Thilo Sarrazin: "Feindliche Übernahme"

Schleichendes Gift für das soziale Zusammenleben

Cover: Thilo Sarrazin: "Feindliche Übernahme", Verlag FBV, vor dem Hintergrund der Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh, Nordrhein-Westfalen
Thilo Sarrazin schaut mit einer "der Islam ist Grund allen Übels"-Brille auf die Welt. © FinanzBuch Verlag / picture alliance / imageBROKER
Von Anne Françoise Weber · 30.08.2018
In seinem neuen Buch warnt Thilo Sarrazin vor muslimischer Einwanderung. Eine "kulturelle Prägung" durch den Islam macht er für soziale Probleme verantwortlich. Doch milieuspezifische Schwierigkeiten lassen sich mit dieser Sicht nicht überwinden.
Thilo Sarrazin hat die Islamkritik, in seinem Bestseller "Deutschland schafft sich ab" von 2010 noch Nebenschauplatz, zum Hauptschlachtfeld gemacht. Schützenhilfe holt er sich bei Publizisten, die schon länger im Feld sind, wie Hamed Abdel-Samad oder Necla Kelek. Liberale muslimische Theologen wie Mouhanad Khorchide oder Abdel-Hakim Ourghi zitiert er vor allem, um sie als winzige Minderheit darzustellen.
Ansonsten vertraut er ganz auf seine eigene Lektüre des Korans – er will ihn "ohne innere Vorbehalte und ohne vorgefasste Meinung" gelesen haben. Sein Fazit: Im Koran stecke eine "radikale und gewalttätige Grundanlage des Islam". Wswegen er sich auch gar nicht die Mühe macht, all jene Koranverse zu zitieren, die zu Toleranz und Miteinander ermahnen.
Hier wie auch beim folgenden Überblick zur Geschichte der islamischen Länder geht Sarrazin stets manipulativ vor: Er präsentiert angeblich objektive Fakten, aus denen zwar jeder andere Schlussfolgerungen ziehen könne – seine eigenen seien aber die einzig wirklich naheliegenden. Doch dabei greift er sehr selektiv auf Arbeiten zurück, die zu seiner Sicht der Dinge passen, selbst wenn sie aus dem 19. Jahrhundert stammen. Ihnen entgegenstehende neuere Studien wie die von Thomas Bauer oder Navid Kermani ignoriert er gänzlich.

Kein Vergleich mit anderen armen Weltregionen

Den islamisch geprägten Ländern macht Sarrazin ihren mehrheitlich desolaten Zustand zum Vorwurf und führt Armut, Bevölkerungswachstum und Bildungsferne auf den Islam und nicht etwa andere historische, soziale oder ökonomische Faktoren - Rohstoffreichtum, Kolonialismus oder Brain Drain - zurück. Vergleiche mit den ärmsten mehrheitlich von Christen bewohnten Ländern Afrikas bleibt er ebenso schuldig wie den Blick nach Lateinamerika, wo doch ebenfalls Elend, Diktatur und Kriminalität zu finden sind. China, Vietnam und andere nichtmuslimische Länder Asiens dagegen präsentiert er als leuchtende Vorbilder.
Mithilfe zahlreicher Statistiken will er zeigen, dass die muslimischen Minderheiten in Europa die angeblich religionsspezifischen Probleme weitertragen. Durchschnittlich schwächere Schulleistungen mancher Bevölkerungsgruppen führt Sarrazin auf die kulturelle Prägung durch den Islam zurück. Er prognostiziert ihre Verschärfung durch Verwandtenheirat und behauptet, nur die Muslime selbst könnten etwas daran ändern. Folgen von Diskriminierung seien "nicht nachweisbar", behauptet er wenig nachvollziehbar. Und liefert zur Illustration der trockenen Statistiken Anekdotisches wie den Hinweis: Ihm sei in vielen Jahren Philharmonie-Besuch dort noch keine kopftuchtragende Frau begegnet. Als ob sich Integration zuvorderst am schichtspezifischen Kulturgenuss messen ließe.

