich sogar zu verzeihen?
In ihrem Buch "Ich will dir in die Augen sehen" schildert die Journalistin Thordis Elva genau das – eine wahre Geschichte, die in ihrer isländischen Heimat und im englischsprachigen Raum bereits für großes Aufsehen sorgte.
Bis Thordis Elva in ihrem Buch berichtet, was genau an jenem Abend passierte, dauert es viele Seiten. Ist es Distanzlosigkeit, Sensationslust, der Wunsch nach Aufklärung und Wahrheit? Mit einem mulmigen Gefühl ertappt man sich dabei, gespannt auf diese Beschreibung zu warten, wie das Buch überhaupt immer wieder dazu zwingt, sich mit eigenen Projektionen, Bedürfnissen und Grenzen auseinander zu setzen.
Dann geschieht es: Zwei Stunden lang vergewaltigte der betrunkene 18-jährige Tom die noch viel betrunkenere 16-jährige Thordis in ihrem Zimmer. Tom hatte versprochen, das Mädchen nach einer Party nach Hause zu bringen und sich um sie zu kümmern.

Jahrelang traumatisiert

Der junge Australier war Thordis erste große Liebe; erst wenige Tage zuvor hatte sie das erste Mal mit ihm geschlafen, eine Begegnung voller Zärtlichkeit, die sie gerne wiederholt hätte.
Statt dessen vergewaltigte Tom sie so brutal, dass ihre Beine wochenlang von der Hüfte bis zu den Knien voller Blutergüsse waren, sie nicht mehr richtig gehen konnte und sie so sehr traumatisierte, dass sie sich noch Jahre später die Arme aufritzte und in Drogenexzessen versackte.
Aus literarischer Perspektive hat Thordis Elva etliche nicht so gute Entscheidungen getroffen. Die erste Hälfte der Lektüre bleibt ohne Sog, weil sich die Begegnung der Protagonisten im Kreis dreht, ohne dass man daraus eine Leseerfahrung oder Erkenntnis ableiten könnte.
Nebensächliche Unterhaltungen und Erinnerungen füllen Seite um Seite, wo man viel lieber vom Sachwissen der Autorin partizipiert hätte, denn in Island gilt sie längst als Expertin für das Thema Vergewaltigung. Ihr reiches Hintergrundwissen lässt sie jedoch zugunsten der eben nur halb gelungenen literarischen Aufbereitung ihrer Biografie leider fast ganz unter den Tisch fallen.

Mächtig, aufwühlend und menschlich so groß

Doch dann macht die zweite Hälfte des Buches diese Mängel so fulminant wett, dass man der Autorin das alles nachsieht. Wie Thordis und Tom einander in die Tiefe der Begegnung lotsen, wie sie sich selbst und dem anderen nichts, aber auch gar nichts ersparen, wie sie auf jede Oberflächlichkeit und jede Fluchtbewegung verzichten, so mutig, wie sich die Machtverhältnisse umkehren, weil es am Ende Tom ist, der, von Schuldgefühlen geschüttelt, es kaum schafft, die Vergangenheit loszulassen, während Thordis ihm längst vergeben könnte:
Das ist mächtig, aufwühlend und menschlich so groß – von ihr wie von ihm –, dass sich die Frage nach einem besser geschriebenen Text nicht mehr stellt.

Thordis Elva/Tom Stranger: "Ich will dir in die Augen sehen – Eine Frau trifft den Mann, der sie vergewaltigt hat"
übersetzt von Charlotte Breuer
Knaur Verlag, München 2017
352 Seiten, gebunden, 19,99 Euro

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