Thomas Glavinic: "Der Jonas-Komplex"

Angst als Motor des Ichs

Der Schriftsteller Thomas Glavinic auf dem Blauen Sofa der Leipziger Buchmesse
Der Schriftsteller Thomas Glavinic auf dem Blauen Sofa der Leipziger Buchmesse © Deutschlandradio / Margarete Hucht
Von Maike Albath · 02.04.2016
Was macht eigentlich das Ich aus? In seinem neuen Roman "Der Jonas-Komplex" nimmt uns der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinici mit auf eine semi-autobiografische Reise. Drei Handlungsstränge auf 748 Seiten, die immer wieder provozieren.
Thomas Glavinic ist der Berserker unter den deutschsprachigen Schriftstellern der mittleren Generation: eruptive Satzkaskaden und manische Erzählschübe, abenteuerliche Plots, Schauplätze zwischen Tokio, Patagonien, Pennsylvania und der Antarktis, kraftstrotzende Macho-Helden, vor denen kaum etwas sicher ist, exaltierte Nebenfiguren, Kampfsport, jede Menge Sex, bewusstseinserweiternde Substanzen und Alkohol.

Wieder operiert Glavinic munter mit Klarnamen

Geschickt vermischt der Österreicher, Jahrgang 1972, Handlungselemente und Personal früherer Werke mit Versatzstücken seiner Biographie und fabriziert daraus einen neuen wuchtigen, 748seitigen Roman: Der Jonas-Komplex heißt er, und im Mittelpunkt steht die Frage, was das Ich eigentlich ausmacht, wie es zwischen Selbstentwurf, Zuschreibungen, Zwängen und Wünschen hin und her schlingert und sich dabei verdoppelt und verdreifacht.
Wir begegnen einem durchgeknallten Wiener Schriftsteller, der, ähnlich wie in Glavinic' Literaturbetriebssatire "Das bin doch ich" (2007), von seinem Alltag erzählt und mit einer Fülle von Klarnamen operiert. Daniel Kehlmann – dauernd mit internationalen Größen wie Zadie Smith, Salman Rushdie oder Coetzee zugange – kommt ebenso vor wie die Agentin Karin Graf. Mit genussvoller Schonungslosigkeit protokolliert der Ich-Erzähler Lesereisen, heftige Abstürze, friedliche Momente mit seinem Sohn, Geschlechtsverkehr in allen Varianten, einen dreimonatigen, halbwegs nüchternen Aufenthalt als writer in residence in Carlisle/USA und schließlich die Rückkehr nach Wien, die einen Rückfall in sämtliche Süchte mit sich bringt.
Der zweite Handlungsstrang dreht sich um den schwerreichen Erben Jonas, Glavinic-Lesern bestens vertraut, der fortwährend um die Welt reist und sich schließlich von seinem Rechtsanwalt Tanaka an unbekannten Orten aussetzen lässt, um mit geringen Hilfsmitteln in die Zivilisation zurückzufinden. Jonas‘ Freundin Marie, eine Hirnchirurgin, überredet ihn zu einer Expedition an den Südpol, die zu einer finalen Selbsterfahrung werden soll.

Der Jonas-Komplex bedeutet: Überall lauern Gefahren

Der dritte Handlungsstrang ist in der Weststeiermark Mitte der achtziger Jahre angesiedelt. Wieder tritt ein Ich-Erzähler in Aktion, dreizehn Jahre alt, der bei einer übergriffigen, haltlosen Pflegemutter aufwächst und erfolgreich Schach spielt. Hier gelingen Glavinic Szenen von großer Intensität: Missbrauch, Einsamkeit und subtile Gewalt sind auf bedrängende Weise geschildert. Genauso einprägsam ist auch das Porträt der Großmutter Suux, die einzige, die dem Kind Geborgenheit bot.
Dass alles von einer zentralen Trennungserfahrung, nämlich dem Tod von Suux, grundiert ist, passt zum Motiv des "Jonas-Komplex". Der Jonas-Komplex, so findet der Junge heraus, besteht darin, überall Gefahren zu wittern. Im Grunde liefert die Komposition des Romans genau dies: ein Eintauchen in den Gefühlsstrom der Angst, die zum Motor des Ichs wird und drei verschiedene Erscheinungsformen annimmt. Während die Vergangenheitsebene eine ganz eigene Stärke entfaltet, mündet die Antarktisreise in ausufernden Kitsch und die Wiener Existenz in müde Wiederholungen. Lesenswert ist der Kraftprotz Glavinic aber allemal.

Thomas Glavinic: "Der Jonas-Komplex"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016.
748 Seiten, 24, 99 Euro

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