Thomas Schmid über das fehlende Gedenken an den Tag der Befreiung

"Darin steckt eine Unachtsamkeit"

Der Journalist und Publizist Thomas Schmid 2012 auf der Frankfurter Buchmesse.
Der Journalist und Publizist Thomas Schmid 2012 auf der Frankfurter Buchmesse. © dpa / picture-alliance
Thomas Schmid im Gespräch mit Anke Schaefer |
Der Journalist Thomas Schmid findet es falsch, dass Deutschland in diesem Jahr den Tag der Befreiung nicht mit einem offiziellen Festakt begeht. Der 8. Mai sei nach von Weizsäckers eindringlicher Rede 1985 ein fester Bestandteil des Gedenkprogramms der Bundesrepublik gewesen, so Schmid.
Kriegsende und Befreiung vom Nationalsozialismus – der 8. Mai 1945 markiert eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Das Ende des Zweiten Weltkriegs wurde von den Alliierten gefeiert und löste damals in der deutschen Bevölkerung gemischte Gefühle aus. Die einen begrüßten das Ende des faschistischen Regimes, andere bedauerten, den Krieg verloren zu haben. Der Journalist und Publizist Thomas Schmid war als junger Mann in der 68er-Bewegung aktiv, er erinnert sich genau an das politische Klima im Nachkriegsdeutschland:
"Es hat ziemlich lange gedauert, bis dieser Tag in Deutschland auch als Tag der Befreiung wahrgenommen wurde. Der ehemalige Bundeskanzler Adenauer, alle haben immer gesagt: Nein, das hat mit Befreiung nichts zu tun, das wird nicht gefeiert, das war ein Tag der Niederlage."

Weizsäckers Rede von 1985 brachte die Wende

Das habe sich erst geändert, als Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 eine Rede hielt, in der er deutlich machte, dass der 8. Mai 1945 nicht nur ein Tag der Zerstörung und der Niederlage gewesen sei. Richard Weizsäcker sagte damals:
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai überhaupt erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen, sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen."
Richard von Weizsäcker bei seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8.5. 1985 in Bonn.
Richard von Weizsäcker bei seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8.5. 1985 in Bonn.© AP
Das was Richard von Weizsäcker damals gesagt habe, seien eigentlich Selbstverständlichkeiten gewesen, erklärt Thomas Schmid und bedauert, dass sich erst in den 80er-Jahren die Wahrnehmung in der deutschen Gesellschaft geändert habe.
"Nach Richard von Weizsäckers Rede wurde der 8. Mai tatsächlich ein Tag, der fest sozusagen im Gedenkprogramm der Bundesrepublik Deutschland stand. Und das hat sich jetzt allmählich wieder verloren. Und ich finde darin steckt eine Unachtsamkeit."
Thomas Schmid kritisiert, dass die Bundesregierung, aufgrund dessen, dass das deutsche Parlament gerade keine Sitzungswoche hat, in diesem Jahr gar keinen Festakt begeht.

Russland feierte den Sieg über Deutschland von Anfang an

In Russland gestaltete sich die Erinnerung an den Tag der Kapitulation der Wehrmacht von Anfang an anders: Als 1945 der Kapitulationsvertrag in der späten Nacht Kraft getreten sei, sei in Moskau bereits der 9. Mai gewesen, weswegen man den Tag der Befreiung traditionell am 9. Mai feiere. Während es den Deutschen lange Zeit schwer gefallen sei, das Kriegsende zu feiern, habe es in Russland diese Ambivalenz nicht gegeben:
"Russland hat in diesem Krieg durch die deutsche Wehrmacht ungeheure Verlust entgegennehmen müssen, gerade auch die Zivilbevölkerung. Und die rote Armee hat beweisen können, dass sie mit dazu beitragen konnte, dieses nationalsozialistische Deutschland niederzuwerfen. Das ist natürlich ein Tag der Befreiung."
Russian military cadets march on Dvortsovaya Square in St. Petersburg, Russia, 26 April 2016, during a rehearsal of the military parade that will take place on the square on 09 May to commemorate the victory of the then Soviet Union's Red Army over Nazi-Germany in WWII.
Russische Militärkadetten üben für die traditionelle Siegesfeier am 9. Mai © dpa / picture alliance / Anatoly Maltsev

Nach dem Kriegsende wollte man erstmals in ganz Europa Frieden

Auch wenn der 8. Mai 1945 in den verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen wurde, hatte das Kriegsende zufolge, dass erstmals ein gesamteuropäisches Interesse entstand, friedlich miteinander zu leben.
"Das ist ja gerade das außerordentlich Spannende, dass dieses Europa, das bis 1945 über Jahrhunderte hinweg die einzelnen Staaten sich ständig bekriegt und bekämpft haben, auch aufgrund dieser niederschmetternden Erfahrung zu der Überzeugung gekommen sind: Nein, wir müssen einen anderen Weg beschreiten und uns zusammentun."
Doch während die westeuropäischen Staaten 1945 die Befreiung vom Nationalsozialismus feierten, bedeutete das Kriegsende für die Menschen in Osteuropa zugleich den Sieg der Sowjetunion und 40 weitere Jahre Unfreiheit. Auch das dürfe man nicht vergessen, betont Thomas Schmid.
(mw)

Thomas Schmid ist ein deutscher Journalist und Publizist. Er war Aktivist der 68er-Bewegung und gab einige Jahrzehnte später "Die Welt" heraus. Er ist Autor mehrere Bücher und veröffentlichte 2016 "Europa ist tot, es lebe Europa! Eine Weltmacht muss sich neu erfinden".

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