Thomas Ostermeier zu Gelbwesten

"Wir als Linke haben uns das selber zuzuschreiben"

Gelbwesten demonstrieren in Paris auf den Champs Elysees.
Der Gelbwesten-Bewegung schlägt eine Menge sozialer Verachtung entgegen. Intellektuelle wie Éduard Louis halten das für falsch. © Leon Tanguy/MAXPPP/dpa
Thomas Ostermeier im Gespräch mit Vladimir Balzer · 06.12.2018
Trotz Chaos und Gewalt erfährt die Gelbwesten-Protestbewegung viel Unterstützung in Frankreich – auch von Intellektuellen. Der Theaterregisseur Thomas Ostermeier beobachtet die Proteste derzeit aus nächster Nähe und hat Verständnis für den Unmut.
Vladimir Balzer: Ehrlich gesagt, das klingt fast nach einer Armee, was da in Frankreich am Wochenende aufgeboten werden soll: Fast 90.000 Sicherheitskräfte werden zusammengezogen, der Eiffelturm schließt, zahlreiche weitere Einrichtungen. Ein Land, ja, de facto in einem Ausnahmezustand. Alles wegen der Gelbwesten, die schwer zu kontrollierenden Protestler gegen Macron und seine Reformen. Nach Umfragen unterstützen zwei Drittel der Franzosen diese Proteste, auch immer mehr Intellektuelle, oder zumindest zeigen sie Verständnis dafür – wie zum Beispiel die Autoren Éduard Louis und Didier Eribon. Beide beschäftigen sich ja auch in ihrem Werk mit der sozialen Spaltung ihres Landes, beide wurden von Thomas Ostermeier auf die Bühne gebracht, Intendant der Berliner Schaubühne, gerade in Paris. Schönen guten Abend, Herr Ostermeier!
Thomas Ostermeier: Guten Abend!

"Unsere Betroffenheit ist etwas heuchlerisch"

Balzer: Wie geht es Ihnen denn selbst mit dieser Bewegung, die Sie ja nun vor Ort auch beobachten können, mit den Gelbwesten, mit dieser rohen Kraft, dieser Unorganisiertheit, auch diesem Hass und auch der Gewaltbereitschaft, die ja viele abschreckt.
Ostermeier: Alles nachvollziehbar. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich habe mich in den Jahren immer gewundert und ich wundere mich in Deutschland auch noch, warum die Leute, die seit zum Beispiel 20 Jahren keine reale Lohnsteigerungsentwicklung haben, wie das in Deutschland der Fall ist, warum die Leute das mit sich machen lassen und warum es noch so wenig ungeleiteten Hass oder ungeleitete Gewalt gibt. Das Problem, was viele westliche Gesellschaften haben, ist natürlich, dass wir erst mal von einer sozialdemokratischen Linken und einer gewerkschaftsnahen Linken oder einer sozialistischen Linken wenig zu erwarten hatten die letzten 20, 30 Jahre, und deswegen diese Bewegungen, weil es die Ungerechtigkeit gibt, weil es den Unmut gibt, weil es soziale Gewalt und Benachteiligung gibt, dass diese Bewegungen jetzt auf einmal ausbrechen und nachvollziehbarerweise ausbrechen. Ich glaube, wir haben uns das selber zuzuschreiben, und unsere Betroffenheit ist dann auch etwas heuchlerisch.
Balzer: Wer ist wir?
Ostermeier: Wir als Linke haben uns selber zuzuschreiben, wenn wir dann erschrocken sind über die rassistischen Töne in diesen Bewegungen und über die, ja doch, in Teilen sehr rechten Ideologien, die dann auf einmal da aufpoppen. Wir haben uns das selber zuzuschreiben, weil wir uns als eine Elite, eine Kulturelite oder auch eine politische Elite nicht mehr für die Anliegen dieser Unterprivilegierten, dieser Ausgebeuteten, nicht mehr zu einem Sprachrohr gemacht haben. Und dann wundert man sich oder dann darf man sich eigentlich nicht wundern, wenn das auf einmal völlig ungefiltert und mit roher Gewalt ausbricht. Das sind Menschen, die einfach nicht mehr können und die auch nicht mehr wollen und die in vielen Teilen, nicht in allen, aber in vielen Teilen, einen legitimen Unmut ausdrücken, der vielleicht uns in Deutschland auch noch begegnen wird.
Der Regisseur Thomas Ostermeier.
Der Regisseur Thomas Ostermeier ist Künstlerischer Leiter der Schaubühne Berlin© Deutschlandradio / Jana Demnitz
Balzer: Aber diese Proteste der Gelbwesten, ich habe es schon gesagt, die sind ja sehr roh, sie sind auch unformuliert, unartikuliert, haben eigentlich auch kein konkretes Ziel. Muss man nicht, wenn man protestiert, dennoch ein klares Ziel vor Augen haben?
Ostermeier: Nein, wenn man einen Punkt erreicht hat, wo man sich über Jahrzehnte verarscht gefühlt hat und auch von seinen Gewerkschaftsführern verraten gefühlt hat und auch von seiner parlamentarischen Linken verraten gefühlt hat, kann man jetzt nicht einfordern, Leute, wo sind denn eure Rädelsführer, wo sind denn eure Theorien, wo sind denn eure Anführer, mit denen wir ins Gespräch kommen können. Das hat man oft erlebt, wie diese Anführer dann die Bewegung verraten haben und deswegen sind sie so misstrauisch. Und das ist jetzt eben einfach eine ganz rohe, ungeleitete, soziale Bewegung, wie wir sie historisch schon öfter erlebt haben. Und wir als bürgerliche Klasse sind natürlich damit konfrontiert, dass wir einen Teil der Zielscheibe sind dieser Bewegungen, und da regiert natürlich auch eine gehörige Panik, dass man jetzt in das Schussfeld gerät. Aber Geschichte schreitet voran und hat manchmal eben auch etwas von Naturereignissen und nicht nur von politisch wohlüberlegten, taktischen, strategischen Verhaltensweisen. Aber wie gesagt, dass diese Bewegung so roh und so ungeleitet ist, hat ganz viel damit zu tun, dass da etwas nach vielen, vielen Jahren, auch was Éduard in seinen Büchern beschreibt und was Didier Eribon in seinen Büchern beschreibt, dass nach vielen, vielen Jahren, 20, 30 Jahren von Demütigung und Reformunfähigkeit jetzt etwas ungefiltert hochpoppt.

