Thomas Hürlimann

Von Tobias Wenzel · 02.09.2013
Inwiefern hat der Friedhof aus Thomas Hürlimann einen Schriftsteller gemacht? Wieso hat er keine Angst mehr vor seinem eigenen Sterben? Und warum verbindet er mit Leichenwasser etwas Schönes?
Es hat aufgehört zu regnen. Thomas Hürlimann, Jahrgang 50, grau melierter Vollbart, hohe Stirn, hat sein Auto direkt neben dem alten Eingang des Zuger Friedhofs geparkt. Nur wenige Schritte über einen geteerten Weg, dann stehen wir schon vor unserem Ziel:

"Siehst du, da ist das Grab, hier. Das ist das Grab meiner Eltern und meines Bruders. Der Bruder war der erste. Mit 20."

Vor einer efeubewachsenen Mauer prankt ein wuchtiger Grabstein. Fuchsien und Hortensien umgeben den Quader aus Granit, rote Rosen, Edellieschen und Begonien. Nirgendwo sonst auf dem Friedhof am Hang in Hürlimanns Geburtsstadt ist es so farbenfroh wie hier:

"Das Grab ist ja ein Abbild des Paradieses oder der Eingang ins Paradies. Und deshalb sollen da die Blumen blühen."

Ein Cousin kümmert sich liebevoll um das Grab. Denn Thomas Hürlimann wohnt in Berlin und seine Schwester in Basel. Der Schweizer Schriftsteller mag das Grab auch deshalb, weil es in unmittelbarer Nähe zum Friedhofsbrunnen liegt.

"Man kann das ganz nüchtern sagen: Eine Leiche produziert etwa 40 Liter Leichenwasser. Das sickert in die Erde. Und unmittelbar neben diesem vom Leichenwasser gedüngten Friedhof sprudelt dann wieder das Wasser, das Lebenswasser. Das zeigt so den Kreislauf des Werdens und Vergehens."

"Nie bin ich gerne auf Friedhöfe gegangen, nie", heißt es noch in Hürlimanns Erzählung "Die Haare der Schönheit" aus seinem literarischen Debüt "Die Tessinerin".

"Das hat sich sehr stark geändert. Ich habe dem Friedhof, dem Grab sehr viel zu verdanken."

1980 starb sein Bruder Matthias Hürlimann an Krebs. Die Eltern kauften dieses Familiengrab und den klobigen Gedenkstein. Der setzte allerdings Grünspan an. Das ärgerte die Mutter. Regelmäßig ging sie zum Grab des Sohnes, um den Stein mit einer Lauge zu waschen, und bat Thomas Hürlimann, ihr dabei zu helfen. Damals kam er mit einem literarischen Text nicht voran.

"Eines Tages, als meine Mutter schrubbend vor diesem Grabstein kniete und sich gleichzeitig eine Katze anschlich, hatte ich plötzlich – das heißt, nicht ich hatte den Einfall, sondern ich dachte dann immer, das wurde mir von diesem Friedhof oder von meinem toten Bruder zugetragen – die Lösung für das, was im Roman nicht aufging und schrieb dann in vier Monaten mein erfolgreichstes Buch. Das heißt 'Das Gartenhaus' und spielt zu Teilen auf einem Friedhof. Von da an bin ich eigentlich immer gern auf den Friedhof gegangen und habe auf den nächsten Einfall oder auf das nächste Geschenk der Toten gewartet."

Thomas Hürlimann auf dem Friedhof Zug (Bild: Tobias Wenzel/ Knesebeck Verlag)


Erst durch den Tod, durch das Sterben seines Bruders wurde Thomas Hürlimann zum Schriftsteller, da ist er sich sicher. Vier Jahre war sein Bruder todkrank.

"Mit ihm zusammen fing ich an, die Welt anzuschauen. Eine Welt, die für ihn in die Dämmerung hineinging. Eine Welt im Abschiedslicht. Die Welt ist eigentlich nie schöner, als wenn sie am Abend erglänzt."

Diesen melancholischen Blick, der eigentlich der Blick seines Bruders ist, hat sich Thomas Hürlimann zu eigen gemacht. Mit ihm sieht er seitdem die Welt, mit ihm schreibt er, versucht die eigene Familie in Literatur zu bannen: den Vater, der Schweizer Bundespräsident war, im Roman "Der große Kater", die Mutter im Buch "Vierzig Rosen" und den Bruder zuallererst in "Die Tessinerin".

"Geschichten sind wie Friedhöfe: Die bewahren etwas auf. Sie halten die Toten am Leben."

Der sterbende Bruder hat Thomas Hürlimann die Angst vorm Tod genommen. Die unsagbar starken, durch Knochenkrebs verursachten Schmerzen nahmen kurz vor Ende ab.

"Also in diesem Vorraum, im Übergang, an dieser Grenze wurden plötzlich die Lasten des Lebens geringer. Und ich habe mit ihm gespürt: Es könnte vielleicht sogar schön sein, diesen Gang über die Grenze zu machen. Sein Grabstein ist ja eigentlich auch ein Grenzstein. Es ist eine Reise, die man antritt, die man in eine andere Zeit, in einen anderen Raum macht. Und ich bin eigentlich immer gern gereist."

Nun könnten wir das sanfte Abendlicht sehen, das Thomas Hürlimann so mag, wenn nicht die Wolken wären, die sich im Laufe unseres Gesprächs verfinstert haben und neuen Regen ankündigen.

"Je älter ich werde, je näher ich auch dieser Grenze komme, umso schöner empfinde ich es, dass mein Bruder 20 geblieben ist, dass er jung geblieben ist, während ich ein alter Mann werde. Zwischen uns hat sich aber diese Distanz der Zeit gar nicht ergeben. Ich kann das nicht erklären. Aber immer wenn ich vor diesem Grab stehe, habe ich das Gefühl, wir sind noch zum Beispiel auf dem See, den man von hier aus sieht, auf dem Segelboot. Also die Zeit ist nicht vergangen. Sie hat etwas Ewiges. Sie ist bewahrt."

"Thomas Hürlimann, Friedhof Zug über der Stadt Zug in der Schweiz."


Oben am Hang stehen die Gräber dicht gedrängt, im unteren Teil des Zuger Friedhofs wirken sie dagegen groß und luftig:

Thomas Hürlimann: "Es ist halt wie alles in der Schweiz eine Frage des Preises. Ein Familiengrab dieser Größe kostet dann auch recht viel. Da geht es eigentlich um die Quadratmeterpreise genau wie beim Grundstücksbau. Zum Beispiel die Höhe der Grabsteine, die ist genauso reglementiert, da gibt's eine Bauordnung wie eben in der Gemeinde und in der Stadt auch. Die Welt der Toten ist ein Abbild der Welt der Lebenden."

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Tobias Wenzel ist um die Welt gereist, um Schriftsteller auf Friedhöfen zu treffen - SerieFriedhofsbesuche