Theorie

Pop - mehr als nur Musik

Von Hartwig Vens · 17.03.2014
Dass man Pop-Musik theoretisch reflektieren muss, diese Vorstellung hat der Poptheoretiker Diederichsen geradezu im Alleingang ins öffentliche Bewusstsein gepflanzt. Mit seinem Buch "Über Pop-Musik" begründet er nun ein für allemal, warum das so ist. Und das hat uns gerade noch gefehlt.
"Über Pop-Musik" - ein Buch so zu nennen, das riecht nach großem Wurf, nach Standardwerk. Und der Eindruck täuscht nicht. Diederich Diederichsen, berühmt (für manche auch berüchtigt) als Pop-Theoretiker Nr. 1 dieses Landes hat nicht, wie bei seinen früheren Büchern, eine Sammlung von Essays, Analysen und Artikeln aus den vergangenen Jahren zusammengestellt. Mit "Über Pop-Musik" legt er eine Fundamentalbetrachtung seines Gegenstandes und Lebensthemas vor. Hat das gefehlt? Ein Grundsatzwerk über dieses doch schon so viel beschriebene und diskutierte Phänomen Popmusik im Jahr 2014? Ja, es hat.
Dass man Popmusik theoretisch reflektieren muss und dass es dabei um mehr geht als bloß Musik – diese Vorstellungen hat Diederichsen geradezu im Alleingang ins öffentliche Bewusstsein gepflanzt. Von Beginn an, Anfang der 80er-Jahre bei den Musikzeitschriften "Sounds" und "Spex", bis heute, als Kunst-Professor in Wien, ist sein Theoretisieren immer ein emphatisches Theoretisieren gewesen. In diesem Ding namens Popmusik steckt viel mehr als nur Ästhetik und Emotion. Und mit "Über Pop-Musik" begründet er ein für allemal, warum das so ist.
Das Paradox der Pop-Musik
450 Seiten Nachdenken, Beschreiben und Analysieren von Pop-Musik als Zeichensystem, Subjekt-Inkubator, Rezeptionsphänomen, Performance-Kunst bekommt man hier. Außerdem Betrachtungen zum historischen Werden von Popmusik als Erbin des Jazz zu einer "unreinen Kunst", wie es Diederichsen nennt; einer Kunst, in der sich Prinzipien von Theater, bildender Kunst und Literatur mischen. Und vor allem gibt es Aufklärung über das zentrale Paradox: Pop-Musik sei etwas ganz anderes als Musik, hätte aber kaum als etwas anderes in die Welt kommen können als eben als Musik.
Popmusik verhalte sich zu Musik wie Fotografie zur Malerei oder Film zum Theater. Auch dies ist ein zentrales Anliegen dieses Buches: die Alleinstellung von Popmusik als Disziplin der Kulturkritik und Kulturwissenschaft zu untermauern, die eben nicht zur Musik gehört.
Wie Diederichsen das schreibt, ist gesättigt mit Anleihen aus Semiotik, Linguistik, Psychologie und Philosophie. Seine Quellen sind dabei kanonisch bis obskur - ganz wie eine Plattensammlung.
Die Pop-Musik befindet sich in einer "postheroischen" Phase
Adornos Texte zu Jazz, Pop und Kulturindustrie sind ihm reiches Reservoire guter Gedanken, auch wenn Adorno Popmusik bekanntermaßen ablehnte. Aber auch Sergej Eisensteins Betrachtungen über die Montage paraphrasiert er ausführlich. Diederichsen nimmt sich die Referenzen, wo immer sie ihm für sein Popmusik-Verständnis wichtig sind. Ansonsten gibt es wenig Fußnoten.
Insofern ist der Text weitgehend spekulativ und verlässt sich ganz auf die Kraft der Erfahrungen und Gedanken Diederichsens. Das kann man als Defizit empfinden, es wird hier über Popmusik viel behauptet und wenig belegt. Aber das mit einer argumentativen Weite und Tiefe, die – auch international – ihresgleichen sucht.
Bedauerlich ist allenfalls, dass dieses Buch nicht schon vor, sagen wir, 20 Jahren erschienen ist, sondern jetzt, zu einem Zeitpunkt, in dem sich Popmusik schon seit geraumer Zeit in ihrer, wie Diederichsen es nennt, "postheroischen Phase" befindet und viel von ihrer Innovationskraft und gesellschaftliche Brisanz eingebüßt hat. Es hätte viele Diskussionen über die Relevanz von Popmusik abkürzen können.

Diedrich Diederichsen: "Über Pop-Musik"
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014
474 Seiten, 39,99 Euro

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