Bürgerkrieg nur durch Reform zu verhindern

Balzer: Aber sogar wenn man diese Wut verstehen kann, was ich jetzt aus Ihren Worten auch höre, muss man nicht dennoch auch – oder ist das jetzt spießig, bürgerlich – darauf bestehen, dass zumindest die körperliche Unversehrtheit von anderen Menschen gewahrt wird?
Ostermeier: Ja, natürlich…
Balzer: Soll Blut fließen? Ich meine, das können wir doch nicht wollen, oder?
Ostermeier: Na ja, gut, aber ich weiß nicht, in welchen Kreisen Sie die Diskurse in Ihrer Jugend verfolgt haben. Und in diesen Kreisen, wenn von Rebellion oder gar Revolution die Rede war, war ja nicht von einem Sonntagsspaziergang die Rede.
Balzer: Aber einige Gelbwesten drohen ja schon mit Bürgerkrieg.
Ostermeier: Na ja, überrascht es Sie?
Balzer: Ich möchte keinen Bürgerkrieg auf unseren Straßen haben. Also jeder Protest ist legitim, aber…
Ostermeier: Ja, ich möchte den auch nicht, bloß wir können den Bürgerkrieg nicht dadurch vermeiden, dass wir diese Leute ins Aus stellen, sondern wir können den Bürgerkrieg dadurch vermeiden, dass die Konflikte in unseren Gesellschaften endlich wieder durch eine wirkliche Reform unserer Gesellschaften auf eine neue Basis gestellt werden.

Umverteilung von unten nach oben

Balzer: Also Sozialreformen meinen Sie zum Beispiel?
Ostermeier: Ja, natürlich! Natürlich! Ich habe neulich eine Untersuchung gelesen, wo es einen Streit Ende der 60er-Jahre gab, ob denn jetzt ein VW-Manager oder ein höherer Leitungsangestellter bei VW sechs- bis achtmal mehr als der Fließbandarbeiter verdienen darf. Heutzutage verdienen diese Menschen bis zu hundertmal mehr. Das ist einfach eine so brutale Entwicklung in unseren Gesellschaften, eine Entwicklung der Umverteilung von unten nach oben. 50 Prozent des Reichtums in Deutschland wird von einem Prozent der Gesellschaft gehalten in Deutschland. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so. Wir haben, wie wir das durch eine andere Untersuchung gehört haben, wir haben Verhältnisse von sozialer Ungleichheit, wie wir sie zuletzt in Deutschland 1913 hatten.
Balzer: Sie sind Intendant, Sie sind Regisseur, Sie sind Künstler. Ästhetische Fragen, kann man die da noch stellen?
Ostermeier: Man kann solche Bewegungen nur begleiten, man kann sie weder beeinflussen, noch provozieren in dem Sinne, dass man sagt, jetzt machen wir mal so Theater, dass sich wieder was bewegt. Die wichtigen Auseinandersetzungen werden auf der Straße geführt und es gibt auch durchaus positive Beispiele. Ich bin seit der Unteilbar-Demo in Berlin wieder sehr viel optimistischer, was zum Beispiel die Zukunft Deutschlands anbelangt. Und die schlichte Tatsache, dass Leute auf der Straße sind, bedeutet zunächst erst mal nicht, dass Gefahr besteht, sondern das bedeutet, dass der Unmut so groß ist, dass man rausgehen muss. Und jetzt müssen wir Angebote machen, dass diese Bewegungen zu emanzipatorischen, progressiven Bewegungen werden und nicht verhaftet bleiben in alten Antworten.