Feindbild: Kinderreiche muslimische Familien

Die Zurückweisung von Multikulti-Verklärung und naiv übertriebener Toleranz mag berechtigt sein, diese als Grundhaltung des "Establishments in Politik und Medien" zu beschreiben sicherlich nicht. Und Sarrazin beschränkt sich eben nicht darauf, vor dem Einfluss konservativer Verbände, vor der Radikalisierung Jugendlicher oder Sympathien für islamistischen Terrorismus zu warnen. Für ihn ist der Übergang vom Mehrheitsislam zum Dschihadismus im Grunde fließend, womit jeder Muslim in Verdacht gerät, ein Terrorunterstützer zu sein.
Auch wenn er geschickt immer wieder betont, Ausnahmen seien möglich und Verallgemeinerungen schwierig, schaut Sarrazin mit einer "der Islam ist Grund allen Übels"-Brille auf die Welt. Debatten zu Sexismus und Rassismus, #MeToo und #MeTwo scheinen spurlos an ihm vorübergegangen zu sein, wenn er behauptet:
"Überall in der islamischen Welt gibt es das anzügliche, unverschämte Anstarren von nicht verhüllten Frauen. Mit dem normalen Interesse, das überall auf der Welt Männerblicke zeigen und über das sich die meisten Frauen als Bestätigung ihrer Attraktivität auch freuen, ist das nicht zu verwechseln."
Das Kopftuch ist für Sarrazin einzig Ausdruck von Unterdrückung, den weiblichen Körper macht er ebenso wie seine Gegner zum Streitobjekt:
"Wer allerdings auf die optische Abgrenzung der Frauen durch Kopftuch und Schleier nicht verzichten möchte, wer an Verwandtenheirat und am islamischen Familienrecht festhalten möchte, wer nicht zulässt, dass die Töchter am Schwimmunterricht teilnehmen oder unverheiratet Liebschaften haben, der ist in seinem Herkunftsland oder im Herkunftsland seiner Ahnen besser aufgehoben, und das sollte man auch unmissverständlich kommunizieren."
Kinderreiche muslimische Familien mit geringem Bildungsniveau sind das Feindbild von Thilo Sarrazin, und er fürchtet ihre Zunahme. Panikmachend behauptet er, weite Teile Deutschlands könnten bald so aussehen wie Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh. Vertrauen in die ganz andere Sozialstruktur und Integrationsfähigkeit deutscher Landstriche ohne Gettos hat er keinesfalls. Er will auch nicht sehen, dass die Mehrheit der zugewanderten Muslime nichts mit den von ihm häufig angeführten "kriminellen arabischen Großclans" zu tun hat. Folgerichtig bleibt für ihn nur die Lösung, muslimische Zuwanderung grundsätzlich zu stoppen.

Rabiate Vorschläge zur Zuwanderungspolitik

Verbunden mit einer hässlichen Kritik sämtlicher Argumente für die Aufnahme von Geflüchteten (die er gern "illegale Zuwanderer" nennt) und für das Vorgehen der Bundesregierung 2015 entwirft Sarrazin seine Vorstellung von Zuwanderungspolitik: Ein Schnellverfahren soll prüfen, ob Anspruch auf Asyl besteht. In dieser maximal 30-tägigen Zeit sollen die Ankömmlinge in geschlossenen Transitzonen verbleiben, danach notfalls mit militärischen Mitteln in ihre Herkunftsländer oder Transitländer außerhalb der EU zurückgebracht werden. Verantwortung für das dortige Elend lehnt der SPD-Politiker ab und sieht dagegen eine Pflicht zum Erhalt des hiesigen Wohlstands.
Perfide verknüpft Sarrazin in diesem Buch statistische Befunde mit einer islamfeindlichen deterministischen Auslegung. Es klingt zwangsläufig, dass Muslime sich angeblich nicht richtig integrieren, geschweige denn einen "positiven wirtschaftlichen Beitrag" leisten könnten – von sehr vereinzelten Ausnahmen abgesehen. Damit ist dieses Buch Gift für das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen ebenso wie für das tatkräftige Angehen sozialer Probleme.

Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht
Finanzbuchverlag, München 2018
495 Seiten, 24,99 Euro

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