Therapie per E-Mail

Von Susanne Billig |
Viele Menschen, die unter einer psychischen Störung leiden, scheuen aus Angst vor Stigmatisierung den Weg zum Therapeuten. Das Internet bietet eine Alternative: Per Online-Therapie lassen sich beispielsweise Traumatisierungen aufarbeiten.
Von Anfang an bringt das globale Datennetz Menschen mit seelischen Schwierigkeiten zueinander, man tauscht Ratschläge aus, organisiert die Selbsthilfe. In vielen Foren haben sich Experten und Ratsuchende zusammengetan. Doch die eigentliche Online-Therapie - die echte Heilbehandlung - fristet in Deutschland noch immer ein Schattendasein. Zu Unrecht, findet die Diplom-Psychologin Christine Knaevelsrud:

"Es ist in Deutschland gesetzlich klar formuliert, dass es nicht erlaubt ist, ich darf über das Internet keine Ferndiagnose stellen. Unsere holländischen Nachbarn sind natürlich ganz vorne dran, da ist es schon Teil der Regelversorgung, und es wird von den Kassen bezahlt. Ähnlich ist es auch in skandinavischen Ländern, wo die Online-Therapie potentiell auch eher eingebunden ist in das normale Versorgungssystem."

Nur weil ihre Arbeit als Forschung gilt, kann die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin Online-Therapien anbieten. In ihrem jüngsten Projekt behandelt sie alte Menschen, die im Zweiten Weltkrieg sexuelle Gewalt erleben mussten. Sie leiden häufig unter sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen mit Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Depressionen. Solche Störungen sind weit verbreitet - zum Beispiel auch bei Menschen, die ein Gewaltverbrechen erlebt haben, Zeuge eines schweren Autounfalls wurden oder einen geliebten Menschen verloren haben. Aus ganz Europa melden sich Hilfebedürftige.

"Wir dachten ursprünglich, dass sich das erstmal eher langsam aufbaut, wenngleich es natürlich eine sehr große Zahl von über 5,1 Millionen Über-Sechzigjähriger im Internet gibt, das heißt, die potenziellen Patienten nutzen das Netz. Wir haben eine viel höhere Anfrage als erwartet. Gleichzeitig erleben wir, dass auch gerade dieser Therapieansatz sehr gewünscht ist. Das heißt, das sind Patienten, die so lange darüber geschwiegen haben, die sich jetzt diesem Medium eher anvertrauen, als dem direkten Kontakt, um darüber zu berichten, was passiert ist."

Die Online-Therapie bei posttraumatischen Belastungsstörungen dauert nur wenige Wochen und findet ganz einfach per E-Mail statt. In der ersten Phase, der Selbstkonfrontation, schreiben die Teilnehmer einige mehrseitige Texte über ihre schmerzhaften Erinnerungen. In der zweiten Phase richten sie ihre elektronischen Briefe an ein anderes, fiktives Opfer. So können sie ihr Leiden in Stärke verwandeln und sich als Ratgeber erleben. Funktioniert das Konzept? Die große Mehrzahl der Therapeuten in Deutschland reagiert bislang mit Skepsis, auch Eva Schweitzer-Köhn vom Berufsverband deutscher Psychologen.

"Ein entscheidender Wirkfaktor von Psychotherapie ist für uns - das ist auch einhellige Meinung im Verband, oder jedenfalls überwiegende Meinung, dass ein wichtiges Agens die therapeutische Beziehung ist. Und dazu müssen die beiden Menschen in einem Raum zusammen sein und man muss sich die Hand geben können, also das ist wirklich die Minimalvoraussetzung - da reicht das Schreiben nicht."

Auch Christine Knaevelsrud unterstreicht, wie wichtig die gute Beziehung zwischen Therapeut und Patient für das Gelingen einer Therapie ist. In ihrer Forschung, ausgezeichnet mit dem Preis der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie, fand die junge Wissenschaftlerin heraus, dass Patienten ihren Online-Therapeuten stark idealisieren - kein Wunder, sehen sie ihn doch niemals live.

"Auf Fragen wie 'Vertrauen Sie Ihrer Therapeutin?' oder 'Fühlen sie sich von Ihrer Therapeutin geschätzt?' wurde schon zu Beginn der Therapie so positiv geantwortet, dass es keine Steigerung mehr gab. Und zusätzlich haben wir ganz konkret gefragt: 'Wie haben Sie denn die therapeutische Beziehung über das Internet erfahren?' Und ungefähr 93 Prozent haben gesagt, sie finden sie persönlich."

Genau diese Idealisierung hilft den Patienten, sich zu öffnen. Auch Therapeuten fühlen sich Online-Patienten mit ähnlichen Gefühlen verbunden wie in sonstigen Therapien. Dennoch bleiben Fragen:

"Es könnte ein Einsteig sein, sich überhaupt mal zu öffnen, überhaupt mal was zu sagen. Wenn es dabei bleibt, dass jemand in dieser Scham steckenbleibt, 'ich kann mich damit nicht zeigen', dann ist ein sehr wesentlicher Schritt nicht getan. Wenn man das jetzt nur in dieser Anonymität lässt, dann gibt es vielleicht eine Entlastung, aber nicht wirklich eine Verarbeitung."

Ein gewichtiger Einwand. Die Traumatherapeutin Christine Knaevelsrud verweist auf die reale Lage ihrer Patienten.

"Die Präsenz von Scham und Schuld ist tatsächlich bei den Patienten, wie wir sehen, ganz besonders ausgeprägt. Das bedeutet, dass ganz viele Patienten gar nicht erst zum Therapeuten gehen. Das heißt, die Eingangshürde ist so hoch, dass sie die gar nicht erst in Anspruch nehmen."

Im letzten Schritt der Internet-Therapie schreiben die Patienten einen Brief an jemanden, den sie kennen - abschicken müssen sie ihn nicht. Dann erleben die Traumatherapeuten häufig eines:

"Dass sehr viele ältere Patienten die ganzen Aufschriebe der Therapie ihren Kindern zeigen und ihren Enkelkindern zeigen. Das heißt, das, was sie vorher nicht aussprechen konnten, können sie plötzlich, ohne das direkt auszusprechen, dem andern hinlegen und sagen: Hier kannst du ganz viel über mich erfahren."

Online-Therapie wirkt. Wie dauerhaft, bei welchen Symptomen und Patienten - das ist Gegenstand eines noch jungen Forschungszweiges. In einem Punkt sind sich Skeptiker und Befürworter einig: Es wäre fatal, wenn Krankenkassen Online-Therapien eines Tages nur deshalb unterstützten, weil man damit Geld sparen kann.