Unzufriedene müssen sich repräsentiert fühlen

Balzer: Welche Kräfte könnten denn diese Energien jetzt aufnehmen? Wären das die Parteien noch?
Ostermeier: Mélenchon könnte das schon aufnehmen.
Balzer: Und in Deutschland, was ist mit Deutschland? Noch haben wir keine Gelbwesten auf den Straßen, aber ich habe es aus Ihren Worten gehört, auch hier gäbe es genug Grund, um wütend auf die Straße zu gehen.
Ostermeier: Ja, natürlich gäbe es genug Grund, aber es gibt eben auch leider in Deutschland Leute, die noch auf die Straße gehen, bloß für die falsche Sache, weil sie meiner Meinung nach die falschen Antworten geben, wie das im Falle von Pegida ist. Es ist multifaktoriell, warum diese Leute auf die Straße gehen. Aber ein Teil dessen ist auch, weil sie sich in der Politik nicht repräsentiert fühlen, weil sie sich nicht gehört fühlen, weil sie sich abgehängt fühlen und weil sie auch mit einer sozialen Situation zu tun haben, die nicht immer befriedigend ist.

"Nicht beteiligt zu sein, führt zu Gärungsprozessen"

Aber ich glaube schon, dass sich ein Spektrum zwischen Grünen, der Linken und der Sozialdemokratie darum Gedanken machen müsste, wie man diese Kräfte, diese Unzufriedenen, diese sich selber abgehängt fühlenden Menschen wieder einbinden kann und wie man sie zum Beispiel auch wieder repräsentieren kann – in beiden Bedeutungen des Wortes. Das heißt, wie man es hinkriegt, dass die zum einen das Gefühl haben, in einem Parlament repräsentiert zu sein. Und zum anderen, wie wir zum Beispiel auch wieder Erzählungen entwerfen können, die nicht nur von bürgerlichen Mittelschichtsproblemen handeln, sondern wie wir zum Beispiel auch einen sozial engagierten Film, den man aus Großbritannien kennt à la Ken Loach oder Mike Lee oder aus Belgien wie die Brüder Dardenne, wie man solche Wirklichkeiten wieder in den Film bringt und aufhört, Mitglieder dieser Schicht immer nur in Nachmittagstalkshows als alkoholkrank oder verfettet zu zeigen. Es gibt eine ganze Gruppe von Leuten in Europa, die in diesen Welten nicht mehr vorkommen darf, die in fiktionalen Erzählungen nicht mehr vorkommen darf.
Edouard LOUIS, Autor, waehrend der TV-Sendung "Das blaue Sofa" am 12.10.2017 auf der Frankfurter Buchmesse
In einem Text für Zeit Online hat der französische Schriftsteller Édouard Louis erläutert, warum er die Forderung der Gelbwesten nach sozialer Gerechtigkeit unterstützt.© imago stock&people
Und das ist, glaube ich, auch der entscheidende Schritt von Éduard Louis gewesen, dass er es geschafft hat, qua seiner Begabung, aber auch bestimmt seines jugendlichen Alters, diese Menschen wieder in fiktionale Zusammenhänge, also in Literatur, in engagierter Literatur der Gesellschaft zur Kenntnis zu bringen und nicht so zu tun, als ob die ganzen Menschen, die unsere Klos saubermachen, die unsere Sicherheitsdienste sind, die unsere Dienstleistungsjobs machen, die am Flughafen unser Gepäck checken und die in der gesamten Dienstleistungsgesellschaft, was uns ja immer als Ausweg gezeigt wird, unseren Dreck wegräumen, als würden diese Menschen nicht existieren. Die sind auch Teil dieser Gesellschaft, aber sie sind weder im Fernsehen oder im Kino oder auch im Theater repräsentiert, noch sind sie auf einer politischen Ebene repräsentiert. Und wenn die sozusagen das Gefühl haben, nur zuzuschauen, wie sich eine bürgerliche Gesellschaft als global und aufgeklärt und international verortet und amüsiert und es noch schafft – zum Teil gut, zum Teil auch schlecht, da gibt es natürlich dieselben Abstiegsängste in der bürgerlichen Mittelschicht –, aber nicht beteiligt zu sein an dieser Welt und nichts wert zu sein, das führt dann zu diesen Gärungsprozessen und das kann dann eben auch zu offenen Gewaltausbrüchen führen.
Balzer: Der Intendant der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier, in Paris gerade, über sich radikalisierende soziale Konflikte angesichts der Proteste der Gelbwesten. Vielen Dank für das Gespräch!
Ostermeier: Ja, ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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