Thomas Mann: "Der Erwählte"

Der unterschätzteste Roman des Nobelpreisträgers

06:33 Minuten
Das Cover des Buches "Der Erwählte" von Thomas Mann.
© Verlag S. Fischer

Thomas Mann

Der ErwählteS. Fischer, Frankfurt am Main 2022

864 Seiten

139,00 Euro

01.02.2022
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Inzest, Minnekrieg und andere Sünden: Thomas Mann erzählt im Roman „Der Erwählte“ eine drastische Büßerlegende aus dem Mittelalter, um am Ende sehr viel Gnade walten zu lassen. Die kommentierte Neuausgabe ist ein großer Gewinn für die Lesenden.
Thomas Manns Roman „Der Erwählte“, der jetzt als Abschlussband der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe seiner erzählerischen Werke neu erscheint, ist ein Buch ohne Schwächen und Längen. Mythische Vorlage ist Hartmann von Aues mittelalterliches Versepos „Gregorius“.
Die Herkunft des Helden ist überschattet vom Zwillingsinzest seiner Eltern. Seine Geburt findet in aller Heimlichkeit statt. Das Baby wird der göttlichen Fügung überlassen, ausgesetzt in einem Fässchen auf einem Kahn in der Nordsee.

Sünde des Inzests vervierfacht sich

Im Sturm vor einer kleinen Insel geborgen, wächst das mysteriöse Findelkind in einer Fischerfamilie auf. Der Abt des dortigen Klosters hält seine schützende Hand über Gregorius und lässt ihm eine geistliche Ausbildung angedeihen. Gregorius aber sehnt sich früh nach Heldentaten und Ritterehre.
In Brügge, auf der anderen Seite des Kanals, tobt seit Jahren ein verheerender Minnekrieg: Die schöne Herzogin Sybilla will sich nicht dem unerbittlichen Liebeswerben des haarigen Ritters Roger ergeben. Gregorius siegt über den Belagerer im Zweikampf und heiratet die über ihren Befreier entzückte Herzogin, ohne zu wissen, dass es sich um seine Mutter handelt.
Thomas Mann am Schreibtisch
Thomas Mann veröffentlichte seinen vorletzten Roman "Der Erwählte" im Jahr 1951.© imago images/glasshouseimages
Die Sünde des Inzests vervielfacht sich. Daraufhin verbringt Gregorius 17 Büßerjahre in tiefster Einöde auf einem kahlen Felsen mitten in einem See. Bis zwei hohe Männer in Rom eine Vision haben, den zerknirschten Mann ausfindig machen und zum neuen Papst küren.

Humoristisches Kontrastwerk zu "Doktor Faustus"

Vieles hat Mann an dieser Geschichte fasziniert: Die Mischung des Hochpathetischen mit dem Aberwitzigen, die kruden sexuellen Verwicklungen, das Thema des Narzissmus, der als spiegelbildliche Selbstliebe im Inzest wirksam ist und natürlich die Dialektik von Sünde und Gnade. Merke: Die Früchte der Sünde sind oft die vitaminreichsten.
Nach dem über weite Strecken verkniffen ersten „Doktor Faustus“, dem Großwerk der Goethe-Konkurrenz und Deutschland-Wehklage, hat der Autor mit dem 1951 erschienenen „Erwählten“ ein humoristisches Kontrastwerk geschaffen. Verspielt ist die Sprache, in die sich Mittelhochdeutsch, französische und lateinische Phrasen sowie ein plattdeutsch verballhorntes Englisch mischen – ein kurioses Cross-over-Idiom.
Mann lässt die Geschichte von einer Erzählerfigur aufschreiben, dem frommen irischen Mönch Clemens im Kloster zu St. Gallen. Der wahrt als „Geist der Erzählung“ eine heilsame Distanz zu den fleischlichen Wirrnissen des Lebens, um diese dann umso neugieriger zu erkunden, wenn auch mit einer ironisch vorgeschützten Unzuständigkeit. Gerade die Komik der Geschichte ermöglicht es Mann, ernste Themen wie die Gnadentheologie fruchtbar zu machen, ohne dass es je frömmelnd wirken würde.

Sünder, der Papst wird

Der ergiebige Kommentarband ist ein Gewinn für alle Leser, die sich für die Hintergründe und Kontexte des Romans interessieren. Besonders spannend sind die hundert Seiten über die Rezeptionsgeschichte. In Westdeutschland wurde der Emigrant und Antifaschist Thomas Mann stark angefeindet; alte Ressentiments verbanden sich mit neuen Aversionen. In der DDR, die den Literaten sonst zu huldigen pflegte, konnte man mit der religiösen Motivik des Romans nichts anfangen. Er erschien dort mit 34 Jahren Verspätung erst 1985.
Der bis heute am wenigsten bekannte und am meisten unterschätzte Roman Thomas Manns ist einer seiner schönsten. Die Geschichte vom Sünder, der schließlich Papst wird, wirkt gerade heute erfrischend. Nicht nur, weil wir soeben einen Ex-Papst als Sünder erlebt haben, sondern auch, weil es derzeit ein Übermaß an moralisierender Selbstgerechtigkeit gibt. Etwas mehr Gnade, Humor und Duldsamkeit gegenüber den Irrgängen, Verfehlungen und Abgründen des Lebens, diese Essenzen des Romans sind auch für den täglichen Gebrauch zu empfehlen.

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