Theorien über eine andere Gedankenwelt

18.01.2010
Der Hirnforscher Marco Iacoboni widerspricht in seinem Buch "Woher wir wissen, was andere denken und fühlen" der These, dass unser Einfühlungsvermögen auf der Fähigkeit beruht, Theorien über das aufzustellen, was sich im Kopf eines anderen Menschen abspielt.
Wir empfinden Schmerz, wenn jemand sich in den Finger schneidet. Unsere Muskeln zucken unmerklich, wenn ein anderer den Arm bewegt. Und schon Neugeborene können grundlegende Emotionen im Gesicht ihres Gegenübers entziffern.

In seinem neuen Buch "Woher wir wissen, was andere denken und fühlen" widerspricht Hirnforscher Marco Iacoboni der These, unser Einfühlungsvermögen beruhe auf der Fähigkeit, Theorien über das aufzustellen, was sich im Kopf eines anderen Menschen abspiele. Der Weg über eine Mentalisierung wäre zu kompliziert, um unsere schnellen Reaktionen zu erklären. Unmittelbar wissen wir, ob unser Gegenüber selig ist, gelangweilt oder verzweifelt.

Was uns diesen Eindruck aufdrängt, können wir meist nur mit Mühe formulieren. Wir spüren es eben - und das, so sagt der Autor, ermöglicht das Resonanz-System der Spiegelneuronen im Gehirn. Diese Zellen werden aktiv, sobald wir ein Verhalten wahrnehmen, und wir fühlen uns, als führten wir selbst die Handlung aus. Einfühlung, so Marco Iacoboni, ist zuerst eine körperliche, keine mentale Angelegenheit.

In elf Kapiteln führt der Autor durch das spannende Forschungsgebiet der Spiegelneuronen von ihrer Entdeckung bis zu neuesten Studien. Dabei erörtert er auch Seitenaspekte, etwa das in der östlichen Spiritualität beliebte Thema der Einheit oder Spaltung zwischen Selbst und Anderem oder die Frage, wie viel Gewalt in den Medien einem auf Imitation hin angelegten Lebewesen guttun kann.

Anschaulich verwebt er wissenschaftliche Erkenntnisse, Überraschungen im Laboralltag und Anekdoten aus der italienischen Großfamilie. Zudem erweist er sich als leidenschaftlicher Visionär und mutmaßt drauflos, dass es eine Freude ist. Zart besaitete Gemüter müssen allerdings damit klarkommen, dass für die Studien zahllose Affen mit Elektroden im Gehirn in Laboren ihr Dasein fristen; der Autor diskutiert es nicht.

Marco Iacobonis Interpretationen kranken, wie die vieler Hirnforscher, an einer Verwechselung der Kategorien. Hirnzellen sind kein Mitgefühl, Aktionspotenziale keine Gedanken, Transmitterströme keine Moral.

Der Autor schwärmt von der "fantastischen Auflösung", welche die moderne Neurologie erreiche, indem sie die elektrische Aktivität einzelner Zellen messe. Für Hirnforscher gewiss eine neue Ära - doch dass die Stromerzeugung einer Zelle erschöpfend erklären könne, was es mit einem Wort, einem Gedanken, einer Ich-Du-Beziehung oder einer Musik auf sich hat, können sich allen Ernstes nur Neurologen in der Kunstwelt ihrer Labore einreden.

Und so atmet auch dieses Buch die Hybris der modernen Biologie. Jahrhunderte der Psychologie, der Soziologie, Jahrtausende gar der Philosophie - alles nur tumbes Umherirren, bevor der Stromableiter die Wahrheit ans Licht bringt. Am Ende setzt der Autor noch einmal zum großen Wurf an und ersehnt eine Gesellschaft, die endlich begreifen möge, was die Neurobiologie über die Natur des Menschen herausgefunden hat: dass wir auf Empathie hin angelegte Lebewesen sind, ineinander zutiefst verschlungen. Das allerdings bleibt - ob es nun wegen unseres Gehirns oder mit ihm so ist - als Botschaft sympathisch.

Besprochen von Susanne Billig

Marco Iacoboni: Woher wir wissen, was andere denken und fühlen - Die neue Wissenschaft der Spiegelneuronen
Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg
Deutsche Verlags-Anstalt
320 Seiten, 21,95 Euro